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Fünfunddreißigstes Kapitel.
Wir verlieren zwei Leute.

»Es ist wohl Zeit, schlafen zu gehen,« sagte ich, weil ich bemerkte, daß sie ein Gähnen unterdrückte.

Horch!

Durch den Lärm von Wind und Wasser dringt das harte Stampfen eiliger Tritte das Deck entlang; sie kamen näher, und ich springe nach der Kajütentreppe, um den Weg zu versperren; meine Hand ist in der Brusttasche an meinem Revolver.

»Deacon het Jim erstochen,« schrie eine Stimme. »Hei blaud as en Swien. Kümm'n Sei schnell helpen, eh' hei ganz dod is.«

»In Ihre Kajüte!« rief ich eilig Miß Franklin zu. »Verriegeln Sie sich.«

Als ich sie hatte eintreten sehen und die Thür abschließen hören, setzte ich meinen Südwester auf und stürzte auf Deck. Dort traf ich drei Leute, die gleichzeitig auf mich einschrieen; alles aber, was ich verstehen konnte, waren ihre Flüche.

Die Nacht war klar, aber dunkel. Niedrige Wolken jagten über die frostig leuchtenden Sterne. Der kalte Wind schnitt so scharf wie ein Messer, und rechts und links wälzten sich die wildbewegten schwarzen Wasser des Kap Horn.

»Still!« rief ich, »nur einer von euch spricht! Was giebt es?«

Der Mann, welcher antwortete, war Suds.

»Jimmy was falsch, wiel Deacon dat Rat verlaten het. Ein Wurt gaw nu dat anner, un Jimmy dreiht sik üm un slägt na Deacon. Da treckt de sien Metz und stöt dat Jim in sien Hart, dat hei sik nau woll verblauden ward.«

Ich rannte nach vorn, die Leute hinter mir her, so rasch das glatte, schaukelnde Deck es erlauben wollte. Als ich die Luke erreicht hatte, steckte ich meinen Kopf in die stinkende Luft und schrie:

»Soll ich herunterkommen?«

»Je ja, je ja, kümm'n Sei, kümm'n Sei!« tönte die Antwort.

Meine Hände auf den Rahmen der Luke stützend, sprang ich hinab.

Alle Leute waren wach. Einzelne Beine hingen über die Seiten der Pritschen. In vollem Teeranzug lehnten einige seekrank gegen das nächste Beste, was ihnen als Stütze dienen konnte.

Auf dem Boden, den Kopf auf einem von Wasser durchweichten Kopfkissen, mit einer schwarzen Wunde in der nackten Brust, das Hemd so rot von Blut wie eine Flagge, lag der Verletzte. Gegen eine Seekiste geworfen und sein weißes Gebiß zeigend, die Augen wild rollend, ächzend und mit den Zähnen knirschend, wand sich der geknebelte Deacon. Seine Beine waren so zusammengeschnürt, daß die nackten Füße von der Blutstockung geschwollen und bläulich-schwarz aussahen.

Was konnte ich thun? Der Verwundete war tot. Ich brauchte nur seine glanzlosen Augen und die herabhängende Kinnlade anzusehen, um das zu erkennen. Seine Hände waren zusammengeballt und sein Gesicht trug einen von Entsetzen, Angst und Schmerz verzerrten Ausdruck.

Es ist schwierig, sich von diesem Vorderkastell ein Bild zu machen.

Die Gesichter der Männer waren im Schein der schaukelnden Lampe so dunkel wie die von Spaniern. Mit Grauen blickten sie stieren Auges bald auf die Leiche, bald auf den Mörder, den Verrückten, welcher mit den Zähnen nach ihnen schnappte.

Ich sagte den Leuten, daß nichts mehr zu thun, Jimmy aller menschlichen Hilfe entrückt und tot sei.

»Da seht, die Wunde ist genau über seinem Herzen.«

Um ihnen zu helfen, zog ich das Betttuch aus seiner Pritsche. Ein paar Leute wickelten die Leiche in dasselbe ein und trugen sie auf Deck, woselbst sie auf meinen Befehl liegen sollte bis zum Morgen.

Darauf rief ich die Mannschaft zusammen und erklärte ihr, daß Deacon tobsüchtig wäre, daß er seinen Maat im Wahnsinn ermordet hätte und daher für sein Thun nicht verantwortlich gemacht werden könne. Was sollten wir aber nun mit ihm anfangen?

Einige schlugen vor, eine Leine um seinen Hals zu legen, ihn auf Deck zu hissen und dann über Bord zu werfen.

