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Dreiunddreißigstes Kapitel.
Kap Horn.

Einige Tage mußten wir schwer gegen einen widrigen Wind ankämpfen, welcher aus Westen wehte, darauf sprang derselbe aber wieder nach der früheren Seite herum. Wir schüttelten die Reffs aus und setzten alle Segel, die die Brigg tragen konnte. Unser gekupferter Kiel durchschnitt die großen grünen Wogen, daß wir wie ein hüpfender Gummiball über dieselben weg flogen.

Die Kälte in den Nächten war jetzt sehr empfindlich und selbst am Tage bitter genug. Der Schnee fiel in großen Massen auf unsere Decks und wenn man Eisen berührte, war es, als hätte man sich die Haut verbrannt. Das Takelwerk war vom Frost so hart wie Stahl, die einzelnen Windungen des aufgerollten Tauwerks waren zusammengefroren und mußten scharf auf das Deck geworfen werden, um auseinander zu brechen.

So aufgeräumt die Stimmung der Leute vorher auch gewesen war, jetzt befanden wir uns nicht in Breiten, wo die Fröhlichkeit gedieh. Die Kälte betäubte alle seelischen Empfindungen, wie sie ihre Finger erstarren machte. Sie fluchten über den Mangel an Rum und schafften sich einen Ersatz in heißem Kaffee, d. h. nur, wenn das Wetter es erlaubte; denn oft konnte mehrere Tage hinter einander kein Feuer in der Küche angezündet werden.

In dieser Weise näherten wir uns dem Kap Horn.

Wenn ich auch große Aufmerksamkeit auf die Berechnung unserer Lage nach dem Loggbuch verwandte, so hatte ich doch auch das Glück, häufig astronomische Beobachtungen machen zu können. Die Instrumente in der Kajüte waren herrliche Muster der Mechanik und die Karten ganz neu. In der That, der Bau und die ganze Ausrüstung dieser Brigg würden den kritischsten Anforderungen genügt haben.

Je länger ich sie befehligte, je mehr lernte ich ihre vielen herrlichen Eigenschaften kennen und sie lieben. Der Gedanke, sie den Leuten zu entreißen und sie zurück zu führen in die Heimat, – mit der Geliebten an Bord und der unbeschädigten Ladung im Raum – bemächtigte sich meiner wie eine fixe Idee.

Hier lag ein schönes Stück Ozean-Romantik vor mir, wenn auch vorläufig noch im dichten Nebel unbestimmter Hoffnungen und Träume; denn alles hing von glücklichen Umständen ab.

Eines Nachmittags geschah etwas, was meine im letzten Kapitel ausgesprochene Vermutung in Bezug auf Deacons Geisteszustand bestätigte und geeignet war, der ganzen abenteuerlichen Fahrt, welche die Mannschaft in ihrem Wahnsinn unternommen hatte, eine Ernüchterung zu bringen.

Bis zu diesem Tage war uns noch kein Eis in Sicht gekommen. Wir waren jetzt in der Breite 57° 30'. Seit der letzten Woche hatte ich ein paar Mann Tag und Nacht auf dem Ausguck postiert, und ich selbst und Banyard hielten scharfe Wacht. Um Mittag blies es stark aus Süd-Süd-West; ich ließ die Brigg dicht beim Winde unter doppelt gerefftem Topsegel laufen, denn ich wünschte nicht nach Norden zu steuern, um den auf unserm Lee-Bug liegenden, mit Eis umgürteten, zerklüfteten Felsen des Kap Horn nicht zu nahe zu kommen. Es war sehr schwerer Seegang und der ganze Ozean rings umher bot einen unbeschreiblich düsteren, wilden Anblick. Die zerrissenen Wolken jagten wie Rauch an dem bleigrauen Himmel dahin. Ein einziger Albatros wiegte sich auf den schäumenden, hochgehenden Wogen unsres Kielwassers und ununterbrochen brachen sich die Wellenberge an den Backen der Brigg, ihren Gischt bis zur Höhe der Fock-Raaen spritzend und donnernd auf die hohlen Decks niederstürzend.

Plötzlich ließ der Wind nach, wir schlingerten fürchterlich, der Himmel klärte sich auf, die winterliche Sonne brach hervor und funkelte auf den nassen Planken. Was hatte dies zu bedeuten? Ich sah besorgt umher, aber der Horizont war klar. Das Rollen und Stampfen war entsetzlich. Ich rief die Wache und holte alles fest an, aber in jedem Augenblick erwartete ich die Oberbram-Stengen abbrechen zu sehen. Jetzt konnte es sich rächen, daß ich aus Abneigung, den Leuten eine Arbeit zuzumuten, der sie sich vielleicht widersetzt hätten, nicht schon vor einer Woche die Oberbram-Raaen hatte herunternehmen lassen.

Eine halbe Stunde, nachdem der Wind sich gelegt hatte, zeigte sich eine schwarze Wolke im Südosten. Ich beobachtete sie einige Augenblicke und bemerkte, daß sie rasch höher stieg und an Ausdehnung schnell gewann; es sah aus, als erhebe sich die Nacht selbst aus dem Meere, um sich auf die Brigg herabzusenken.

