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Vierzehntes Kapitel.
Windstille.

Es dauerte nicht lange, bis die Mannschaft herausgefunden hatte, daß Miß Franklin ›en nüdlich smuck Dierning‹ sei. Ich hörte diesen Ausdruck von Suds, und ein wahrer Krampf düsterer Eifersucht und Enttäuschung packte mich, als dieser Mensch mir lang und breit auseinandersetzte, wie sie, während er am Steuer gewesen, zu ihm gekommen wäre und ein Garn mit ihm gesponnen hätte. Bis hierher hatte ich geglaubt, diese Herablassung erstrecke sich nur auf meine Person, ich allein wäre der Bevorzugte, mir allein schenke sie Beachtung. Und nun, ach Gott, dieser kalte Wasserstrahl, daß auch andere von freundlichen Worten sprechen konnten, welche an sie gerichtet wurden. Wahrhaftig, ich war ganz zerschmettert; was in aller Welt aber konnte sie auch Gefallen an einer Unterhaltung mit solch rohen Burschen finden, mir war das unerfindlich. Um so mehr verstand ich aber ihre zunehmende Popularität auf dem Vorderdeck; machte doch jedes Wort, jedes freundliche Lächeln von ihr, jeden glücklich und stolz, dem es galt.

»Dat möt en wunnerboren Vagel west sin, de twei so unglike Eier leggt het,« bemerkte Suds, indem er sich auf Bruder und Schwester bezog. »Mien Meinung is, sei sünd sik in Harten ennanner so ähnlich, as de Wilde, de Minschen fret, de Preister, dem em bekihren will.«

Wie mit einem Schlage wurde die Arbeit zum Vergnügen, sobald sie auf Deck erschien. Sie folgte uns mit ihren braunen unschuldigen Augen, und wenn sie zufällig einer Arbeit im Takelwerk zusah, die Leute da oben es bemerkten, und ihr halb erschrockenes, halb bewunderndes Gesicht sahen, da achteten die jüngeren keine Gefahr und überboten sich in halsbrechenden Anstrengungen, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Alle gegebenen Hilfsmittel verschmähend, schienen sie oft, gerade an den gefährlichsten Stellen, frei in der Luft zu schweben.

Der alte Windwärts that alles, was er zu thun wagen konnte, die Leute am Antworten zu hindern, wenn sie zu ihnen sprach. Er lehrte dieselben bald begreifen, daß stets irgend eine Chikane dem Vergnügen eines Wortes von ihr folgte. Er verstand es immer, bei dem Betreffenden etwas herauszufinden, was harte Arbeit oder noch schwerere Strafe nach sich zog. Es spielte sich hier das Märchen von der Prinzessin und dem Werwolf ab: jeder Unglückliche, mit dem sie sprach, wurde von dem Werwolf verschlungen. Was den Kapitän betrifft, so habe ich nie bemerkt, daß er ihrem Thun in dieser Hinsicht Beschränkungen aufzuerlegen suchte, vielleicht hatte er damit den Maat beauftragt. Ein bestimmter Befehl war nur gegen mich gerichtet, das wurde mir bald klar, denn während sie fortfuhr mit den andern Leuten zu sprechen, vermied sie mich auffallend, und doch bemerkte ich oft, daß sie mich über ihr Buch hinweg ansah, wenn sie glaubte ich sähe es nicht.

Drei Wochen hindurch hatten wir günstigen Wind. Bei Tage war der Himmel blau, bei Nacht war es sternhell und die See leuchtete und schäumte.

Wir waren jetzt, so gut ich es veranschlagen konnte, wenn ich Zeit und Fahrt berechnete, nahe bei, oder gegenüber den Kap Verde-Inseln. Die nordöstlichen Passatwinde, welche wir vor einigen Tagen erreicht halten, waren uns bisher förderlich gewesen, jetzt aber hörten sie auf.

Das Aussetzen dieser regelmäßigen Winde, welche vom dreißigsten Grade nördlicher Breite bis auf wenige Grade vom Aequator der Segelschiffahrt dienstbar sind, war wahrscheinlich nicht von langer Dauer, trotzdem war der Kapitän über diesen Umstand aufs höchste erregt, und ich hörte ihn gegen den alten Windwärts in einer ganz unglaublichen, gottvergessenen Weise dem Himmel deshalb fluchen.

