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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Mord.

Ich konnte über Deacons Geschichte nicht mit mir einig werden. Es ist manchmal, als hätte der Mensch zwei Willen, die in ihm kämpfen, der eine sagt ›ja‹, der andere ›nein‹. Ich glaubte ihm, denn seine Erzählung klang wahrscheinlich und hatte eine wesentliche Bestätigung ihrer Wahrheit in dem Zeitungsartikel; außerdem aber konnte er keinen Beweggrund haben, eine derartige Geschichte zu erfinden. Ich mißtraute ihm aber zugleich, da ich nicht ganz klar über seinen Charakter war und das, was ich von diesem wußte, mir nicht gefiel.

Ein weniger rechtschaffen denkender Mann in meiner Lage, der, wie ich, viel gewinnen, aber nichts verlieren konnte, würde die Sache überlegt, Deacon genau ausgeforscht, die Angelegenheit als Spekulation betrachtet und Pläne zur Auffindung der Insel geschmiedet haben, gleichviel welcher Art dieselben gewesen wären. Leichtsinnig und sorglos, wie der Seemann ja sprichwörtlich ist, würde er sich dabei nur gesagt haben: ist das Gold da, dann bin ich ein reicher Mann, ist es nicht da, dann ist eben auch nichts verloren. Bei mir lag die Sache anders: teils hatte ich Deacon nicht gern, teils waren meine Gedanken anderweit gefesselt, und schließlich konnte ich mich auch, ohne einen bestimmten Grund dafür zu haben, doch eines instinktiven gelinden Zweifels an der ganzen wunderbaren Geschichte nicht erwehren. Ich schenkte ihr deshalb keine weitere Aufmerksamkeit. Vielleicht würde es anders gewesen sein, wenn ich im Vorderkastell und in derselben Wache mit Deacon geblieben wäre.

Vierzehn Tage nach dem Passieren der Linie hatten wir zwei Erlebnisse, welche beide geeignet sind, das Leben auf See zu illustrieren.

Eines Tages wurde ein Schiffsjunge, ein blasser, zart aussehender Bursche, aber wegen seiner Dienstfertigkeit und Munterkeit ein Liebling der Mannschaft, vom alten Windwärts gerufen, um einige Fettflecke aus dem Deck zu schaben, die sich beim Hauptmaste befanden.

Es war kurz vor Mittag und ich war auf diese Zeit auf Deck, um Beobachtungen für unsere Gradmessungen zu machen. Der Kapitän hatte entdeckt, daß ich mit Navigations-Berechnungen gut Bescheid wußte und hatte mich daher beauftragt, ihn stets bei Mittagshöhe der Sonne mit meinem Sextanten zu erwarten.

Der Junge, welcher auf den Knieen lag und schabte so gut er konnte, wurde vom Maat gescholten, daß er das Deck beschädige. Er antwortete, die Flecke gingen sehr tief, und er müsse scharf kratzen, um sie herauszubringen.

»Ich sage dir, daß du das Deck beschädigst; ich will dich prügeln, du Kröte, daß du am Leben verzagen sollst, wenn du frech bist.«

»Aewer seihn Se sülwst, Sir, dat Deck is hart un ik kann de Flägg nich rute kregen, ahn scharp tau schaben.«

»Was, du willst dich verantworten, du Lümmel, du!« brüllte der Maat, an ihn herantretend. »Du hast wohl den meuterischen Hunden vorn was abgelernt?«

Dabei schlug er mit der geballten Faust den Jungen an den Kopf, daß er umfiel wie ein Klumpen Blei und ihm gleich das Blut aus Nase, Mund und Ohren lief.

Es waren gerade Leute in der Mitte der Brigg an einem Segel beschäftigt, als der Junge den Schlag erhielt und zusammenbrach; sie blickten wild herüber und ließen ein Murren hören.

Der Maat sah sich nach ihnen um und, bei dem Jungen stehen bleibend, befahl er ihm, sich aufzurichten und mit seiner Arbeit fortzufahren.

»Keine Verstellung! Auf mit dir!« schrie er, »ich kenne deine Kniffe. Auf deine Kniee und wieder angefangen, oder ich werde dich an den Fersen aufhängen mit dem Kopf nach unten, und dann magst du so schaben.« Damit gab er dem armen kleinen Kerl noch einen Fußtritt.

