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Es hatte schon einige Zeit acht Glasen geschlagen, als der alte Windwärts kam, mich abzulösen. Jedenfalls hatte der Kapitän mit ihm von dem Tode des Jungen gesprochen. Er kam sehr großthuerisch auf mich zu und rief, indem er auf seine Brusttasche schlug:
»Hier unter diesem Rock habe ich die Gehirne von sechs Lumpenhunden.«
(»Und das Gehirn des größten Lumpenhundes von allen hast du in deinem eigenen Schädel,« dachte ich.)
Ich that, als verstände ich ihn nicht, und fragte, was er damit meine. Als Antwort zeigte er mir den Kolben eines Revolvers.
»In des Kapitäns Kajüte ist noch einer, der Ihnen zur Verfügung steht, wenn Sie einen haben wollen,« sagte er. »Falls Sie mich angreifen, werden Sie auch nicht geschont werden.«
»Das werde ich darauf ankommen lassen,« entgegnete ich kühl und ging nach unten.
Ich muß gestehen, angstvollen Herzens legte ich mich auf meine Pritsche. Da ich den Geist kannte, der die Leute beseelte, so erwartete ich jeden Augenblick ein Getümmel zu hören und plötzlich die Brigg in den Händen der Mannschaft zu finden. Dazu kam, daß mich der Tod des armen Jungen sehr ergriffen und die Art, wie seine Leiche in die Tiefe spediert worden war, mein Gefühl verletzt hatte. Wenn ich an die Zartheit des Knaben dachte und an seine Unschuld an jeder That, die eine große Strafe verdient hätte, so drängte sich mir die Bestialität, deren sich der Maat schuldig gemacht hatte, immer von neuem mit Empörung auf. Ich malte mir aus, wie die Leute in dem dunklen Vorderkastell über die Sache sprechen, in welchen Flüchen sie ihrer Erbitterung Luft machen und in wie düsteren Drohungen sie sich ergehen würden, den Burschen zu rächen.
Das, was man unter tieferem Gefühl versteht, scheint im allgemeinen unter den Seeleuten nicht zu Hause zu sein, bricht ein solches aber einmal hervor, dann äußert es sich in einer gewissen rauhen Art, die oft auch etwas sehr Rührendes an sich hat. Wenn z. B. ein beliebter Schiffsmaat über Bord gefallen war und sein Leben verloren hatte, so habe ich es erlebt, daß die Leute einen ganzen Tag über so niedergeschlagen waren, daß sie ihren üblichen Gesang beim Aufwinden des Ankers und Aufholen der Segel unterließen, wie von einer heiligen Scheu umfangen, nur in leisen Tönen sprachen, und nur flüsternd sich abergläubische Geschichten im Vorderkastell erzählten. Sie legen dieses ernste Wesen allerdings bald wieder ab, aus einer Art Furcht, weich zu erscheinen, und stürzen sich in das entgegengesetzte Extrem roher Neckereien, wilder Flüche und lauten Gelächters, aber all dies ist erzwungener, als man denken würde. Wenn ein Knabe zum erstenmal aus dem elterlichen Hause in eine Pension oder eine Schule kommt, so verbeißt er seine Thränen, und spricht, um sich nicht von seinen Kameraden ein Mädchen schelten zu lassen, mit männlicher Verachtung von der Mutter, der Schwester und der guten, alten Wärterin, nach deren Zärtlichkeit seine Sehnsucht doch so groß ist, daß er sich heimlich in Schlaf weint, wenn die Einsamkeit der Nacht ihn umhüllt. Aehnlich ist es bei den Seeleuten; sie sind gewissermaßen wie Schuljungen, und um sie zu verstehen, müssen wir uns die Zeit zurückrufen, wo wir als Knaben bei unsern Kameraden nach dem Ruf der Männlichkeit strebten, indem wir vorgaben, Dinge zu verachten, welche heute unsere schönsten Erinnerungen ausmachen.