Ich ließ alle Mann auf Deck rufen, um Brassen und Schoten zu bemannen, und kaum war dies geschehen, als uns das Wetter auch schon faßte und ein Hagel niederprasselte, der uns den Atem raubte und uns beinahe betäubte. Keiner war im stande, die Augen zu öffnen; alles, was wir thun konnten, war, uns aufrecht zu halten. Auf den Oelmänteln und Südwestern der Leute am Rade rasselte es, als ob ununterbrochen Kugeln in eine Zinnpfanne geschüttet würden. Dunkle Nacht umgab uns, und der Orkan auf der Backbordseite trieb die Brigg wie ein Gespensterschiff durch einen Nebel von Gischt, Hagel, Schnee und Regen.

Das war das echte, rechte Kap Horn-Wetter; die Thränen, welche die Kälte unseren Augen erpreßte, froren an unseren Lidern, und der Schmerz in den Fingern war so heftig, daß man hätte schreien mögen.

Als wenn die Dunkelheit, welche der Wolkenmantel verursachte, noch nicht unheimlich genug wäre, begann jetzt der Schnee den Hagel zu vertreiben und fiel in solchen Massen, daß die beiden Ausguck-Leute auf dem Vorderdeck vom Rade aus nicht sichtbar waren.

Nichts konnte wunderbarer sein als der Anblick des Schnees, welchen der Sturm um uns herumwirbelte. Es war, als flögen wir durch ein Meer von Dampf oder durch das Staubwasser eines mächtigen Wasserfalles, welches die ganze Atmosphäre erfüllte.

Die beiden großen Segel standen noch doppelt gerefft; unter ihnen jagte die Brigg durch und über die schrecklichen Wogen gleich dem Albatros, welcher uns noch immer im Kielwasser folgte.

Ich schickte die Leute nach unten, befahl ihnen aber, sich bereit zu halten für eine Aenderung des Windes oder das Beidrehen der Brigg; den beiden Ausguck-Leuten auf dem Vorderdeck schärfte ich aufs neue große Aufmerksamkeit ein.

Nach einem Weilchen wurde der Schneefall schwächer und die See öffnete sich um uns her, aber nicht weiter als auf wenige Schiffslängen.

Da, auf einmal, erklang von dem Vorderdeck ein lauter Schreckensruf:

»Rauder hart up, üm Gotteswillen afhollen! Isbarg grad vorwärts!«

Ich hielt mich nicht damit auf, hinzusehen, meine Nase hatte mir schon genug gesagt, denn sie war gut, ich konnte das Eis deutlich riechen.

»Scharf Steuerbord halten!« schrie ich, was ich konnte, während ich mit ein paar Sätzen nach dem Rade sprang. Wie von einer Maschine getrieben, flog das Rad herum, und keine Sekunde zu früh, denn auf dem Backbord-Bug trat aus dem dichten Schneevorhang ein Eisberg hervor, dessen Umfang uns bei der nebelhaften Atmosphäre so groß wie eine Kathedrale erschien.

Ohne Uebertreibung, es war ein Koloß mit hochragenden Spitzen, die sich im Nebel verbargen, und ungeheuren, schneebedeckten Zacken und Klüften. Die wildbewegten Wogen, welche sich an seinen Seiten brachen, rissen ein mächtiges Stück Eis ab, das mit donnerndem Getöse in die See stürzte und eine feste Säule von Schaum, so hoch wie unsere Fockstange, in die Luft schleuderte. Das ganze Ungetüm schwankte von der Bewegung der Wogen, und keine Minute ging vorüber, ohne daß sich Teile davon loslösten. Fortwährend hörte man das Krachen und Knacken, als ob es in tausend Stücke zersplittern wolle. Das Gebrüll der tobenden See an seinem Fuße und die Menge Schaums, die an ihm emporgeschleudert wurde, verliehen dem Gesamtbilde eine so furchtbare Erhabenheit, daß Auge und Ohr von bewunderndem Grauen ergriffen war.

Als wir vorbeisegelten, donnerte das Treibeis, welches aus den losgebrochenen Stücken bestand und in der Nachbarschaft umherschwamm, gegen die Backen und Seiten der Brigg, und ein Stück, welches wir übersegelten, war von solcher Größe, daß der Stoß die ganze Brigg erzittern machte und alle Mann aus dem Vorderkastell heraufbrachte.

Kaum waren wir dieser schrecklichen Gefahr entgangen, als aufs neue der Ruf ertönte: »Eis dicht voraus!«

Wenn ich je Besonnenheit nötig gehabt hatte, so bedurfte ich sie jetzt; und doch war es an der gefahrvollen Lage, in der wir uns zur Zeit befanden, nicht genug; meine Geistesgegenwart sollte noch auf eine stärkere Probe gestellt werden. Kaum hatte der Ruf des Ausgucks mein Ohr erreicht, als plötzlich am Rade der Schrei ertönte: »Da ist die Insel! Da ist die Insel!« Gleichzeitig lief ein Mann über das Deck und sprang in das Takelwerk des Hauptmastes. Es war Deacon.

