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Zweites Kapitel.
Ich erfahre Neuigkeiten.

Der Wirt vom ›Weißen Hirsch‹ war ein achtbarer junger Mann mit guten Verbindungen in der Stadt und Besitzer einer Yacht von fünf Tonnen, in welcher ich oft mit ihm eine Kreuzfahrt in der Bai gemacht hatte.

Wir kannten einander sehr genau, und als er mich die Stufen zum Gasthaus hinaufsteigen sah, kam er mir entgegen und bewillkommnete mich so herzlich, daß ich darüber den Empfang bei meiner Stiefmutter beinahe vergaß.

Sein Name war Transom. Er hatte gerade augenblicklich viel zu thun, wie er mir sagte, wollte sich aber, sobald er fertig sei, zu mir setzen und erzählen, was sich die beiden letzten Jahre in der Stadt zugetragen habe. Inzwischen gab er mir in freundschaftlicher Weise zu verstehen, daß ein saftiges Stück geschmortes Rindfleisch im Hause wäre und ich gute Bedienung bei den Kellnern finden würde.

Ich ging zuerst auf das mir angewiesene Zimmer, machte mich etwas sauber und begab mich dann wieder herunter. Da ich mich in einer Stimmung befand, in welcher man am liebsten allein ist, war es mir sehr angenehm, das Gastzimmer leer zu finden. Das tief herunterreichende Bogenfenster dieses Zimmers gestattete einen weiten Blick über den Hafen und die hinter ihm sich ausbreitende See. Es lag eine ganze Anzahl Schiffe verschiedener Größe und Takelung vor Anker, darunter auch einige Schraubendampfer und Flußfahrzeuge. Eine Menge Menschen strömte bei dem Fenster vorbei und am Hafendamm entlang, wo eine Neger-Gesellschaft einen dichten Haufen von Matrosen und Mädchen mit ihren Liedern entzückte. Auch Flöten, Geigen und Harmonikas erklangen; die leichte Seebrise trug die Töne vom Hafen aus herüber, zuweilen vermischt mit dem Chorgesang der Matrosen beim Ueberholen der Kabel.

Ich fühlte mich sehr niedergeschlagen; die fröhliche Menge und die Musik diente nur dazu, meine Traurigkeit zu verschärfen. Ich saß und dachte an meinen Vater: woran er wohl gestorben sein mochte, ob er während seiner Krankheit eine gute Pflege gehabt haben möge, wie er dazu gekommen sei, diese Frau zu heiraten, und was sie vorher gewesen sein möge.

Diesen trüben Gedanken wurde ich durch Transom entrissen, welcher kam, mich einzuladen, auf seinem Zimmer eine Pfeife mit ihm zu rauchen und ein Glas zu trinken. Ich nahm diese Einladung freudig an, folgte ihm und setzte mich in der behaglich eingerichteten Stube an ein offenes Fenster, welches auf einen wohlgepflegten Garten blicken und den Duft von Rosen und Gaisblatt hereinströmen ließ.

Nachdem wir zunächst über dies und jenes geplaudert hatten, erzählte mir Transom die Geschichte von meines Vaters Heirat.

»Ich weiß mehr davon, als irgend ein anderer in der Stadt,« sagte er, »und das kam so: Nachdem Sie abgesegelt waren, kam Ihr Vater oft hierher, saß ganz allein, rauchte und trank sein Glas; es war im Winter, wo wenig Gäste verkehrten. Eines Abends rauchten wir wieder eine Pfeife zusammen, da sagte er: ›Transom, haben Sie in der Kirche wohl zufällig einmal zu mir herübergesehen?‹

»›O ja, das kam wohl öfter vor.‹

»›Haben Sie dabei manchmal eine Dame neben mir bemerkt?‹

»›Ja, Mistreß Parson.‹

»›Ganz recht,‹ sagte er, mich sonderbar ansehend und dabei ein Auge zukneifend.

»›Ist sie nicht eine Schneiderin?‹ fragte ich.

»›Gewiß, und was für eine!‹ entgegnet« er. ›Ich sage Ihnen, mein Junge, sie versteht es, eine Weste zu wenden und einen Rücken einzusetzen, so fest, daß der stärkste Mann nicht im stande ist, eine Naht zu platzen; sie arbeitet besser als irgend ein Schneider. Neulich verehrte sie mir eine Weste; das war doch freundlich von ihr, nicht wahr?‹

»Als er dies gesagt hatte, blinzelte und zwinkerte er so schlau mit den Augen, daß ich lachen mußte. Er stimmte ein und zwar so herzlich, daß ihm die Thränen über die Backen liefen und er sich am Tabakrauch so verschluckte, daß er einen ordentlichen Krampfanfall von Husten bekam. Als dieser vorüber war, fragte er mich, während ihm immer noch die Thränen herunter liefen, was ich von Mrs. Parson hielte.