Die Windstille ging ungefähr um vier Uhr nachmittags zu Ende. Ich wußte nicht, wie der Barometer stand, aber ich war lange genug zur See gewesen, um in der eigentümlichen Färbung des blauen Himmels, von welchem jede Wolke verschwunden war, Anzeichen zu erkennen, welche mich besorgt machten. Ich dachte, der Kapitän würde wohl daran thun, in dieser Nacht scharfen Ausguck halten zu lassen.

Eine lange mächtige Woge rollte von Westen heran. Die Brigg, welche nicht mehr durch den Druck des Windes gefestigt war, schaukelte auf ihr wie ein kleines Boot; das Wasser schlug bis zur Höhe unserer Schanzkleidung auf.

Die Unannehmlichkeiten eines starken Windes sind gering im Vergleich mit denen einer starken Dünung während einer Windstille. Die Wirkung einer solchen ist eine ganz furchtbare. Das Schlingern des Schiffes wird derart, daß Masten und Spieren sich oft bis zu einem Winkel von vierzig Grad neigen und die Wanten und Pardunen sich schwer ächzend in einer Weise spannen und strecken, daß es einen nur wundernehmen kann, daß die Püttingeisen sich unter der ungeheuren Gewalt nicht wie Draht ausziehen.

Am schlimmsten aber ist es auf und unter Deck. Was nicht ganz sicheren Halt hat, wird umher geworfen, alles Bewegliche stürzt von einer Seite zur andern. Abgesehen von der Not, sich selbst auf den Beinen zu erhalten, schwebt man in steter Gefahr, von den herum rollenden und fliegenden Gegenständen verletzt zu werden.

Die Lampe im Vorderkastell schaukelte mit ihrer flammenden Schnauze bis an die Decke; wir mußten sie festbinden, um zu verhindern, daß die Deckbalken nicht versengt wurden. Sams Kiste wurde losgerissen und ehe er sie packen konnte, gegen eine Pritsche geschleudert. Sie brach auf und ihr Inhalt stürzte heraus, wie eine Familie freigelassener Kaninchen – ein wahrer Trödelladen von Lumpen und alten Flaschen war es, der sich da entlud. Wir bemühten uns alle, ihm zu helfen, sein Eigentum aufzusammeln; aber während wir hiermit beschäftigt waren, ging die Lampe aus und Suds, der in einer der obersten Lagerstellen fest schlief, sauste plötzlich auf uns nieder. Teils schimpfend, teils lachend und aneinander zerrend, um wieder auf die Beine zu kommen, krabbelten wir nun im dunkeln herum, während Sam alle Seeflüche, die ihm nur einfielen, auf die Brigg herabrief.

Der Bedauernswerteste war aber Scum, der Koch. Nicht genug, daß in seiner Küche alles durcheinander krachte und polterte, war ihm auch ein Topf kalter Erbssuppe, bedeckt mit einer Schicht erstarrten Fettes, auf den Kopf gefallen, als er bemüht war, eine ganze Ladung herunter gefallener Löffel, Messer und Gabeln vom Boden aufzusuchen. Die kalte Masse war dem Aermsten zwischen Haut und Hemd gelaufen und hatte seinen Magen, der ohnedem schon von dem ungewöhnlichen Schlingern des Schiffes in Unordnung geraten war, vollends umgekehrt. Er lag nun auf dem Deck, der arme Kerl, mitten unter seinen Schüsseln und Töpfen, elend zum Erbarmen, und mit einem Gesicht wie ein Kürbis. Vor Lachen war ich zuerst nicht im stande, ihm zu helfen, dann aber erlöste ich ihn und setzte ihn mit dem Rücken an die Außenwand der Küche, wo er sich in der frischen Luft allmählich wieder erholte.

Da der Befehl gegeben war, das Vorbram-Leesegel einzuziehen, stiegen der glückliche Billy und ich die Wanten hinauf, um die Spiere desselben einzuholen.