»Habt ihr an einem Mord nicht genug?« schrie ich sie an. »Ich werde nichts derart dulden. Ihr scheint Menschenblut mit demselben Gleichmut vergießen zu können wie Wasser. Ihr rieft mich hierher, um euch zu helfen und zu raten, und das will ich auch thun, aber nur so weit, als ich es mit dem Gesetz und meinem Gewissen verantworten kann.«

Sie bestürmten mich mit wütenden Gebärden und schrieen mich an: »Am Lande gelte Blut um Blut und auf der See sollte es nicht anders sein. Mit einem Verrückten wollten sie nicht zusammen leben. Ich wüßte die Lage der Insel und sollte die Brigg dahin führen; der Wahnsinnige könne dabei nichts mehr nützen, er sei nur eine Last, die man je eher je lieber über Bord würfe, sie wären sonst alle ihres Lebens nicht mehr sicher.«

Ein paar von den Leuten jedoch nahmen meine Partei und beredeten die andern, mir zu folgen. Diese forderte ich nunmehr auf, mir zu helfen. Ich nahm einen Strick, warf mich auf Deacon und umwand seine Arme, während ihm der Kopf niedergehalten wurde, um ihn am Beißen zu hindern. Darauf banden wir ein Stück Leinwand um seinen Mund, um sein Geheul zu dämpfen und uns vor seinen Zähnen zu schützen; denn trotz seines Irrsinns glaubte er, wir wollten ihn ertränken. Mit unendlicher Mühe schafften wir ihn alsdann auf Deck und trugen ihn in das Deckhaus. Hier fanden wir den Schiffsjungen Hardy, welchem ich befahl, seine Sachen zusammenzupacken und sich im Vorderkastell einzuquartieren. Darauf lockerten wir die Stricke um Deacons geschwollene Füße soweit, als nötig war, dem Blut wieder freie Zirkulation zu geben, und nachdem wir auch die Leinwand wieder von seinem Munde genommen hatten, ließen wir ihn, wie wir glaubten, sicher gefesselt liegen und verschlossen die Thür.

Nach dieser Aufregung ging ich noch einmal zu Miß Franklin, um sie zu beruhigen, und dann zu Bett. Ich schlief bis zwölf Uhr. Um diese Zeit wurde ich vom alten Banyard geweckt und begab mich auf das finstere, eisigkalte Deck, wo mir bald vor Frost die Zähne klapperten. Der Wind war noch sehr stark, wenn auch weniger heftig als zur Zeit, wo ich es zuletzt verlassen hatte. Entschlossen, der Brigg alle Schwingen zu geben, die sie bei dem Wetter zu tragen vermochte, um sie so schnell wie möglich aus dieser Meereshölle von Wind, Schnee, Eis und schwerem Seegang herauszubringen, setzte ich so viele Segel mit eingebundenen Reffs, als ich wagen konnte. Unter diesem Drucke flog sie, ächzend und stöhnend, wie gepeitscht durch die schwarzen Fluten, während die blitzenden Sterne ruhig durch das Takelwerk blinkten.

Während der ganzen vier Stunden meiner Wache waren meine Augen unablässig beschäftigt, nach Eis umzuspähen, und meine Gedanken, um zu überlegen, was in aller Welt ich mit dem Verrückten im Deckhaus anfangen sollte.

Um sieben Glasen, halb acht Uhr, war ich wieder oben und fand, daß der Sturm sich gelegt hatte, die See aber noch immer hoch ging und beide Bramsegel über die gerefften Topsegel gesetzt waren. Die Speigaten der Leeseite schäumten von dem Wasser, welches über das Vorderdeck stürzte. Nach windwärts, ungefähr drei Meilen von uns entfernt, schleppte sich ein schwarzes Barkschiff, beigedreht, unter einem kleinen Sturm-Schnau-Segel. Seine Vor-Ober-Bramstange und sein Klüver-Baum waren verloren. Es stampfte und schlingerte zum Erbarmen und hatte die holländische Flagge gehißt. Es war kaum der Mühe wert, zu seiner Begrüßung auch unsere Flagge zu hissen; denn wir flogen an ihm vorüber wie Rauch. In Not befand es sich nicht; aber wäre dies auch der Fall gewesen, wir würden ihm keine Hilfe haben bringen können.

Es schien mir an der Zeit, nunmehr einmal nach Deacon zu sehen. Ich hoffte, er würde vor Ermattung wieder ruhig, ja vielleicht sogar wieder vernünftig geworden sein, und nahm mir vor, je nach dem Befunde, mit dem bessergesinnten Teil der Leute zu beratschlagen, was wir weiter mit ihm thun wollten.