Als der nächste Tag kam und die Leute ihre Arbeit verrichteten, ohne den Schiffer weiter wegen seiner Absichten gegen den Maat zur Rede zu stellen, hoffte ich, die Sache würde ohne weitere Folgen vorüberziehen. Es schien mir, daß sich hier wieder der natürliche Charakter des Seemanns bestätigte, d. h. daß er in seinen Empfindungen ein Kind des Augenblicks ist Ich beobachtete die Leute sehr genau, entdeckte aber keine Zeichen, denen ich hätte Bedeutung beimessen können. Wenn ich in das Vorderkastell hätte gehen dürfen, um mich dort mit ihnen zu unterhalten, so wäre es mir wahrscheinlich gelungen, ihr Trachten zu ergründen. Das war für mich aber jetzt verbotener Grund und Boden; verboten, meine ich, in dem Sinne des auf Kauffahrteischiffen herrschenden, eigentümlichen Verhältnisses zwischen Vorgesetzten und Mannschaft in Bezug auf einen Besuch in der Vorderluke. Da heißt es: wag' dich einmal in unser Reich, du erster oder zweiter Maat, wundere dich aber nicht, wenn wir dich alsdann aus reinem Vergnügen über deine Herablassung zärtlich umarmen, vor Liebe fast erdrücken, dich ausziehen und nackt durch die Luke hissen, oder dich mit einem Nagel durch das Gesäß deiner Hosen an eine Kiste spließen. Du wirst mich verstehen, daß das so unsere Art ist, ein Privilegium, so alt wie die erste englische Schiffsmannschaft, die jemals auf See ging. Obgleich die Leute mich gern mochten, hatte ich doch nicht Lust, mich solchen zarten Scherzen auszusetzen. Es ist ein ander Ding, sie von oben her durch die Luke anzurufen, und ein anderes, in ihre Höhle selbst einzudringen.
Wenn ich jedoch auch auf Frieden hoffte, so kann ich doch nicht behaupten, daß ich ihn mit irgend welcher Sicherheit erwartete. Mir war die scheinbare Gleichgültigkeit der Leute unheimlich. Bekanntlich sind auf See die harmlosesten Burschen die lautesten Brummbären. Nun aber vollzog heute die ganze Mannschaft alle Befehle, ohne zu murren, sie verrichtete still ihre Arbeit, und keiner stellte irgend welche Frage. Das war mir verdächtig.
Ich dachte, Banyard möchte vielleicht im stande sein, mir zu sagen, worüber sie im Vorderkastell sprächen; ich suchte ihn also in dieser Richtung etwas auszuholen.
»Ik glöw, sei warden nich grade up de Knei leigen un Segnungen up Oll Windwärts un de Schipper herunnerflehn,« erwiderte er.
»Mir scheint, sie nehmen Jung-Joeys Tod kühler auf, als man vermuten sollte nach dem Murren, welches sie gestern abend dem Kapitän zu hören gaben.«
»Ja ja, dat is schon möglich, un 't wier dat kläukste, wat sei dauhn künnt.«
»Thun sie es aber auch wirklich?«
»Ja, dat is richtig, thun sei es ok würklich?«
Ob seine Hartnäckigkeit schuld trug, oder was sonst, ich verstand es nicht recht; es war eben immer schwierig, aus Pendel etwas heraus zu bekommen. Ich hielt ihn indessen für einen ehrlichen Mann und den einzigen zuverlässigen in der Brigg.
»Banyard, ich denke an das Mädchen in der Kajüte. Ich möchte nicht, daß ihr Unheil widerführe; um ihretwillen hoffe ich, daß es zu keiner Meuterei kommen wird.«
»Müderie is ümmer en slimm Ding, 's löpt gegen alle gaude Ordnung, un nicks Gaudes kömmt dorbi rute.«
»Mir will die ungewöhnliche Ruhe der Leute nicht gefallen. Ich wollte lieber, sie kämen nach hinten, machten Lärm und würden so Gift und Galle los.«
»Frilich, frilich, denn säch 't all beter ut.«
»Ist der Koch oft im Vorderkastell?«
»Nu ja, dat is hei; hei is tämlich oft da.«
»Horchen Sie ihn mal aus, wollen Sie?«
»Hürn' Sei mien Rat; mischen Sei sik in nicks, wat Sei nicks angeiht. Ik warde kein Minschen nich uthorken; un mien Rat für Sei is: kümmern Sei sik üm sik sülwst. Wenn 't tau en Müderie kommt, so laten Sei de de Folgen dragen, de da Veranlassung gewen hebben. Mi geiht dat nicks an, un laten Sei sik 't ok nicks angeihn. Dat is mien Meinung.«
Nachdem er so gesprochen und seine Worte mit einem vielsagenden, Unheil verkündenden Kopfnicken begleitet hatte, ging er langsam weg. Das war alles, was ich aus Banyard herauskriegen konnte. Dumm, wie ich glaubte, daß er sei, hatte er mir doch Rat genug gegeben, um mich besorgt für mich selbst zu machen.
Miß Franklin blieb den ganzen Tag in ihrer Kajüte. Der Grund für dieses Fernbleiben von Tische mag wohl der gewesen sein, daß sie sich mit ihrem Bruder gezankt hatte, oder noch zu erregt war von der traurigen Sterbescene. Der Kapitän war still, aber die finstere Ruhe der Leute schien ihm keine Sorge zu machen. Dies gab mir eine sehr geringe Meinung von seiner Einsicht. Im Gegensatz zu ihm gefiel sich der Maat in Prahlereien. Ich hörte ihn, als ich auf Deck war und er mit dem Kapitän beim Mittagessen saß, sich laut seiner Gewalt über Schiffsmannschaften rühmen.