Dies war mehr, als Fleisch und Blut ertragen konnten.

»Fort mit Ihrem Fuß!« schrie ich. »Sehen Sie nicht, daß der Knabe bewußtlos ist?«

»Mit wem sprechen Sie?« donnerte er mich an, während Wut und Mord aus seinen Augen sprühten.

Der Kapitän stand gleichgültig mit dem Sextanten in der Hand dabei.

»Sie haben den Knaben so geschlagen, daß er die Besinnung verloren hat,« sagte ich; »und ihn jetzt noch mit dem Fuß zu stoßen, ist eine wahre Bestialität.«

»Ueber Bord sollst du fliegen, du Knote!« brüllte der Maat, sich wie ein Rasender geberdend. »Ich werde dir die Knochen im Leibe zerbrechen, du Landtölpel du!«

Ich legte den Sextanten eilig nieder und zog den Rock ab.

»Wenn Sie bis auf eine Elle herankommen, so schlage ich Sie kurz und klein,« sagte ich.

Die Leute hatten inzwischen sowohl das Segel wie ihre Arbeit auf dem Vorderdeck verlassen und sammelten sich hinten.

»Kapitän Franklin,« kreischte der Maat, schäumend vor Wut, »befehlen Sie, daß er in Eisen gelegt wird, sehen Sie nicht, was seine Absicht ist? Wenn Sie das durchgehen lassen, wird die Brigg genommen werden. Dieser verfluchte Hund ist der Rädelsführer!«

Ich hatte mich fest auf meine Beine gestellt, ihn zu empfangen, und meine Faust war bereit, auf sein Gesicht niederzuschmettern, aber der Schurke, welcher einen Knaben schlagen konnte, hatte nicht den Mut, mit mir anzubinden.

»Ziehen Sie Ihren Rock an und nehmen Sie Ihren Sextanten auf,« sagte der Kapitän barsch zu mir, zu Mr. Sloe aber: »ich wünsche Ruhe, alles übrige wird sich finden«, und zu den Leuten: »Was wollt ihr hier? Fort an eure Arbeit! Tragt den Jungen in seine Hängematte, ein Scheuerbesen hierher!«

Ich gehorchte den Befehlen des Kapitäns und der Maat ging sogleich nach hinten. Kaum war der noch immer bewußtlose Knabe nach vorn gebracht, als Miß Franklin auf Deck kam. Als sie das Blut erblickte, stutzte sie, sah mit entsetzten, weit aufgerissenen Augen darauf hin, dann nach mir, dann rückwärts nach dem Maat, und lief dann zu ihrem Bruder. Nach kurzem Geflüster mit diesem kehrte sie in die Kajüte zurück.

Ich hatte das Gefühl, daß das Drängen der Leute nach hinten und die Erinnerung an die Scene, wo der Maat von ihnen niedergeschlagen worden war, mich gerettet hatte. Vielleicht war es auch ein plötzlicher Widerwille gegen die viehische Roheit des Maats, und Furcht vor den Folgen des dem Knaben erteilten Schlages, was den Schiffer zur Unthätigkeit veranlaßt hatte. Gewiß ist, daß, wenn der eben berichtete Vorfall vor der ersten Auflehnung der Mannschaft stattgefunden hätte, sich Kapitän und Maat einmütig auf mich gestürzt haben würden; ich würde mit Eisen an den Beinen bei Wasser und Zwieback eingesperrt und schließlich in Sydney unter Anklage der Meuterei vor Gericht gestellt worden sein.

Der schwerste Schlag für den Maat war, daß der Kapitän stillschweigend meine Partei genommen hatte. Er sagte später nichts zu mir über meine Einmischung; aber die finsteren, haßerfüllten Blicke, die er mir zuwarf, verrieten mir, daß er auf Rache sann. Sein Benehmen veranlaßte mich zur Wachsamkeit gegen einen hinterlistigen Angriff seinerseits.

Ich hatte an diesem Tage während der ersten Hundswache den Dienst auf Deck und nach der ersten Viertelstunde bemerkte ich gerade vor uns Rauch am Horizont. Ein frischer Seitenwind jagte diesen den Klüsen gegenüber die See entlang. Ich dachte, daß es ein heimfahrender Dampfer sei und daß wir einander bald begegnen würden. Unter dieser Annahme ging ich nach hinten, um zu sehen, ob auch die Signal-Leinen klar und die Signale im Flaggen-Kasten zur Hand wären.