Ich war gewöhnt, Masten zu erklimmen, die sehr viel höher waren als die der ›kleinen Lulu‹, mich auf Raaen auszulegen, welche noch einmal so dick und lang waren als die ihrigen, und Segel zu handhaben, von denen eins groß genug war, die ganze Brigg damit zuzudecken; aber niemals, solange ich auf See war, hatte ich einen so schwierigen, unangenehmen und gefährlichen Aufstieg unternommen wie den, welchen ich jetzt wagte. Bei einer steifen Kühlte oder starkem Winde holt ein Schiff niemals weit nach windwärts über; infolgedessen bildet das Takelwerk auf der Wetterseite immer einen mehr oder weniger stumpfen Winkel mit der See und bietet daher eine Leiter, welche sich gut zum Klettern eignet. Aber jetzt ging die Brigg ebenso stark nach Back- wie nach Steuer-Bord über, so daß, wenn sie sich nach meiner Seite hin neigte, sie mich, wenn ich so sagen darf, auf den Rücken legte wie eine Fliege, die an der Decke kriecht; in dieser Lage glitten oft meine Füße von den Webelinen und ich hing frei mit den Händen über Wasser. Billy wäre um ein Haar aus der Fockmars gestürzt.

Als wir auf der Raa angelangt waren, fanden wir in ihr die reguläre Schaukel. In einem Augenblick wurden wir gen Himmel geschleudert, im nächsten flogen wir wieder zurück. Wir hatten nur eine Hand zum Gebrauch frei, denn mit der andern hingen wir an der Jackstag; wir brauchten daher mehr Zeit, den Baum einzuholen, als wir bei gutem Wetter bedurft hätten, beide Leesegelspieren zu bergen.

Während dieser ganzen Zeit schrie uns der alte Windwärts fortwährend an und schalt uns faule Lümmel; er fand offenbar einen Genuß darin, mich vor Miß Franklin zu demütigen; ich erkannte recht gut, mein Lachen bei ihrer Frage, ob er verheiratet sei, war mir nicht vergessen. Mochte er jedoch brüllen soviel er Lust hatte, wir überstürzten uns deshalb doch nicht, ihm zu Gefallen wollten wir nicht den Hals brechen.

Von der Fockmars aus warf ich einen Blick umher. Nichts war in Sicht; der Himmel wölbte sich in reinem Blau über uns, trotzdem aber war der Horizont von einem scheinbaren Nebel verschleiert. Dieser Umstand und die Farbe des wolkenlosen Himmels erzeugten in mir das starke Vorgefühl eines Wetterwechsels. Meinem Dafürhalten nach mußte derselbe eintreten, noch ehe die Sonne aufs neue der See entstieg.

Von meiner Höhe aus war der Blick auf die schlingernde Brigg ein ganz eigenartiger. Sie tauchte so tief in die See, daß, wenn sie sich erhob, wahre Wasserfälle aus ihren Gossen stürzten. Bald bildete das Deck weitab zu meiner Rechten einen steilen Abhang, bald war es unter mir, bald zu meiner Linken. Der Rumpf stöhnte, die Spieren ächzten und das Schlagen der Leinwand gegen die Masten klang wie das Geknatter von Kleingewehrfeuer.

Nachdem die Arbeit beendet war, stiegen wir wieder auf Deck herunter.

Das große Segel war mittelst der Gordingen und der Geitaue so fest als nur möglich aufgegeit, die Klüver waren niedergeholt, das Gaffelsegel gerefft und mit seinen hölzernen Bügeln am Schnaumast fest angeholt worden. Alle übrigen Segel indessen bis hinauf zu den Reuls wurden vorläufig unverändert gelassen.

Als ich nach vorn ging, blickte ich auf die See und war betroffen von der wunderbaren Majestät des Bildes. Die mächtige Dünung, geräuschlos und unter ölglatter Oberfläche herangleitend, hob mit unwiderstehlicher Gewalt die Brigg so hoch, daß man plötzlich meilenweit sehen konnte, während man im nächsten Augenblick so tief hinabfuhr, daß hoch über uns nur die Kämme der ungeheuren Wogen sichtbar wurden.

Es war schwierig, den Thee aus der Küche zu holen. Schnarch-Jimmy, welcher übrigens seinen Spitznamen insoweit mit Unrecht trug, als er nicht mehr schnarchte wie alle übrigen, verbrühte sich dabei ganz gehörig die Hand, erhob aber auch ein so fürchterliches Geschrei, daß einige von uns aus der Luke auf Deck sprangen, im Glauben, es wäre ein Mann über Bord gegangen.

