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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Mein Retter.

Von einem Vorfall dieser Art wird auf See nicht viel hergemacht. Das einzige, was der Kapitän darüber bemerkte, war: »In Zukunft sehen Sie sich besser vor, ich habe keine Lust, meine Boote zu riskieren, und da das Tauwerk den Menschen nicht festhält, wie die Leimrute eine Fliege, so fassen Sie ein andermal besser zu.«

Der Maat sagte gar nichts. Wäre ich während seiner Wache über Bord gefallen, so würde er mir wahrscheinlich einen Fluch nachgesandt haben, weil ich ihm die Mühe machte, die Brigg beizudrehen und ein Boot nieder zu lassen.

Solche Art mag manchem unglaublich oder übertrieben erscheinen, aber keiner, der je auf irgend einem englischen Kauffahrteischiff gedient hat, wird die Wahrheit meiner Darstellung bestreiten.

Wenn jedoch der Unfall auch jedem andern ganz gleichgültig war, so war ich davon doch tief ergriffen. Ich hatte mich in der That dem Ertrinken viel näher befunden, als angenommen wurde oder als ich mir selbst gestehen mochte. Ein Schwimmgürtel erhält einen Menschen nicht lange am Leben, wenn die Wogen sich über ihm brechen, und ich bin überzeugt, daß, wenn mich das Boot nicht bald erreicht, ich in den nächsten zehn Minuten meine Rechnung mit dem Leben abgeschlossen hätte. Infolgedessen sah ich so feierlich aus wie ein Geist, und als ich um acht Uhr auf Deck kam, um meine Wache bis um zwölf Uhr anzutreten, war ich in so melancholischer und sentimentaler Stimmung, wie ich mich kaum erinnere je gewesen zu sein.

»Wo würdest du jetzt sein ohne jene Rettungsboje?« dachte ich im stillen und sah auf das dunkle Wasser nieder; »da unten, armer Jack, tief in dem schwarzen grundlosen Wasser würdest du als eine Leiche, als ein blasses Gespenst schaukeln, inmitten von tausend Faden Wasser, gestoßen von den Nasen der Fische, umringt von leuchtenden Augen, die sich grauen vor deiner Häßlichkeit – und um dich her Totenstille, ach Gott, welche Stille! Tief wie jene, welche herrschte, ehe diese Erde aus dem Chaos geschaffen wurde, eine Stille, in die kein Laut des mächtigsten Orkanes dringt, welcher an dem Dach des Hauses, das dich beherbergt, rüttelt und schüttelt, als wollte er es abheben und davonführen.« Es durchschauerte mich. Ich blickte auf zu den Sternen: »Gott sei Dank, daß ich euch noch sehe!« flüsterte ich wie Manfred, nur mit ehrfürchtigerer Dankbarkeit.

Miß Franklin kam aus der Kajüte und schritt direkt auf mich zu. »Ich habe noch nicht Gelegenheit gefunden, Ihnen zu sagen, wie froh ich bin, daß Sie mit dem Leben davongekommen sind. Ich war auf Deck, als Sie über Bord fielen, ich sah sogar gerade nach Ihnen hin, als Sie stürzten. Es war ein furchtbarer, entsetzlicher Moment. Ich zweifle, ob Sie mehr erschrocken sein können als ich, und der Schrei des Mannes am Rade: ›Mann über Bord!‹ ging mir durch Mark und Bein.«

»Ein Seemann hat ein so zähes Leben wie eine Katze, Fräulein.«

»Doch aber immer nur eins. Ich hielt die See zuerst für langweilig, aber ich finde jetzt, daß sie, im Gegenteil zu aufregend ist. Sie müssen wunderbare Nerven und Kraft besitzen, um im stande zu sein, nach solchem Unfall schon wieder Dienst thun und sich unterhalten zu können. Müssen Sie auf Deck sein?«

»Gewiß, ich muß doch meine Wache halten!« erwiderte ich.

»Aber wenn Sie sich noch zu angegriffen dazu fühlen, so will ich es meinem Bruder sagen und darauf bestehen, daß er Ihnen erlaubt, die ganze Nacht in Ihrer Kajüte zu bleiben.«

»Sie sind sehr freundlich und fürsorglich, aber meine Taufe hat mir wirklich nichts geschadet. Ich bin vielleicht etwas ernst gestimmt, aber das ist wohl natürlich nach einem Kampf mit dem Tode. Damit aber gestehe ich Ihnen etwas, was ich niemand anders sagen möchte. Es ist auch ganz richtig: Sentimentalität ist auf See nicht angebracht. Herz und Gefühl härten sich unter den steten Gefahren allmählich ab. Kommt man um, nun, dann ist es eben zu Ende; und ist man mit knapper Not einer Gefahr entgangen, dann ist die Haaresbreite, mit der man ihr entronnen, ebensogut, als wäre sie gar nicht vorhanden gewesen; man wird ausgelacht, wenn man davon spricht.«