Das Ruder befand sich hart übergelegt, und um es in dieser Lage zu erhalten, war die volle Kraft von zwei Männern erforderlich. Als daher Deacon es plötzlich losließ und fortstürzte, schnellte es herum und schleuderte den anderen Mann, noch ehe ich zuspringen konnte, so heftig gegen die Schanzkleidung, daß er blutend und bewußtlos liegen blieb.

Ehe sich das Rad zum zweitenmale drehen konnte, hatte ich es aber gepackt, einige Leute eilten herbei, und schnell wurde das Steuer wieder übergelegt.

So gelang es uns noch glücklich, auch dem zweiten Eisberg auszuweichen, obwohl die Brigg in dem einen Moment ihrer Steuerlosigkeit auf ihrem Kiel herumgeflogen war und ihre Richtung verloren hatte. Die Segel schlugen donnernd gegen die Masten und das Schiff schlingerte so entsetzlich, daß jede der riesigen Wogen, welche es traf, es zu begraben drohte.

»Backbord, das Ruder!« schrie ich. »Fockschoten los! Luvbrassen stramm holen!«

Unsere Lage war in der That eine höchst kritische, und jedermann an Bord begriff das. Zum Glück war leewärts kein weiteres Eis mehr zu entdecken, und die beiden großen Berge befanden sich jetzt schon eine Strecke windwärts. Die ungeheure Gefahr, die uns während des Manövers, die Brigg wieder in den Wind zu bringen, bedrohte, bestand darin, daß sie dabei von den Wogen überwältigt werden konnte. Aber die ›Kleine Lulu‹ hielt sich wacker; wie ein Kork schwamm sie auf den Wellen und, dem Druck des Focksegels folgend, fiel sie ab und füllte wieder ihre Segel.

Das Wetter hellte sich jetzt soweit auf, daß wir die beiden Eisberge windwärts durch den Nebel schimmern sehen konnten. Auf allen anderen Seiten war die See klar. Es konnte nun keine Gefahr haben, wenn wir unsern alten Kurs wieder aufnahmen, so lange wir noch ein paar Meilen vor uns sehen konnten; deshalb braßten wir die Raaen aufs neue um, und nach wenigen Minuten hatten wir die Eisberge, welche gedroht hatten, uns zu zermalmen, aus dem Gesicht verloren.

Inzwischen war Deacon, nachdem er sich im Takelwerk des Hauptmastes heiser geschrieen hatte, heruntergekommen und hatte sich mit verschränkten Armen an eine Pumpe gestellt, wo er stieren Blickes auf das Deck sah. Der Mann, welcher durch den Stoß des Ruders die Besinnung verloren hatte, war zu sich gekommen und nach hinten geführt worden.

Ich ging zu Deacon und fragte ihn, was ihm eingefallen wäre, daß er das Rad verlassen hätte. »Du schlechter Kerl,« schalt ich in meinem Zorn, »weißt du, daß die Brigg durch deinen verrückten Streich aufs Haar verloren war?«

Einige Leute, welche mich schreien hörten, kamen heran.

Deacon sah empor. Seine Augen hatten einen ganz wirren, unstäten Blick und sein Gesicht sah leichenhaft aus. Er gab keine Antwort, war wie gebrochen und schien so hilflos, furchtsam und niedergeschlagen, daß ich, trotz meiner Wut, ein Gefühl des Mitleids mit ihm nicht unterdrücken konnte.

»Di het jo woll de Düwel plagt, dat du von dat Rad fortlopen büst, du Däskopp?« rief der Schöne mit rauher Stimme. »Du büst mi de Recht, den Maat tau speelen. Dat Rad los tau laten un dorvon tau lopen, was grad so slicht, as wenn du häddst Jimmy murden wulln.«

»Nich blot de Mürder von Jimmy kunnst du warden, uns all kunnst du ümbringen!« schrie Sam. »Wenn wi de Brigg nich vom tweiten Isbarg na windwärts bröcht hädden, wo würd wi all nau sien?«

Ein plötzlicher Blick des Wahnsinns, unverkennbar sogar mir, der ich doch nur wenig von dieser Krankheit verstand, flackerte in Deacons Augen auf, als er sie scheu umherschweifen ließ. Er preßte seine Lippen fest zusammen, verschränkte die Arme und äußerte kein Wort.

»Laßt ihn vorläufig!« sagte ich. »Geht nach vorn, Jungens, und trinkt euren Thee. Wenn das Wetter wieder so dick wird, werde ich heute abend beidrehen.«

»Wi wull'n em bald dat Reden lihren,« hörte ich den Schönen sagen, als ich wegging. Zurückblickend bemerkte ich, daß sie ihn an den Armen gepackt hatten und ihn, scheinbar ohne Widerstand von seiner Seite, nach dem Vorderkastell schleppten.


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