Als wir erst bei der Mahlzeit saßen, machte uns das Schlingern keinen Kummer mehr. Der alte Sam aber, welcher eine fünfzigjährige Erfahrung hinter sich hatte und dessen Aeußerungen wir deshalb stets mit großer Achtung entgegennahmen, bemerkte, daß eine aus Stückgütern bestehende Ladung bei solchem Schlingern immer in Gefahr schwebe, überzuschießen; er wolle zwar hoffen, daß wir vor solchem Unglück bewahrt blieben, träte es aber ein, dann könnten wir nichts Besseres thun, als uns hinsetzen und beten und unsere Seele Gott empfehlen.

»Na, wenn de Brigg unnergaht,« meinte einer, »denn will ik blot hopen, dat sei den ollen Windwärts un den Schipper mitnahm' deiht, mir äwer laben lett, dormit ik taukieken kann, wo sei ersupen.«

»Wüßt Ji,« rief Klein-Welchy, »Oll Windwärts is en so schandbor häßlichen Kierl, as ik kein annern up See seihn hew, un dorbi was sin Modder en staatsche smucke Fru.«

»Wat weitst du gräun Jung von sin Modder?« warf der alte Sam verächtlich hin.

»Dat will ik Jug vertellen. Oll Windwärts' Vadder was en Kierl ut Sherneß, dat was hei. Hei hadd blot en Og, en schewes Mul un en Näs, de dörch dat Drinken so grot as en Räube worden was. All Lüd säden, hei wier de häßlichst Mann up de Welt. De Frugenslüd verfierten sik ümmer, wenn sei em sahn. Mien Modder ded dat ok, föll de Kellertrepp runner, brak en Bein un set'te mi dorup in de Welt.«

»Mi dücht, du büst ut Wallis,« unterbrach Suds.

»Na, un kann en Walliser ken Modder hebben, de mal in Sherneß lewt het?« schrie Welchy. »Du oll Schapskopp kannst en Minschen doch nich rauhig vertellen laten. Also, eins Dags was hei so utverschamt, en Staatsmäten, ik segg Jug Maats, en Mäten rein taum freten, un mit en Haarzopp, de ehr twei Faden äwer den Puckel dal hung, en Andrag tau maken.

»Seggt sei: ›du Kameel-Ap du, wat willst du von mi?‹

»Seggt Oll Windwärts' Vadder: ›Mien hübsch Kindting, ik hew en Idee. Du büst en sauber Mäten, hest äwer nich vel Grötz in dien lütt Kopp; ik bün häßlich, äwer klauk. Wenn wi uns friegen däden, würd' uns' Kinner von mi den Brägen Gehirn. un von di de Schönheit kregen. Wat meinst du, mim Snuding, würd dat nich fein sien, Kinner tau hebben, üm weck all Welt uns benieden würd?‹

»Na, also de Sak lücht ehr nau woll in; sei läd sik ehr Fründschaft tau Thee un Abendbrot in, beratslagt de Angeligenheit mit ehr, un richtig, de Hochtied kam tau stann. Nu kemen de Kinner, ward Ji denken; frielich sei kemen, äwer blot eins, nämlich uns' Oll Windwärts. Wat de Vadder seggt hadd, würd ok richtig, blot dat't verkihrt kam. De Sähn hadd dat Apengesicht von sien Vadder, un den Verstandskasten von sien Modder arbt. Dit Maats, is, bi mien Seel, de wohrhaftige, unverfälschte Lewensgeschichte von Oll Windward.«

Wenngleich jeder der Zuhörer ganz überzeugt war, daß Klein-Welchy das Geburtsland vom alten Windwärts auch nie nur mit einem Auge gesehen und lediglich eine reine Erfindung zum besten gegeben hatte, so fand seine Geschichte doch viel Beifall und gab Anlaß zu Schmähungen, deren gröbste noch lange nicht den Haß auszudrücken vermochte, den die gesamte Vorderdeck-Gesellschaft für ihren Peiniger, den ersten Maat empfand.


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