»Warum sind die Seeleute so hartherzig?«

»Na, hartherzig sind sie im Grunde nicht. Meist läßt ein falsches Ehrgefühl sie nur Gefühllosigkeit zur Schau tragen. Sie übertreiben eben das, was sie für männlich halten; aber auch der weichmütigste Seemann ist nur ein rauhes Geschöpf und ich wundere mich nicht, daß Damen sie nicht lieben.«

Sie entgegnete hierauf nichts, sondern hielt ihre Augen eine Weile auf das Deck gerichtet; dann sagte sie:

»Ich dachte, das Boot würde Sie nie erreichen. O, wie verzweifelt langsam schien es mir zu sein, als ich ihm nachsah!«

»Ja, ohne die ausgeworfene Rettungsboje wäre ich auch jedenfalls ertrunken.«

»Ich habe sie geworfen!« rief sie, zu mir aufsehend.

»Sie?«

»Ja; sie hing dort am Gitter, wie man es, glaube ich, nennt. Ich machte sie eilig los und warf sie beinahe im selben Augenblick ins Wasser, als ich Sie fallen sah.«

»Dann verdanke ich Ihnen also mein Leben.«

»Mir?« fragte sie mit freudiger Ueberraschung.

»Ganz gewiß, allein Ihnen. Wäre die Boje eine Minute später geworfen, so wäre sie außer meinem Bereich gewesen, ich würde nicht mehr die Kraft gehabt haben, mich gegen die schweren Wogen zu halten und auf sie zuzuschwimmen.«

»Gott sei Dank dann für meine Geistesgegenwart!« sagte sie.

Ich war ergriffen durch den Gedanken, daß ich meine Rettung der Hand verdankte, die ich liebte, der schnellen Entschlossenheit des Mädchens, welches mein Herz erfüllte. Handlungen und Stillschweigen können einen Gedanken ausdrücken und gegenseitiges Verständnis kann durch eine Gebärde, eine Kopfbewegung, einen Blick, kurz, durch die allergeringfügigste momentane Eingebung hervorgerufen werden. So glaube ich, daß ich in diesem Augenblick, ohne meine Lippen zu öffnen, ihr sagte, daß ich sie liebte, und bin überzeugt, daß es dieser Augenblick war, in welchem sie meine Liebe entdeckte. Wie geschah dies? Wie konnte ich davon überzeugt sein? Wie konnte ich ihre Gedanken lesen und sie die meinen, bei keinem helleren Licht als dem schwachen Schimmern der Sterne?

Sie wandte sich ab und blickte über das Geländer auf die See hinab. Ich machte einen Gang um das Deck und begegnete ihr wieder, als ich zurückkam.

»Mr. Chadburn,« sagte sie, »was wird wohl nach Ihrer Meinung das Resultat von Mr. Sloes schlechter Behandlung der Leute sein?«

»Ich werde Ihnen offen antworten: Wenn Mr. Sloe seine Art nicht ändert, werden die Leute meutern.«

»Sie meinen, sie werden sich weigern, zu arbeiten?«

»Nun ja, das ist auch eine Art der Meuterei.«

»Was, fürchten Sie mehr?«

Ich gab keine Antwort. Sie legte ihre Hand auf meinen Arm, wie ein Kind, und zog mich von dem Oberlicht fort.

»Sie erschrecken mich!« rief sie. »Was fürchten Sie eigentlich?«

»Wenn die Leute sich der Gefahr aussetzen, mit dem Galgen Bekanntschaft zu machen, werden sie sich sagen: ›Einerlei, was wir begehen, wenn wir doch dafür gehangen werden.‹«

»Wie könnten sie gewonnen werden?«

»Ich weiß kaum, wie ich Ihnen antworten soll. Unzweifelhaft hat Kapitän Franklin unklug gehandelt, als er den Totschlag des Knaben mit Stillschweigen überging.«

»Das ist es ja, was ich ihm gesagt habe!« rief sie wie atemlos. »Ich sagte ihm: der Maat hat in seiner unmenschlichen Roheit ein Verbrechen begangen, die Leute erwarten, daß du ihn bestrafst; aber er antwortete: was kümmert mich die Behandlung der Leute? Das ist Sloes Sache; er ist der richtige Mann, das Volk in Ordnung zu halten.«

»Sie werden begreifen, Miß Franklin, daß ich Anstand nehme, Ihres Herrn Bruders Ansicht einer Kritik zu unterziehen.«

»Aber warum denn?« unterbrach sie mich. »Sie haben doch das Recht, Ihre Meinung zu sagen. Wir werden uns doch nicht den Mund verbieten lassen.«

»Der Kapitän eines Schiffes kann thun, was er will. Niemand darf seine Autorität antasten.«

»Wollen Sie damit sagen, daß er Knaben töten kann, wenn er Lust dazu hat?« rief sie mit weit geöffneten Augen.