»Ich erwiderte, daß ich nichts von ihr wüßte.

»›Sie finden sie vielleicht nicht schön – aber das ist Geschmacksache,‹ meinte er. ›Was man von gutem Wein sagt, das sage ich von ihr – sie hat Fülle. Von Jugend auf habe ich schon eine besondere Vorliebe für starke Frauen gehabt.‹

»Ich schwieg, um zu sehen, wo er eigentlich hinaus wolle, und nachdem er ein Weilchen still vor sich hin gedampft hatte, wandte er gedankenvoll seine Augen auf mich und fragte: ›Was meinen Sie, wenn ich sie heiratete?‹

»Mich verblüffte im Augenblick die Frage; dann aber antwortete ich, das ginge mich nichts an, – um Ihretwillen aber sollte es mir leid thun; denn Sie würden sich sicherlich nicht freuen, eine Schneiderin zur Stiefmutter zu erhalten.

»›Das ist es eben,‹ sagte er, ›Jack würde es nicht gern sehen.‹

»›Ich kann mir auch gar nicht denken, daß Sie im Ernst sprechen, Mr. Chadburn,‹ sagte ich.

»›Das thue ich aber,‹ erwiderte er, ›und ich möchte gern Rat haben. Sehen Sie, sie scheint mich wirklich sehr lieb zu haben, und ich habe es, weiß Gott, schrecklich langweilig zu Hause, wenn Jack fort ist, und er ist immer fort. Wahrhaftig, Sie würden mir einen Gefallen thun, Mr. Transom, wenn Sie mir ganz offen Ihre Ansicht aussprechen wollten; ich würde gern hören, was Sie denken; denn Sie sind ein einsichtsvoller junger Mann.‹

»›Gut,‹ entgegnete ich, ›wenn Sie es nicht anders haben wollen, – ehrlich gesprochen, würde ich an Ihrer Stelle Witwer bleiben.‹

»Das sagte ich, weil ich an Sie dachte, obgleich ich überzeugt war, daß er sich sehr ärgern würde.

»Um so überraschter war ich daher, als er aufsprang, mir warm die Hand schüttelte und versicherte, daß er ganz meiner Meinung sei; denn er müsse sich doch eigentlich sagen, daß Mrs. Parson ihn wohl nur der Vorteile wegen haben wolle, die sie durch ihn zu erlangen hoffe, und es schließlich auch lächerlich sei, wenn ein so alter Mann, wie er, noch einmal heiraten wolle. – Nachdem er noch einige Zeit in dieser Weise gesprochen und dabei dem Weibe häßliche Namen gegeben hatte, ging er weg. Ich freute mich um Ihretwillen, daß Ihr Vater seine tolle Idee aufgegeben hatte; einige Tage nach diesem Gespräche aber – ich denke, ich soll aus den Wolken fallen – erzählt mir der alte Kirchstuhlschließer Tarns, daß Ihr Vater schon seit acht Tagen mit der Frau verheiratet ist.«

»Und wie ist die Ehe ausgefallen?« fragte ich nach einer Weile des Stillschweigens.

»Na, soviel ich gehört habe,« erwiderte Transom, »hat sich die Frau ziemlich gut benommen, obwohl einmal das Gerede ging, daß sie die Gesellschaft eines Mannes, Namens Lickwater, eines kleinen Schulmeisters, sehr gern habe, und ihn öfter zum Thee lüde, als Ihrem Vater angenehm wäre. Aber,« fuhr er fort, »obgleich Ihr Vater noch öfter zu einem stillen Rauchstündchen hierher kam, hörte ich ihn doch nie über seine Frau klagen, oder Lickwaters Namen nennen, und deshalb glaube ich wirklich, daß er es ganz gut hatte. Freilich, alle seine Freunde haben nie begreifen können, wie ein alter Herr, wie Ihr Vater, solches Gefallen an einer gewöhnlichen, ungebildeten Schneiderin finden konnte.«

Dies war alles, was ich über meinen Vater, seine Verheiratung und seinen Tod erfuhr, und im Grunde genommen ja auch alles, was ich zu wissen nötig hatte.

