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Achtundzwanzigstes Kapitel.
Wir bestimmen unsern Kurs.

Ich bat Deacon, einstweilen in die Kapitänskajüte zu treten und sich die dort ausliegenden Karten anzusehen, da ich einen Augenblick mit Miß Franklin sprechen wolle.

Mit schwerem Herzen klopfte ich an die Thür meiner Koje und bat das Fräulein, zu öffnen. Der Riegel wurde zurückgeschoben; ich trat ein. Blaß, die schönen Augen weit geöffnet, beide Hände an ihren Kopf gepreßt, einen unaussprechlich qualvollen, fragenden Blick auf mich gerichtet, stand das Mädchen, ohne ein Wort hervorbringen zu können, vor mir.

»Sie haben keine Ursache, zu erschrecken,« sagte ich, »ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß Sie jetzt sicherer sind, als da Ihr Bruder und der Maat noch das Schiff befehligten.«

»Was ist mit meinem Bruder geschehen?« fragte sie in fast unhörbarem, furchtsamem Flüsterton.

»Er ist mit Mr. Sloe zusammen in ein Boot gesetzt worden; sie müssen versuchen, das nicht übermäßig weit entfernte Kap der guten Hoffnung zu erreichen,« antwortete ich, ihr das erste beste Stückchen Trost spendend, was mir unter den traurigen Umständen einfallen wollte.

»So haben sie ihn nicht getötet?« rief sie.

»Nein; er ist ebenso am Leben, wie ich es bin. Und glauben Sie mir, er hat mehr Aussicht, in dem Boot sein Leben zu erhalten, als dies hier an Bord der Fall war unter Leuten, welche unter seiner und des Maats schlechter Behandlung zu jedem Verbrechen fähig geworden waren.«

»O, Gott sei Dank,« sagte sie und atmete wie erleichtert aus tiefer Brust, »ich dachte, sie hätten ihn umgebracht. Ich hörte die Leute in seine Kajüte gehen, stürzte hinaus und sah, wie einer ihn niederschlug. Ach ja, er war selbst schuld daran. Wie oft habe ich ihn gewarnt, ihm vorgestellt, daß sich die Mannschaft empören würde, wenn er sie nicht besser behandelte. Und nun ist das Unglück geschehen!« rief sie jammernd, ihr Gesicht mit den Händen bedeckend. »O Gott, o Gott!«

»Hoffen wir das Beste. Ich kann jetzt nicht länger bei Ihnen bleiben,« sagte ich, da ich es für unpolitisch hielt, die Geduld Deacons und der Leute zu sehr auf die Probe zu stellen; »aber ich bitte Sie, mir Ihr Vertrauen zu schenken. Bewahren Sie bei diesem schrecklichen Ereignis allen Mut, den Sie besitzen. Lassen Sie sich nicht so niederdrücken, verlieren Sie Ihre Fassung nicht und betrachten Sie mich als Ihren Freund. Noch einmal bitte ich Sie, vertrauen Sie mir.«

»Ja, ja,« antwortete sie, meine Hand ergreifend, »ich will mich ganz auf Sie verlassen, ich weiß, Sie werden mich beschützen, soweit Sie es können; aber, Mr. Chadburn, ist nicht der Gedanke für mich zum wahnsinnig werden, mit diesen Menschen allein gelassen zu sein, wenn sie auch Sie überwältigen sollten?«

»Dies letztere wird nicht geschehen, denn sie brauchen mich; fürchten Sie also nichts; nur mit mir allein wird Ihr Verkehr sein, und mich werden Sie doch nicht fürchten?«

»Nein, nein, gewiß nicht!« rief sie, in Thränen ausbrechend, »Sie sind ja jetzt der einzige Halt, den ich hier habe.«

Ich reichte ihr die Hand. »Haben Sie Dank für Ihre Worte,« sagte ich und kehrte zu Deacon zurück.

Ich fand ihn über den Büchern des Kapitäns; er hielt gerade eins dicht vor seine Nase und schielte in sehr drolliger Weise mit der ernstesten Amtsmiene hinein.

»Hier bin ich und stehe zu deinen Diensten,« unterbrach ich sein anscheinendes Vertieftsein.