Leider gab es kein Fenster, durch welches man in das Deckhaus hätte hineinblicken können. Ich rief deshalb einige Leute herbei, um sie für alle Fälle zur Hand zu haben. Ehe ich den Schlüssel ins Schloß steckte, legte ich mein Ohr an die Thür, aber ich hörte keinen Ton; darauf öffnete ich und riß die Thür auf, während ich zu gleicher Zeit zur Seite trat; denn ich hielt es nicht für unmöglich, daß er sich in der Nacht freigemacht haben könnte und gleich herausstürzen würde; in welchem Zustande, das ließ sich wohl denken. Eines Wahnsinnigen Biß ist aber eine schreckliche Verwundung, und Deacon hatte uns in der letzten Nacht, wo er wie ein wildes Tier um sich schnappte, gezeigt, welche Waffe er in seinen Zähnen besaß.

Welchy, sorgloser als ich, trat in die Thür und schrie auf. Wir stürzten hinein und fanden den Wahnsinnigen tot vom Dache herunterhängen. Der Strick, mit welchem seine Beine gebunden gewesen waren, lag um seinen Hals und war an dem Haken einer Hängematte befestigt. Seine Füße hingen eine Handbreit über dem Boden, sein Kopf lag auf seiner Schulter und sein Gesicht – puh! – es steht mir heute noch vor Augen, von dem will ich lieber schweigen.

»Schneide ihn ab, Welchy!« rief ich, und als das Seemannsmesser den Strick durchschnitt, glitt die Leiche in meine Arme und ich ließ sie rasch auf den Boden fallen.

So waren zwei Leute von der Besatzung der Brigg, in weniger als zwölf Stunden, aus dem Leben gegangen.

Atemlos wurde die Neuigkeit in die Luke getragen, und alle stürzten herbei, um ihre Neugier zu befriedigen.

»Seiht,« schrie Suds, »hei het sien Händ blaudig reten, üm sei ut de Fesseln rute tau kregen.«

»Hei verstunn de Sak antaufangen,« rief der Schöne. »Hier, von dese Kist' is hei runner sprungen, hei was nich wahnsinnig naug, üm nich tau weiten, wat hei ded.«

»Deckt sien gruglich Gesicht tau. Dit kann jo kein Minsch nich uthollen, dat antauseihn,« knurrte der alte Sam und ging weg.

Die Nacht hindurch hatte die andere Leiche auf dem Vorderdeck gelegen. Jetzt nahmen ein paar Leute Fingerhüte, Nadeln und Zwirn aus des Segelmachers Kiste und machten sich an die Arbeit, die Leichen einzunähen. Darauf versammelte ich alle Mann, ließ die Toten auf Bretter legen und mit diesen auf die Schanzkleidung heben. Nachdem dies geschehen, las ich aus meinem Gebetbuch ein für den Fall passendes Gebet, dann gab ich das Zeichen zum Kippen der Bretter, worauf die Leichen in ihr nasses Grab versanken.

Es wurde alles in Eile abgemacht. Die Stimmung für eine besondere Feierlichkeit war nicht vorhanden, und mir lag daran, die Toten schnell von Bord zu haben, um wenigstens die eine Aufregung los zu sein und meine ganze Spannkraft wieder den Gefahren zuwenden zu können, in denen ich mich den Elementen und den Menschen gegenüber befand. Und schließlich, das Schicksal selbst des Besten, der auf See stirbt – was ist es? Ein kurzer Stoß über Bord. Hier waren nun zwei Meuterer in die Ewigkeit gegangen, deren Gewissen mit einer Blutschuld belastet war; welchen Anspruch hatten diese an mein Mitgefühl?

In der That, so erschreckt ich auch durch die Art von Deacons Tod war und so sehr mich auch dieser Mann durch das ihm eigene Gemisch von Bildung, Schlechtigkeit und Wahnsinn interessiert hatte, so hielt ich seinen Tod doch für ein glückliches Ereignis. Wäre er am Leben geblieben, so würde meine Menschlichkeit erfordert haben, ihn vor der Mannschaft in Schutz zu nehmen. Ich würde aber nicht gewußt haben, wie ich ihn hätte ernähren, wo einsperren und wie überwachen sollen, um ihn unschädlich zu machen.

In der That, es war mir ein Stein vom Herzen, der Sorge um ihn überhoben zu sein.

Ob nun sein Tod wohl die Pläne der Leute ändern würde? Dieser Gedanke war der nächste, den ich faßte; indessen er beschäftigte mich nicht lange; denn es war acht Glasen, dazu auch bitter kalt. Ich sah nicht ein, weshalb ich mit dem Gebetbuch in der Hand, bis über die Knöchel im Wasser, länger als nötig auf Deck bleiben sollte, und ging deshalb eiligst nach unten.


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