Mein gutmütiger Freund leitete dann die Unterhaltung auf andere Dinge, und erzählte mir von den Veränderungen, die in Bayport während meiner Abwesenheit stattgefunden hatten. Lischen Harris, ein reizendes, kleines brünettes Mädchen, in die ich einst sterblich verliebt war, hatte den alten Corkendale, den Weinhändler, geheiratet. Frank Hawkins, ein Kassierer an der Bank war mit fünfhundert Pfund durchgebrannt, hatte in der Schweiz versucht, sich den Hals abzuschneiden, und trug jetzt einen geschorenen Kopf in einem Zuchthause. Der junge Dick Swift, eine betrunkene Vogelscheuche, war zu einer Rente von zweitausend Pfund im Jahr gekommen und hatte in eine alte adlige Familie geheiratet. Einer war tot, einer bankrott, einer in Kalifornien, einer lag im Ehescheidungsprozeß etc. Solche Veränderungen binnen zweier kurzer Jahre, es war kaum zu glauben.

Der kleine Jenkinson, das frischeste, heiterste Geschöpf, dem ich eine Lebensdauer von hundert Jahren prophezeit hätte, war an Diphtheritis gestorben; dagegen war der alte Samuel Gorman noch am Leben, welcher zweiundneunzig Jahre zählte, als ich wegging, und dessen Tod schon damals stündlich von den Vätern der Stadt erhofft wurde, weil er auf öffentliche Kosten lebte und ganz allein in einem verfallenen Hause wohnte; man konnte ihm täglich munter und betrunken auf dem Marktplatz begegnen.

Ich erzählte Transom von meinem Empfang im heimatlichen Hause, daß ich von meinem Vater nichts, außer seiner Uhr und Kette geerbt hätte, und infolgedessen gewisse ehrgeizige Hoffnungen, die ich gehegt, mir aus dem Kopf schlagen, oder vorläufig wenigstens wegstauen müsse, da mein gesamter eigener Besitz nur in einer Seekiste, einigen Kleidern und einer Barschaft von acht Pfund vierzehn Schilling bestände.

»Hätte ich meinen Vater am Leben gefunden,« fuhr ich fort, »dann war meine Absicht, drei Monate am Lande zu bleiben, und mich zur Prüfung als zweiter Maat vorzubereiten. Diesen Gedanken muß ich nun fallen lassen; ich kann es nicht erschwingen, am Lande so lange zu leben. Es bleibt mir nichts übrig, als sofort wieder ein Schiff zu suchen. Das ist ein schwerer Entschluß nach achtundzwanzig Monaten Salzwasser, ich sehe aber keinen andern Ausweg vor mir.«

»Dann wollen Sie also wieder als vierter Maat gehn?« sagte Transom.

»Nein, ich werde vor den Mast gehn, als Vollmatrose,« antwortete ich.

»Nachdem Sie Offizier gewesen sind!« schrie Transom.

»Na, ein vierter Maat ist gerade nicht sehr viel von einem Offizier,« bemerkte ich achselzuckend. »Wenn er etwas besonderes ist, so ist er erster Steward für die Mannschaft, wiegt die Vorräte und zapft den Rum ab. Das waren wenigstens bisher meine Geschäfte. Ich will nicht behaupten, daß ich mich vor dem Mast einschiffen, oder überhaupt wieder auf See gehen würde, wenn ich ein Vermögen hätte,« fuhr ich mit düsterem Sarkasmus fort; »aber jetzt bin ich ein Bettler, und habe keine Wahl. Essen und trinken muß der Mensch irgendwo. Am Lande wäre ich vielleicht geeignet, den Posten eines Straßenkehrers auszufüllen, einen anderen zu erlangen, würde ich wohl kaum Aussicht haben, und da gehe ich denn doch noch lieber in das Vorderkastell eines Schiffes.«

»Na, na, es ist doch noch keine solche Eile nötig,« versuchte mich der gute Kerl zu trösten, »warum denn gleich die Büchse ins Korn werfen, vielleicht kann sich doch noch etwas finden.«

»Pah, was sollte das sein?« warf ich, mißmutig und ergrimmt über mein Schicksal, ein; »wenn ich einen Trost habe, so ist es der, daß ich an diesem gesegneten Tage so tief auf den Grund geraten bin, daß ich mir sagen kann: ›Weiter runter kannst du nicht mehr kommen.‹«

Damit sagte ich meinem Freunde ›Gute Nacht!‹ und begab mich auf mein Zimmer.


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