»Ach ja, da bist du ja,« entgegnete er, plötzlich aufblickend, und nickte mir gnädig zu, dann kniff er ein Eselsohr in das Blatt, steckte das Buch in seine Tasche und fuhr grinsend fort:

»Das wird mir gelegentlich eine angenehme Lektüre sein; ich habe wohl nicht nötig, erst jemandes Erlaubnis einzuholen, ob ich sie mitnehmen darf, was?«

Ich nahm die Karte des südlichen Teils vom Stillen Ozean, und während ich dieselbe auf den Tisch breitete, erwiderte ich kalt: »Das wäre überflüssig; wir genießen ja jetzt die Privilegien der Einbrecher und Diebe.«

Er lachte sonderbar kurz auf und bemerkte:

»Du hättest wohl kaum gedacht, daß ich alle Maats, dich selbst eingeschlossen, auf meine Seite bringen würde? Du stemmtest dich erst ziemlich hartnäckig gegen die Sache, und da mußte ich mir, um mit den Worten eines berühmten Feldherrn zu sprechen, Sympathien bei dem Pöbel suchen, fern von dem Unglauben der Gebildeten.«

So wenig ich zum Lachen aufgelegt war, konnte ich doch bei seiner pathetischen Rede kaum ernst bleiben, denn der Kerl stand sieghaft da wie ein Triumphator und nahm eine so albern aufgeblasene Miene an, daß man sah, er hielt sich ganz im Ernst für den Helden des Tages.

Wie lächerlich mir seine Erscheinung auch vorkam, so war mir doch, als sähe ich ihn in einem ganz neuen Lichte, nun er auf einmal, in des Kapitäns Kajüte, als Anführer der Meuterer zu mir sprach. Sicherlich war er eine merkwürdige Persönlichkeit. Einem Menschen, der einen so hervorragend intelligenten Ausdruck im oberen Teil des Gesichts und einen so tierisch rohen um Mund und Kinnladen hatte, war ich noch nie im Leben begegnet.

Er wandte sich nunmehr der Karte zu, betrachtete sie einige Augenblicke und fragte dann, wo wir wären. Ich zog das Loggbuch heraus und gab ihm die gestrigen Beobachtungen.

»So müssen wir jetzt den Kurs Süd-West nehmen,« sagte er.

»Es frägt sich, wohin du willst.«

»Na, das weißt du doch, du hast ja den Ort in deinem Kopf. Erst vor wenigen Abenden noch hat mich dein gutes Gedächtnis erschreckt.«

»Also nach deiner Insel in der Nähe von Teapy, und zwar um das Kap Horn, wie ich aus der von dir schon vorhin bezeichnten Kursveränderung der Brigg schließe.«

»Gewiß,« antwortete er, mit den Augen aus der Karte; »es ist der kürzeste Weg.«

»Weißt du, wie groß der Vorrat an Trinkwasser noch ist?«

»Der wird noch groß genug sein,« warf er kühl hin.

»Und wenn das nicht der Fall wäre?«

»Mit solchen Rücksichten kann ich mich nicht aufhalten; ich habe an wichtigere Dinge zu denken,« fuhr er unwirsch heraus, sich mit der Hand die Stirn streichend.

»Und bitte, was beabsichtigst du mit der Brigg zu beginnen, deren du dich bemächtigt hast?«

»Das geht dich nichts an,« antwortete er mit seinem albernen, geheimnisvollen Lächeln. »Du sagst, du hast mit der Sache nichts zu thun gehabt, da ist es also auch ganz gleichgültig für dich, was wir für Pläne haben, so lange wir an unserem Uebereinkommen mit dir festhalten.«

Ich war im Begriff, ihm zu sagen, daß seine Antwort mir nicht genüge; aber bei näherem Nachdenken fiel mir ein, daß ich alles, was ich zu wissen wünschte, schon noch erfahren würde, wenn ich noch ein wenig wartete. Deshalb wechselte ich das Thema, indem ich fragte, wozu er mich eigentlich aufgefordert hätte, in die Kajüte zu kommen.

»Wozu anders, als um den Kurs der Brigg zu bestimmen?« erwiderte er, rollte die Karte zusammen und ging ohne ein weiteres Wort auf Deck. Ich folgte ihm dahin.

Die Leute standen müßig in Gruppen umher. Sie hatten, wie mir vorkam, ein unsicheres Wesen und schienen nicht recht zu wissen, was sie mit sich anfangen sollten. Das Bewußtsein ihrer ganz veränderten Stellung hatte wohl zunächst ein gewisses Gefühl der Befangenheit bei ihnen hervorgerufen, daß aber dieses Gefühl bald einem anderen Platz machen würde, war mit Sicherheit vorauszusehen.

Inzwischen war die Brise frischer geworden und blies jetzt scharf von der Seite, einen schweren Nebel, den sie mitbrachte, zerreißend, ohne ihn zu zerstreuen. Dieser verengte den Horizont bis auf Kabellänge von der Brigg und flog durch das Takelwerk in einzelnen weißen Streifen, über welchen der blaßblaue Himmel sich öffnete und schloß, wie der Sonnenschein an bewölkten Tagen hervortritt und verschwindet.