Einem nach der Heimat steuernden Schiff zu begegnen, ist auf See immer ein bemerkenswertes Ereignis für ein nach auswärts segelndes Fahrzeug. Man denkt daran, daß der Fremde unsern Lieben in der Heimat Nachricht von unserm Wohlbefinden bringen wird. Ich lächelte traurig über meine Eile, nach hinten zu laufen, um alles klar zum Signalisieren zu machen. Niemand wartete daheim auf Kunde von mir. Es gab auch kein einziges Augenpaar in ganz England, das um meinetwillen freudig aufgeleuchtet hätte bei der Nachricht, daß die ›kleine Lulu‹ in dem und dem Breitengrad gesehen worden und an Bord alles wohl war.

Ich hielt das Glas unausgesetzt auf die Stelle gerichtet, wo der Rauch seinen Herd hatte, vermochte aber weder Schornstein noch Spieren zu entdecken; ich begann deshalb zu glauben, daß es ein denselben Kurs mit uns steuerndes Dampfschiff von sehr geringer Fahrt sei, dem wir uns allmählich näherten. Nach einer Weile brachte mich die zunehmende Dicke der horizontalen Rauchsäule auf einen neuen Gedanken.

»Es sieht wie ein brennendes Schiff aus, Sir,« sagte ich zu dem Kapitän, welcher auf Deck gekommen war und sich über die Verschanzung lehnend den Rauch ebenfalls betrachtete.

»Was sollte es denn anders sein?« erwiderte er schroff ohne nach mir hinzusehen. Dies war so dann und wann sein Benehmen gegen mich seit dem Streit mit dem Maat.

Es ging eine ganze Stunde hin, ehe der Rumpf des brennenden Schiffes in das Gesichtsfeld des Glases trat. So gut ich zu erkennen vermochte, war es, nach dem Schnitt seiner Backen zu urteilen, ein großes nordamerikanisches Schiff. Es sah aus wie eine kleine vulkanische Insel. Der Rauch stieg schwarz wie Tinte in dichten Massen empor und zog am Horizont entlang wie der Schatten einer Küste. Ich ließ mein Auge über das Wasser schweifen, um zu sehen, wo seine Boote wären; aber nicht das kleinste Fleckchen war sichtbar. Einerseits um den Rauch zu vermeiden, andererseits um einen deutlicheren Anblick des Schiffes zu erhalten, brachten wir dasselbe durch eine Drehung des Rades um eine oder zwei Speichen auf unsern Lee-Bug.

Alle Leute kamen an die Schanzkleidung, um es zu betrachten; sie bildeten mit ihrer bewegungslosen Haltung, ihren ernst dreinschauenden, bärtigen Gesichtern und ihrem leisen Geflüster die passendsten Zuschauer für das ebenso erhabene als furchtbare Schauspiel. Die Sonne lag schon fast auf dem Spiegel der See, als wir das Schiff längsseit bekamen; wir braßten in den Wind und drehten bei. Miß Franklin kam herauf, trat zu mir und fragte mich ängstlich, ob ich glaubte, daß noch jemand an Bord des Schiffes sei. Ich antwortete ihr, daß ich das für unmöglich hielte; denn kein lebendes Wesen könne in solchem Rauch existieren. Die Boote wären fort, aller Wahrscheinlichkeit nach wäre also die gesamte Bemannung schon lange abgesegelt.

Die untergehende Sonne warf ihre letzten Strahlen auf den dichten Rauch und färbte ihn mit einem schmutzigen Rot. Ich dachte, der Pfuhl der Hölle könne keinen erstickenderen, entsetzlicheren Qualm ausspeien. Obgleich wir uns noch eine gute Meile leewärts vom Schiffe befanden, war das Krachen seiner Spieren, das Zischen der glühenden Segel, der Raaen und des Tauwerks beim Niederfallen ins Wasser unserm Ohr deutlich vernehmbar. Manchmal wurde der Rauch dünner und die Flammen züngelten zum Himmel empor. Wenn diese zusammensanken, quoll der Rauch wieder mit neuer Gewalt hervor, nicht in Säulengestalt, sondern in einer Reihenfolge wolkenförmiger Massen. Es war ein tief ergreifender Anblick; denn für das Auge eines Seemanns liegt etwas Menschliches in der Hilflosigkeit eines Schiffes, welches langsam von der mörderischen, rasenden Bestie – Feuer – verzehrt wird.