»Zuerst denken sie mich einzuschüchtern,« schrie er in seiner Weise so laut, daß nicht nur ich, sondern auch der schöne Blunt, welcher am Steuer stand, jedes Wort verstehen konnte, »aber nur erst einmal meine Faust gekostet, und sie verspüren keine Lust nach einer zweiten Dosis dieser Medizin. Gott schütze Sie, Kapitän, aber Furcht dürfen wir nicht zeigen. Ich habe den Jungen nicht töten wollen, da es aber einmal passiert ist, so lassen Sie es für einen guten Schlag gelten. Ich sage Ihnen, derselbe vertritt hier den Dienst einer vortrefflichen Vogelscheuche, er wird ihnen eine Warnung sein und sie lehren, daß mein Motto heißt: Gehorsam oder Tod; thut, was ich euch sage, oder ich schlage euch den Schädel ein. Das ist die Sprache, die sie verstehen, und ich denke, sie kennen mich jetzt. Sie sehen ja, heut' sind sie so munter wie Flöhe und ruhig wie Alligatoren, die auf einem Sumpf schlafen.«
Die Antwort des Schiffers auf diese Rede verstand ich nicht, aber sicherlich lag kein Vorwurf oder Verweis im Ton seiner Stimme.
»Das Blut des Knaben wird über euch kommen,« dachte ich, als ich wegging, nachdem ich einen verstohlenen Blick auf den Schönen geworfen hatte, dessen häßliches Gesicht drohend und finster wie eine Gewitterwolke über den Kompaß geneigt war.
Einige Tage nach dem Tode des Schiffsjungen hatte ich einen Unfall; ein Ereignis, welches oft auf See berichtet wird, aber aus einem einleuchtenden Grund sehr selten von demjenigen, der es erlebt hat.
Der Kapitän ging auf der Windseite auf und ab, der Matrose Sawings stand am Rade und Miß Franklin blätterte in einem Buche, auf der Leeseite der Kampanje sitzend. Die Wache war im Takelwerk und auf Deck beschäftigt. Die Brigg machte gute Fahrt unter dem günstigen Winde, der sie streifte. Das große Segel war voll gerundet und bildete eine mächtige, weiße, anmutige Wölbung zwischen den Geitauen und Raanocken; nur die Reuls rasselten oben, als wenn die Brigg beständig im Begriff wäre, zu wenden, es sich aber immer wieder anders überlegte. Ehe ich die Leute an die Brassen rief, sprang ich auf die Schanzkleidung, und mich an einer Pardune haltend, ließ ich meine Augen über den sich neigenden Segelturm schweifen. Zu einem Unglücksfall auf See gehört nur ein Augenblick. Ein Mann im Takelwerk schwingt sich an einem Tau, dasselbe ist nicht fest und mit ihm in den Händen fällt er zerschmettert aufs Deck. Oder es steht einer auf einer Paarde, ein plötzlicher Ruck läßt dieselbe unter seinen Füßen abgleiten, er saust durch die Luft und ist dahin für immer.
Was mir geschah, traf mich auch so plötzlich, daß ich keine Ahnung habe, in welcher Weise es sich ereignete. In der einen Minute befand ich mich in völligem Gleichgewicht auf der Schanzkleidung, in der nächsten war ich unter Wasser mit einem Lärm, wie Donner in meinen Ohren.
Es war sonderbar, daß, solange ich unter Wasser war, mich die feste Ueberzeugung beseelte, daß ich träumte. Ich hatte keine Furcht; denn ich glaubte nicht an die Wirklichkeit meiner Lage. Ob es daher kam, daß ich von dem Schlag auf das Wasser etwas betäubt oder ob mein Geist unfähig war, die plötzliche Veränderung des Zustandes sofort zu fassen, genug, das ist sicher, daß mein Gefühl so war, wie ich es beschrieben habe. Ich stieg wieder an die Oberfläche auf und mit dem ersten Atemzug frischer Luft erfaßte mich das ganze Entsetzen meiner Lage. Die Wogen, welche vom Deck der Brigg aus gar nicht bedeutend ausgesehen hatten, erschienen mir jetzt wie ebensoviele um mich herum tanzende Berge. Auf den Gipfel des einen derselben erhoben, konnte ich sehen, daß die Brigg Anstalten zum Beidrehen traf und Leute in der Nähe des Quarterboots auf der Leeseite beschäftigt waren. Darauf fuhr ich wieder herunter in die mir unermeßlich scheinende Kluft zwischen den Wellen-Bergen, das grüne Wasser, wie die Mauern eines Hauses auf jeder Seite neben mir. Was mein Herz stocken machte und meine Arme beinahe lähmte, war die Entfernung, in welcher die Brigg sich befand. Eben war ich noch an Bord gewesen und jetzt war sie so weit weg, daß die Menschen an dem Seiten-Boot nicht größer aussahen als meine Daumen.