Ich sah auf den Kompaß und fand die Spitze der Brigg genau nach Westen gerichtet.

Die sich überstürzenden Wogen veranlaßten mich, an das jetzt viele Meilen hinter uns befindliche Boot mit seinen unglücklichen Insassen zu denken. Würde die Nußschale sich flott halten, bis ein vorübersegelndes Schiff sie erblickte? Wahrhaftig, es war eine grausame Rache, welche die Mannschaft genommen hatte, und mein Herz brannte mir aufs neue, als ich sie jetzt, gehorsam dem Rufe Deacons, nach hinten kommen sah.

Dieser breitete die Karte auf dem Oberlicht aus, forderte die Leute auf, um ihn herum zu treten, und winkte auch mich näher heran. Wir bildeten einen ziemlich starken Haufen, wie wir da im Kreise standen; es war ein recht häßlicher Anblick. Die meisten der Leute hatten Pfeifen im Munde und die, welche nicht rauchten, kauten ihre Prim. Das Deck war nach kurzer Zeit schwarz unter ihren Füßen.

»Nau, Maats,« sagte Deacon, »da ik mi för verpflichtet holl, tau Jug tau spreken, so ward ik in Jug Mitte treden, dormit Ji all mi hür'n un seihn künnt.«

Nach diesen Worten stieg er mit selbstzufriedenem Lächeln auf das Oberlicht und ließ sich dort kreuzbeinig nieder.

»Lat uns mit dien Ansprok in Rauh; segg kort, ahn vele Würd, dien Meinung,« brummte der alte Sam.

»Dit is de Kart,« begann Deacon, indem er seine Hand darauf legte, »hier is de Südsee, un da liggt Teapy; hier is das Kap Horn un hier de Brigg.«

Die Leute drängten sich vor und stießen einander, um zu sehen.

»Nach mien Meinung,« fuhr er fort, »führt de nächst Weg nach de Insel üm dat Kap Horn. Seiht mal, wenn wi hier, wo ik mit de Fingerspitz wis', nah Osten segeln däden, hädd wi dese ganze Streck See vör uns, dann müßten wi längs de Köst von Australien un Neu-Seeland fohren, dann bi en Meng' Inseln vörbi, un tauletzt hädd wi wedder en grot Stück Water vor uns. Wenn wi äwer nah Süd-West stüern, bruken wi blot dat Kap Horn ümsegeln, dann nordwestlich tau hollen, un en Fohrt von vierteihn Dag bringt uns dorhen, wohen wi wullen. Hebbt Ji mi verstunn'n?«

»Je, jo, dat is klar, so un nich anners möt't sien,« schrie Jimmy und nickte sehr sachverständig mit dem Kopfe.

»Gaud; also jedwerein, weck dafür is, nah Süd-West tau stüern, heb de Hand in de Höcht.«

Jeder Mann erhob seinen rechten Arm.

»Das ist also abgemacht,« wandte sich Deacon zu mir.

»Schön,« antwortete ich.

Darauf fuhr er fort:

»Nau, Maats, wullen wi de Offiziers wähl'n. Jack Chadburn is Kapteihn, dat is utmakt. Wer sall de irste Maat sien?«

»Du,« schrieen mehrere Stimmen.

»Ich willige ein,« sprach er mit einer unbeschreiblich hochmütigen Miene; er schien rein übergeschnappt; man hätte ihm ins Gesicht lachen können, wenn die ganze Sache nicht einen so entsetzlich tragischen Hintergrund gehabt hätte. »Aber wenn ich erster Maat bin, so bin ich für euch nicht mehr ›Sniggers‹, sondern, wie sich's gehört, ›Mr. Deacon‹, und erwarte, ›Sir‹ genannt zu werden.«

Ich sah mir die Gesichter der Leute an, um darin zu lesen, ob sie den Menschen nicht für toll hielten.