Ich konnte das Lachen nicht unterdrücken, als ich sagte: »Natürlich ist er dem Gesetz am Lande verantwortlich; aber ich wüßte nicht, was ihn auf See hindern könnte, Knaben zu töten, wenn die Mannschaft nicht gegen ihn aufsteht.«

»O, Mr. Chadburn, wie können Sie bei einer so ernsten Sache lachen? Sie sollten meinen Bruder zur Einsicht zu bringen suchen.«

»Wenn ich das versuchte, würde der morgende Tag mich wieder im Vorderkastell sehen, auserwählt für die schwersten und schmutzigsten Geschäfte. Glauben Sie mir, von meiner Seite würden alle Vorstellungen nichts fruchten.«

»Meinen Sie nicht, daß es Ihnen gelingen könnte, die Leute zu bewegen, Mr. Sloe's schlechte Behandlung geduldig zu ertragen, bis sie nach Sydney kommen?«

»Wenn durch ein Wort zur rechten Zeit irgend etwas Gutes erreicht werden kann, so können Sie darauf vertrauen, daß ich dieses Wort sprechen werde,« sagte ich. »Ich wundere mich, daß Kapitän Franklin nicht an die gefährliche Lage denkt, in die er Sie bringt, wenn er seinem Maat gestattet, die Leute in solchem Maße zu erbittern.«

Während ich so sprach, kam er auf Deck. An der Kampanje stehen bleibend und scharf nach uns blickend, schrie er:

»Wer ist das?«

»Sind noch andere Damen an Bord, daß du mich nicht kennst?« antwortete sie verdrießlich.

»Komm in die Kajüte!« rief er zornig.

Sie wünschte mir gute Nacht, und ging, sich Zeit nehmend, nach der Kajütentreppe. Dort hörte ich sie mit einem entrüsteten Schluchzen in der Stimme zu ihm sagen:

»Du sprichst zu mir in einem Ton, als wenn ich einer deiner Leute wäre.«

Sowie sie herunter gegangen war, schritt er auf mich zu und schrie mich zornig an:

»Sind Sie noch nicht lange genug auf See gewesen, um zu wissen, daß Ihnen nicht erlaubt ist, zu schwatzen, wenn Sie im Dienst sind?«

»Miß Franklin beglückwünschte mich zu meiner Errettung.«

»Das entschuldigt Sie gar nicht, ich halte mich an Sie. Die Brigg ist während Ihrer Wache Ihren Händen anvertraut, und ich erwarte, daß Sie für die Folge Ihre Pflichten besser erfüllen. Was sprach meine Schwester außerdem?«

»Nun, da Sie mich fragen, Sir, sie stimmt mit mir überein, daß die Sicherheit der Brigg durch Mr. Sloe's Brutalität gefährdet ist.«

»Was geht das Sie oder meine Schwester an?« donnerte er. »Habe ich Sie von dem Vorderdeck geholt, um meine Angelegenheiten zu diskutieren? Bei Gott, wenn es zu einer Meuterei kommt, werde ich nun wissen, wer sie angezettelt hat. Ihre Schliche, Sir, gefallen mir durchaus nicht. Sie waren damals unter den Leuten, als jener meuterische kleine Hund sein Messer gegen mich zog. Jetzt, nachdem Sie vorn genug geschürt haben, wollen Sie mit Ihren verdammten aufwieglerischen Hetzereien auch noch hier hinten Unheil stiften? Ah, ich durchschaue Sie. Kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen, sondern nur um sich selbst, um Ihren Dienst, und das, was Ihnen befohlen wird. Das rate ich Ihnen. Sollten Sie das nicht thun, so will ich Sie kuranzen, daß Sie die Engel im Himmel pfeifen hören sollen. Ich werde Ihnen zeigen, wer von uns beiden der Stärkere ist. Verstehen Sie mich?«

Während dieses Wortergusses stand er hoch aufgerichtet und in so drohender Haltung vor mir, daß ich mich jeden Augenblick zur Verteidigung bereit hielt. Indes das ganze Geschimpfe war nur Gepolter. Es war nur ein Versuch, mich in Furcht zu versetzen. Ich gönnte ihm den Glauben, daß ihm dies gelungen sei, denn bei dem starken Beweggrund, den ich hatte, hinten zu bleiben, zog ich es vor, kein Wort zu erwidern. Dies genügte ihm offenbar, um überzeugt zu sein, daß er mich vollständig zerschmettert habe. Er ging auf die andere Seite des Decks, steckte sich eine Zigarre an und wandelte dort in einsamer Hoheit, gemessenen Schrittes und hochgetragenen Hauptes bis halb zwölf auf und nieder.


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