Würde ich mich flott halten können, bis das Boot den Zwischenraum durchmessen hatte, welcher mich von der Brigg trennte? Ich war ein guter Schwimmer; aber das Bewußtsein der ungeheuren Tiefe unter mir, das Tosen des schäumenden Wassers über meinem Kopf und um mich her, meine eigne Winzigkeit in dieser bewegten grausigen Welt von Gischt und Schaum, all dies war so entmutigend, daß meine Willenskraft versagte, meine Kraft ermattete und nur der Instinkt, mein Leben zu erhalten, mich trieb, mit den Armen zu rudern und den Kopf über Wasser zu heben. Auf den Kamm einer hohen Welle geschleudert, erblickte ich plötzlich, nicht fünfzig Meter von mir entfernt, einen gelben Gegenstand, eine Rettungsboje, welche jemand wenige Sekunden, nachdem ich über Bord gefallen war, mir nachgeworfen haben mußte. Als ich von der brausenden Höhe wieder in den entsetzlichen Schlund gerissen wurde, begann mein Geist, durch den Anblick der Boje neu belebt, sich wieder zu regen; ich überlegte, wie ich es anfangen müßte, sie zu erreichen. Sie befand sich windwärts von mir, jede See, welche sie in die Höhe hob, mußte sie mir näher bringen. Darum schwamm ich nicht mehr der Brigg entgegen, sondern wandte mich dem Gürtel zu und strich mit aller Macht aus. Ich hatte hierbei weniger die Absicht, auf ihn zuzuschwimmen, als mich von dem gewaltigen Andrang des Wassers nicht immer weiter abtreiben zu lassen. Manchmal brach sich der Kamm einer Woge über mir, mich mit einem Wirbel von Schaum überschüttend, in welchem ich sprudelte und planschte und halb erstickte. Keuchend, Haar und Wasser aus meinen Augen schüttelnd, rüstete ich mich aber immer wieder aufs neue zu dem Kampf, meinen Platz zu behaupten, und endlich, nach etwa fünf Minuten tödlicher Anstrengung, gelang es mir, die Boje zu fassen, als sie auf der Spitze einer Woge herabstürzte. In einer Sekunde hatte ich sie mir über Kopf und Arme gezogen und fühlte mich nunmehr brusthoch sicher über dem Wasser getragen.
Inzwischen war das niedergelassene Boot kräftig auf mich zugerudert. Ich sah ihm mit schrecklicher Angst entgegen, wie es sich abwechselnd hoch erhob und immer gleich wieder meinen Blicken entschwand.
Das heiß ersehnte Boot kam von der Windseite und erforderte die sorgsamste Führung; aber obgleich ich halb tot war, hatte ich noch Bewußtsein genug, Entzücken zu empfinden über die Geschicklichkeit, mit welcher Klein-Welchy, der am Steuer stand, es regierte. Er richtete die Spitze desselben der See entgegen und ließ es mit dem Stern auf mich zutreiben, manchmal es unterstützend durch ein Eintauchen des Ruders.
Nach einigen Augenblicken war es neben mir. Dieselbe Woge schleuderte uns zusammen in ein Wellen-Thal hinab. Als wir wieder gehoben wurden, packten mich vier Paar Hände und zogen mich triefend in das Boot hinein, in welchem ich mich sofort erbrach und dann so schwach dalag, wie eine halb ersäufte junge Katze.
Ein häßliches und schwieriges Geschäft war es jetzt, die Brigg wieder zu erreichen; denn das Boot mußte nunmehr den furchtbaren Rollern gerade entgegen rudern.
Die vier Leute strengten sich aufs äußerste an und brauchten doch eine halbe Stunde, um das Boot längsseits zu bringen. Hierbei hing es wieder an einem Haar, daß es um uns alle geschehen war; denn als das Boot etwa bis zur Hälfte gehißt war, traf es eine Woge und riß ein paar Bohlen aus dem Boden.
Zu schwach, um zu gehen, wurde ich von einigen Leuten in meine Kajüte getragen. Die Kleider wurden mir ausgezogen und mein Körper trocken gerieben, auch gab man mir ein Glas heißen Branntwein zu trinken. Warm und geborgen in meiner Pritsche, dankte ich Gott für meine Errettung und schlief ein. Als ich zwei Stunden darauf erwachte, war ich kräftig genug, um aufzustehen und auf Deck zu gehen.