Der alte Sam schrie auch gleich los: »I Gott bewohr! de Kierl is wohrhoftig nahrsch worden, smit't em runner un haut em dat Ledder vull, dormit hei wedder tau Verstand kümmt.«

»De Düwel sall di ›Sir‹ näumen, du oll Nilpierd,« rief Blunt. »Wi wullen ›Deacon‹ tau di seggen, wenn du dat girn willst, un Sündag-Nahmiddags ok mienentwegen noch ›Mister‹, ›Sirs‹ sünd äwer nich an Burd von dese Schipp.«

»Ach wat, holt 's Mul mit dien dämlich Gesnak,« fiel der alte Sam hier wieder ein, »dat höllt uns' Sak blot up, äwer frielich is 't en anner Ding mit Jack; mi dücht, indem hei jetzt uns' Master un Kapteihn is, möten wi em ok jetzt ›Mister‹ un ›Sei‹ titeliren.«

»Ja, Sam het recht,« stimmten alle bei; allens in Orndlichkeit un Manierlichkeit, Jack sall ›Mister‹ sien.«

Jetzt trat ich vor und rief: »Gut, wie ihr wollt, und damit ihr gleich seht, wie ich's meine, sage ich euch: macht bald ein Ende mit eurem Geschwätz. Merkt ihr denn nicht, wie der Wind stärker wird und hinter dem Nebel noch mehr steckt? Wir werden unsere Spieren verlieren, wenn wir nicht bald an die Arbeit gehen.«

»Jack red' so wohr as de Bibel,« knurrte Sam. »Wer sall tweiter Maat sien?«

»Banyard,« sagte Deacon.

»Ja, Banyard soll 't sien,« riefen mehrere Stimmen; denn keiner geizte nach der Ehre.

»Wir müssen dieses Geschäft ein andermal beenden,« rief ich. »Vorwärts, Jungens! Refft die Bramsegel! Die Falls vom Außenklüver loswerfen! Immer hurtig, es sind noch viele Segel zu kürzen.«

Es war wirklich hohe Zeit, daß die Arbeit gethan wurde; denn der Wind hatte sich hinter dem treibenden Nebel aufgefrischt, während wir sprachen, und blies jetzt, daß die Kerbe auf Lee in Schaum begraben lag und das Takelwerk zitterte und knackte. Die Leute schafften munter: die Oberbram- und Bramsegel wurden gerefft, die Klüver- und Stagsegel niedergeholt, und eine Zeitlang fuhren wir nur unter den großen Untersegeln. Da wir aber den Wind auf den Bug bringen mußten, um unseren neuen Kurs zu gewinnen, und das Wetter auf der Windseite schwarz aussah wie ein Sack, so gab ich den Befehl, ein Reff in das Briggsegel und die Fock zu schlagen. Als dies geschehen war, ließ ich auch noch das Großsegel aufgeien. Hierauf brachte ich die Brigg in den richtigen Kurs, die Halsen und Schooten wurden übergeholt, die Raaen umgebraßt, die Luvbrassen stramm geholt, und in wilder Fahrt flog nunmehr das Schiff – Richtung Süd-West – durch Gischt und Schaum.

Um uns her stand der Nebel wie eine Wand. Der Wind war bitter kalt; ein Vorgeschmack von der Kälte, der wir jetzt entgegensteuerten.

Ich blickte leewärts, als eine Stimme vom Vorderdeck brüllte:

»Ruder backbord, hart backbord!« und ehe ich noch Zeit finden konnte, ans Rad zu stürzen, tauchte auf der Wetterseite ein großes Schiff aus dem Nebel hervor. Es streifte so dicht an uns vorüber, daß seine große Leesegelspiere über unserem Gaffelende wegglitt. Man hätte leicht von seinen ungeheueren Seiten auf unser Deck springen können, und als es vorbeischoß, brauste der Donner des an seinen Backen aufspritzenden Wassers und der im Takelwerk heulende Wind uns in die Ohren.

In wenigen Sekunden war es im Nebel verschwunden; kaum hatten meine Augen im Vorüberfliegen vermocht, hohe Masten, einen ungeheueren eisernen Rumpf, zwei Männer am Rade und ein Deckhaus zu erkennen. Es hing an einem Haar, daß es uns übersegelt hätte.

Wie viele Schiffe gehen auf diese Weise mit Mann und Maus verloren! Ein im Hafen eben eingetroffenes Schiff berichtet, daß es unter der und der Breite und Länge mit einem anderen Schiffe zusammengestoßen sei, Name des Schiffes unbekannt; und Monate darauf meldet der Lloyd, daß der ›Tom Jones‹, welcher den Hafen von Jericho an dem und dem Datum verließ, verloren zu sein scheine. Ja, und er wird auch nie wiedergefunden werden, ewig wird sein Schicksal ein Geheimnis des Meeres bleiben.

Der Zwischenfall hatte die Leute sichtlich erschreckt, stumm starrten sie noch eine ganze Weile auf die Stelle im Nebel, an welcher das Schiff verschwunden war.

Dieser Eindruck hielt indes nicht lange vor, bald gingen sie in ihrer lebhaften, sorglosen Art wieder nach vorn, um die unterbrochene Beratung mit Deacon und mir zu beendigen.


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