Die Sonne ging unter und die Dunkelheit brach schnell herein; aber meilenweit war das Meer erleuchtet durch die ungeheure Fackel, welche infolge der Spiegelung im Wasser doppelt groß erschien. Der Kapitän war jedenfalls von dem Anblick ebenso benommen wie wir andern; denn kein Ton entschlüpfte ihm. Bis neun Uhr wüteten die Flammen, dann fingen sie an in sich zusammenzufallen, und wir glaubten das Schiff würde nun sinken, als es plötzlich in die Luft flog. Es sah aus, als würde es empor gehoben und das Meer speie die ganze Feuermasse auf einmal in die Höhe; mittägliche Helle herrschte weit und breit; hoch in der Luft wirbelten die Funken und leuchteten die Bruchstücke des Wracks wie riesige Kerzen in den Händen wild durcheinander tanzender Geister. Dann, rasch zurückfallend aus den Lüften, versank es im Wasser und wie eine Vision war das glänzende Schauspiel verschwunden. Finster und leer lag wiederum die weite See, nur im Zenit flackerten die Sterne.

»Alle Wetter! muß da ein Haufen Schießpulver drin gewesen sein!« hörte ich den Maat zum Kapitän sagen. Darauf wurden die Rasen umgebraßt und die Brigg steuerte wieder ihren Kurs.

Miß Franklin blieb noch auf dem Deck, nachdem der Kapitän und der Maat nach unten gegangen waren, der erstere zu seinem Grog und der letztere, um zu schlafen, ehe er mich um Mitternacht abzulösen hatte. Sie starrte lange in das schwarze Wasser, als ob sie noch nicht die traurige Größe und das malerische Schrecknis der eben geschauten Scene los werden könnte. Dann sah sie umher, bemerkte, daß ihr Bruder nicht mehr da war, und wollte ihm folgen, als ihr Auge auf mich fiel.

»Ich hätte nie gedacht,« sprach sie mit leiser Stimme und erschüttertem Ausdruck, »wenn ich Erzählungen von brennenden Schiffen las, daß ich einmal die Wirklichkeit sehen würde. Wie furchtbar ist der Gedanke, daß noch vor wenigen Stunden das Schiff mit starken Masten über den Ozean segelte, daß Menschen darauf lebten, die vielleicht leichten Herzens zu ihrer Arbeit sangen und an die Heimat dachten, welche sie verlassen hatten oder nach der sie zurückkehrten. Wo ist es jetzt? O, solch plötzliche Vernichtung ist doch schrecklich! Sind Sie überzeugt davon, daß niemand an Bord zurückgeblieben ist?«

Ihre Stimme klang hierbei so rührend wie die eines vor Furcht zitternden Kindes.

»Wie ich schon sagte, es läßt sich nichts anderes annehmen, da die Boote fort sind.«

»Wohin mögen sie gesegelt sein?«

»Wahrscheinlich auf gut Glück mit dem Winde.«

»Wann, denken Sie, könnten sie wohl Land erreichen?«

Ich starrte sie an.

»Das nächste Land ist die Küste von Südamerika, viele hundert Meilen von hier. Land zu erreichen, daran werden sie nicht denken. Ihr Plan wird sein, in einen gut befahrenen Seeweg zu gelangen und von irgend einem Schiff aufgenommen zu werden.«

Sie blickte wieder träumerisch auf das schwarze, bewegte Wasser und hüllte sich schaudernd fest in ihren Shawl. Mit einem matten ›Gute Nacht!‹ ging sie darauf in die Kajüte. Kaum war sie fort, als Pendel-Banyard, welcher noch immer seine Hängematte im Deckhaus hatte, in seiner langsamen Weise das Deck entlang kam und sagte:

»De lütt Joey schient mi jo woll gor nich mihr bi sik, de Schipper süllt nah em seihn. Dat het ganz allein wedder Windwärts' Fust anricht.«

