Gottlieb Conrad Pfeffel
Poetische Versuche
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Der alte Rabe.

An meinen Bruder.

                Zum Sonnenadler sprach ein grauer Rabe:
Ich diente deinem Vater schon,
Und wenn ich treu gedienet habe,
So gieb mir meiner Arbeit Lohn.
Der König kannte längst des Alten Treue,
Er sah ihn freundlich an: »Was forderst du
Von meiner Dankbarkeit?« – »Die Ruh;
Vergönne, daß ich mich mit meinen Enkeln freue,
Eh mich der Tod von hinnen rafft.«
Ey, rief der Fürst, du kannst noch lange nützen,
Dein Geist behält noch seine ganze Kraft;
Bleib hier: du solst an meiner Seite sitzen
Und wenn der Tod dich von uns ruft,
So sey in diesen Felsenritzen,
Bey meinen Ahnen, deine Gruft.
Ein Grab auf des Olympus Spitzen,
Versetzt der Greis, ist auch ein Grab;
Das dunkle Thal, so mir das Leben gab,
Das soll auch meinen Staub besitzen.
Der König ließ den Diener ungern ziehn,
Doch mußt er ihm zuletzt willfahren.
Er dachte schon nicht mehr an ihn,
Als er nach zwey verfloßnen Jahren
Einst müde von der Jagd auf eine Ceder sas,
In deren Stamm er diese Worte las:
»Das Büschchen, das an meinem Fuße grünet,
Erkohr ein Rabe sich zur letzten Ruhestatt,
Der fünfzig Jahr am Hof gedienet
Und nur Ein Jahr gelebet hat.«


O Bruder, wann wirst du den Wunsch erfüllen,
Den einzigen, für den mein Herz noch brennt,
Den süßen Wunsch, der Tage Rest im Stillen,
Uns selbst genug und ungetrennt
Im Schooß der Liebe durchzuleben?
Den Sommer schenktest du dem Vaterland,
Gieb uns den Herbst. Die strengen Parzen spinnen
Mit schneller, niemals müder Hand
Am dünnen Rocken fort und eh wir uns besinnen,
Reißt Atropos den Faden ab.
Drum komm, o komm, beflügle deine Schritte!
Kein Trianon gleicht unsers Vaters Hütte,
Kein Saint-Denys gleicht seinem Grab.


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