Ich ging nach vorn, gefolgt von Banyard, und steckte meinen Kopf in das Deckhaus. Die Thür lief in einem Falz und war so weit zurückgeschoben, als es sich thun ließ. Eine Hängelampe erleuchtete den Raum. Die Kisten der Bewohner des Hauses waren unter den Hängematten auf der Seite nach dem Hinterschiff zu verstaut und auf ihnen saß der Koch und der Schiffsjunge, welcher Hardy hieß. In der Hängematte, am äußersten Ende des Hauses, dicht neben der Küche und am weitesten von der Thür, lag der Schiffsjunge, welchen wir unter uns Jung-Joey nannten, jenes Kerlchen, welches Windwärts an diesem Morgen auf den Kopf geschlagen hatte. Man konnte ihn nicht sehen, denn er lag tief in seiner Hängematte, aber man konnte ihn hören. Sein qualvolles Stöhnen, sein leises bewußtloses Wimmern drang zu mir.

»'s kümmt mi verfluchten sur an, de ganze Nacht üm de Uhr'n slahn tau müssen, äwer wer kann slapen bi so'n hellschen Röcheln. De Jung süllt nach achter bröcht warden. Mi dücht, de, de dat Unglück anricht hebben, süllten ok de Plag' dorvon dragen.«

»Vor allen Dingen müssen wir ihn da herunter nehmen,« sagte ich. »Die Hitze ist ja erstickend und da habt Ihr ihn auch noch dicht neben die heiße Küche aufgeschlungen und so weit als möglich von dem bischen Luft, das durch die Thür eindringt, abgeschlossen. Helft mir, ihn herabzuholen.«

Um dies zu thun, war es nötig, die Taue der Hängematte von den Bolzen an der Decke loszuschneiden. Nachdem wir dies gethan, ließen wir ihn, so wie er lag, herunter und legten seine Matte neben die Kisten nieder. Ein trauriger Anblick bot sich uns nun dar. Man hatte den Jungen in seine Hängematte gelegt, angekleidet, wie er vom Deck getragen wurde. Hosen und Hemd waren mit Blut befleckt, ebenso das grobe Kissen, worauf sein Kopf lag. Dies war ein Zeichen, daß er aufs neue Blut verloren hatte, nachdem er hierher gebracht worden war. Auch jetzt blutete er aus dem Ohr und roter Schaum stand auf seinen Lippen. Sein Gesicht war totenbleich und sein blondes Haar blutbefleckt. Er ächzte und schwatzte unaufhörlich, aber seine Worte waren gänzlich unverständlich.

Ich wies Banyard an, ihm die Lippen abzuwischen und dieselben mit Wasser zu benetzen; dann eilte ich nach hinten, um dem Kapitän Bericht zu erstatten. Er saß unter dem offenen Oberlicht und ich rief hinein: »Ich glaube, Joey, der Schiffsjunge, liegt im Sterben; es würde wohl gut sein, wenn Sie sich ihn einmal ansehen möchten.«

»Wer?« rief er, in die Höhe sehend.

»Der Knabe, den Mr. Sloe diesen Morgen geschlagen hat.«

Augenblicklich sprang er auf und kam auf Deck.

»Wo ist er?«

»Im Deckhaus.«

Er ging eilig dorthin und ich folgte ihm. Ich beobachtete ihn, als er den Knaben anblickte und bemerkte, daß er blaß wurde wie ein Bettlaken.

»Was fehlt dir? Hast du Schmerzen? Wo thut es denn weh?« rief er mit der schüchternen Art eines Mannes, der nicht gewohnt ist, freundliche Worte zu sprechen.

Der Junge murmelte und wimmerte, und rollte das Weiße seiner Augen. Obgleich Banyard ihm die Lippen abgewischt hatte, war ihm doch wieder Schaum vor den Mund getreten, noch blutiger als zuvor, und auch der Fleck auf seinem Kopfkissen war jetzt fast schwarz.

»Wenn de Schipper den Maat nich glik in Isen leggt un uns versprökt, em uphängen tau laten, bei – – so wull'n wi dat besorgen,« grollte eine tiefe Stimme hinter mir.

Ich blickte zurück und sah drei Leute durch die Thür gucken, welche zu meiner Wache gehörten.

Der Schiffer wandte den Kopf nicht um.

»Würde nicht etwas Branntwein ihn beleben, was meinen Sie, Chadburn?« fragte er. »Gehen Sie rasch und holen Sie welchen. Geben Sie mir das Tuch«; er nahm es Banyard ab und wischte dem Jungen den Schweiß von der Stirn, während ich nach hinten eilte.

Miß Franklin stand am Tisch, als ich die Kajüte betrat.

»Was giebt es?« rief sie.

»Der Junge, welchen Mr. Sloe diesen Morgen schlug, liegt im Sterben.«

»Im Sterben?« rief sie, mit einem Blick unbeschreiblichen Entsetzens.

Ich lief mit dem Branntwein ins Deckhaus zurück. Der Kapitän füllte ein Glas und hielt es dem Knaben an die Lippen. Dabei zitterte seine Hand derart, daß er dem Burschen einen Teil des Inhalts über den Hals goß.

»'s is hart för en Jungen, ümbröcht tau warden, wil hei sien Arbeit dahn het, so gaud as hei künt,« sagte der Schiffsjunge, Namens Hardy. »Hei vertellte mi, sien Modder wier starben, eine Woche eh hei sik inschippt hädd, hei was dadörch weikmäudig worn, un ik hürt em irst gistern abend tau ehr beden. Hei was en gauten Maat, hei gaw mi dit Hemde,« dabei wies er auf ein altes abgetragenes Stück, welches er anhatte, und brach in Thränen aus.

»Hul' nich, Jung,« schrie Banyard, »'t is Water naug in 't Kielraum, ahn dat du uns noch extra Arbeit makst mit Pumpen;« und nicht unfreundlich hakte er seine Finger in Hardys Kragen und warf ihn durch die Thür auf das Deck hinaus.

»Lucius, um Gottes willen, der Knabe stirbt, er muß in die Kajüte gebracht werden. Sieh den Schaum vor seinem Munde! Knöpfe den Kragen seines Hemdes auf!«

Diese Stimme klang unmittelbar hinter der Banyards, wie das Flöten einer Nachtigall nach dem Bellen eines Kettenhundes.

Miß Franklin eilte an mir vorüber und trat zu dem Burschen, worauf ihre weißen Finger sich sogleich an seinem Halse zu thun machten.

»Geh zurück in die Kajüte, dies ist kein Ort für dich!« rief der Kapitän in leisem, aber hastigem Ton.

»Warum soll ich ihm nicht helfen? Sieh das Blut auf seinem Kopfkissen! O, was für ein herzloses Ungeheuer, solch einen zarten Knaben so zu schlagen! Ich will nicht gehen!« rief sie heftig, sich dem Griff entwindend, mit welchem ihr Bruder sie am Arm gefaßt hatte. »Siehst du nicht, daß er im Sterben liegt? Warum erlaubst du deinem Maat, so grausam zu sein? Tauchen Sie dies Tuch in Wasser und drücken Sie es auf seine Stirne.«

Mit diesen Worten wandte sie ihre Augen hilfesuchend nach mir und streckte mir ihr Taschentuch entgegen. Ich trat vor und nahm es ihr ab; als ich aber im Begriff stand, das durchnäßte Tuch auf die Stirn des Leidenden zu legen, stürzte ein Strom von Blut aus seinem Munde. »Namt dat Külle von mien Bost!« schrie er, darauf streckte er sich, er war tot.

Das Mädchen legte die Hände über ihre Augen und ein heftiger Schauder schüttelte sie. Mit einem Gesicht, so blaß wie der Tote selbst, wandte sie sich um und ging aus dem Haus.

Der Kapitän war im Begriff, ihr zu folgen.

»Schipper,« rief eine leise drohende Stimme, »wat beabsichtigen Sei mit dem Mörder tau dauhn?«

Die Stimme war die des schönen Blunt, und dicht hinter ihm standen mehrere von der Mannschaft.

»Der Maat war nicht schuld daran,« antwortete der Kapitän hastig. »Ich glaube nicht, daß der Junge an dem Schlage starb. Chadburn, lassen Sie den Körper einnähen, wenn Sie denken, daß er tot ist, wir wollen ihn dann gleich begraben.«

»Sei warden uns so nich los, Schipper, wat wollen Sei mit em dauhn?«

»Was wollt ihr, daß ich thue?« erwiderte der Kapitän, in dem Schein der Lampe stehend, welcher aus dem Hause auf das Deck fiel, und die Leute fest ansehend.

»'s steiht schrewen: ›Blaud üm Blaud‹«, lautete die Antwort.

»Erwartet ihr etwa, daß ich den Maat hängen werde?« sagte der Kapitän mit leiser, aber scharfer Stimme. »Ich sage euch, Leute, es war ein Unfall, aber kein Mord! Macht Platz!«

»Dat is also Ehr letztes Wurt?«

»Ja!« dabei stampfte er mit dem Fuß auf, wandte sich um und ging nach hinten.

Die Leute blieben einige Augenblicke in atemlosem Stillschweigen beisammen. Einer von ihnen ging darauf leise zur Thür des Hauses. »Kümt, un seiht em an,« sagte er flüsternd, und sie schritten alle zusammen vor und schauten hinein.

Nachdem sie schweigend auf die Leiche gesehen hatten, gingen sie nach vorn. Ich horchte, um zu vernehmen, was sie sprächen; aber kein anderer Ton erreichte mein Ohr, als das Schluchzen von Hardy, welcher im Schatten des Vormastes ungestört seinen Thränen freien Lauf ließ.

Banyard und ich nähten den Toten ein und befestigten Blei am Fußende der Hängematte. Als wir fertig waren, ging ich, es dem Kapitän zu melden. Er lehnte in düsterer Haltung an der Kampanje.

»Sloe wird mich noch in Ungelegenheiten bringen, wenn er seine Fäuste so freigebig braucht. Mag er die Hunde pauken, bis sie Manieren lernen, aber von dem Jungen hätte er seine Hände weglassen sollen,« murmelte er und sah mich an, schien aber kaum zu wissen, zu wem er sprach. Er trocknete sich die Stirn mit dem Taschentuch und ich wiederholte, was ich gesagt hatte.

»Dann werfen Sie ihn über Bord!« befahl er.

»Gleich?«

»Gleich! Natürlich, noch diesen Augenblick.«

»Soll kein Gebet gelesen werden?«

»Wer soll um diese Stunde der Nacht Gebete lesen? Schaffen Sie die Leiche aus der Brigg. Wenn sie die ganze Nacht noch liegt, so wird sie die Leute veranlassen, ebensolange zu komplottieren; sollen die Decks rein von Blut bleiben, so thun Sie, was ich sagte.«

Darauf, die Stimme sinken lassend, sprach er beinahe schmeichelnd:

»Befreien Sie mich im stillen davon; seien Sie ein guter Kerl. Bringen Sie sie nach der Backbord-Fallreepstreppe; lassen Sie sich von den Leuten dabei nicht sehen und machen Sie nicht mehr Geplätscher, als unvermeidlich ist.«

Mir gefiel diese überstürzte, das Gefühl empörende Verfügung über die noch warme Leiche durchaus nicht; aber es war meine Pflicht, dem Befehl zu gehorchen. Ich rief also Banyard; wir trugen die Hängematte, welche den Toten barg, leise auf das Deck und ließen sie über Bord gleiten, ohne daß irgend jemand etwas davon merkte.

Die ganze übrige Zeit meiner Wache lungerte der Schiffer auf Deck umher; ein paarmal ging er nach unten, kehrte aber bald zurück, um sein Hin- und Herwandern fortzusetzen. Kurz vor acht Glasen sagte er zu mir:

»Wenn eine Meuterei ausbrechen sollte, hoffe ich auf Ihre Dienste zählen zu können.«

»Ich will Ihnen bis zum äußersten helfen, die Disziplin aufrecht zu erhalten; aber die Leute sollen erfahren, daß ich Mr. Sloes Brutalität nicht gut heiße.«

»Wenn Ihnen Ihr Vorteil etwas wert ist, werden Sie gut thun, Ihre Ansichten für sich zu behalten. Ihre Pflicht liegt klar vor Ihnen und ich setze voraus, daß Sie als Gentleman nicht die Missethaten einer Rotte Menschen unterstützen werden, welche im Grunde genommen doch Verbrecher sind.«

Hiermit ging er fort, ohne mir Gelegenheit zu weiteren Erörterungen zu geben.


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