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1933

1071

Wintermärchen

Die Ritter

Am Anfang des Jahres 32 stand die Nazidiktatur vor der Tür, war die Luft voll Blutgeruch, schien die Erfüllung des Programms von Boxheim nur eine Frage der Zeit zu sein. An seinem Ende wird die Hitlerpartei von einer heftigen Krise geschüttelt, sind die langen Messer still ins Futteral zurückgesteckt und öffentlich sichtbar nur die langen Ohren des Führers. Die deutsche Entwicklung geht nicht glatt aber rapid.

Als ich mich vor mehr als sieben Monaten verabschiedete, regierte Brüning noch und jener inzwischen sagenhaft gewordene Groener, der jetzt wieder seine überzählige Figur aus der Versenkung schiebt, in der ihn sein Freund Schleicher so elegant hatte verschwinden lassen. Es kam der Herrenklub und die autoritäre Regierung. Ein ganzer Artushof von heftig irrenden Rittern schwärmte aus und in gut bezahlte Positionen hinein, und Lancelot vom See wurde Reichskanzler, während Merlin, der Zauberer, als Professor Wagemann verkleidet, seine Kunst an der Wirtschaftskrise versuchte. Hokuspokus, hokuspokus, dreimal schwarzer Kater. In allen Ressorts saßen plötzlich schlanke Kavaliere, wie aus präraffaelitischen Tapeten gestiegen, und verhängten das Mittelalter über uns. Es fehlte neben andern Edikten, um uns auch ganz konsequent in die schönere Vergangenheit zurückzuführen, nur noch die Wiedereinführung des jus primae noctis, obgleich nach den devastierenden Wirkungen des Kulturbolschewismus eine nennenswerte Ausbeute nicht mehr zu garantieren gewesen wäre.

Das Regime Papen begann mit vehementem Auftrieb. Es entfaltete vor den Augen der verblüfften Nation eine entschlossen reaktionäre Aktivität, die von keiner bescheidenen Ahnung der Wirklichkeit gelenkt wurde. So kollidierte der grundsätzlich neu geführte Staat, dem nur noch die nominelle monarchische Spitze fehlte, mit dem nun einmal vorhandenen gesellschaftlichen Fundus; die flotten Herrenreiter fielen dabei kopfüber in den Graben. Sie zogen sich still in ihren Frühstücksklub zurück und suchen nun die blaue Blume in der Weinkarte. Das Ganze wirkte wie eine postmortale Manifestation, als sollte den jungen Leuten von heute gezeigt werden, wie der Staat von 1910 ausgesehen und was für brüllende Unfähigkeit damals ganz oben Posto gefaßt hatte.

Und nun ist Kurt von Schleicher endlich Reichskanzler. Ein Ehrgeiziger ist am Ziel. Wenn er zum Besten des Vaterlands ähnliche feste Ellenbogen zeigt wie in seiner eignen Karriere, so gehen wir goldenen Zeiten entgegen.

Die Landsknechte

Papen wollte gemeinsam mit Hitler das sacrum imperium machen. Hitler lehnte ab, und die Berater des Reichspräsidenten waren nicht geneigt, mit Ritter Lancelot allein zu reiten.

Schleicher findet bei seinem Beginn die Nazipartei in ärgsten Verlegenheiten, ihr Expansionstrieb hat sich durch Furcht vor der legalen Verantwortung ebenso wie vor der revolutionären Aktion selbst ad absurdum geführt. Die von dem ewigen Hitlerschreck befreite Linke begrüßt den neuen Kanzler mit einem erleichterten Aufatmen und schreibt seinem staatsmännischen Ingenium freudig zu, was teils das Werk anonymer sozialer Kräfte ist, teils das natürliche Ergebnis einer dilettantischen Führerschicht, der man besser aufs Maul sieht als auf die Fäuste. Es ist jedoch notwendig, in der nächsten Zeit auch auf die Taschen zu achten. Wer sie wieder füllen kann, der wird auch die Partei haben.

Die Krise der Nazis ist vor allem eine finanzielle. Die theoretisch interessierte Schicht in der Partei war immer herzlich dünn. Die Intellektuellen sind schon mit Otto Straßer und Buchrucker geschieden oder sammeln sich im ›Tat‹-Kreis und in unzähligen Konventikeln. Das Gros der Parteimitglieder besteht aus den Dümmsten der Dummen, die Cadres der Braunjacken werden durch Barzahlung zusammengehalten und nicht durch eine Gesinnung. Die Zentrale hat aus dem Vollen gewirtschaftet, sie hat von der Aussicht gelebt, in absehbarer Zeit den Staat mit ihren Heuschreckenschwärmen zu überziehen, und sie hat sich darin getäuscht. Ihre alten Brotgeber von der Industrie sind entweder pleite oder durch einige sozialradikale Zwischenspiele enttäuscht. Mitten in einer bettelarm werdenden Zeit war Propaganda der Partei und Lebensstil der Führerschaft auf eine Opulenz gestellt, die zwar die sozialistischen Arbeiter nicht blendete, wohl aber jenes verrottende Kleinbürgertum, das jeden Propheten zu steinigen bereit ist, der sich nicht einen Mercedeswagen und ein Quartier im »Kaiserhof« leisten kann. Dieser Parvenustil ist bedroht; SA-Leute ohne Sold in ungeheizten Mannschaftsstuben wittern hinter der Hitlermessiade den Klanteschwindel und greinen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Adolphus und die Seinen mit zunehmender Misere spiritueller werden, aber die Hungrigen und Beutelustigen, die auf sie geschworen haben, werden mit geistigen Reizen kaum zu betören sein.

Der Konflikt zwischen Hitler und Gregor Straßer hat die innern Schwierigkeiten der Partei evident gemacht. Wir wollen nicht Prognosen über den möglichen Verlauf des Streites wagen; bei dem unerforschlichen Ehrenkodex dieser Wahrhaft Teutschen ist sogar eine Versöhnung nach reichlichem Dreckbombardement nicht ausgeschlossen. Der baumstarke Gregor ist ohne Zweifel kein halbseidner Jammerlappen wie der große Adolf, aber was er will, was er als Persönlichkeit, losgelöst von seiner Garde, bedeutet, das hat noch niemand ergründet. Seit Jahr und Tag raunen geschäftige Freunde, Gregor sei der »Eigentliche« und kein bloßer Aufschneider und Versammlungs-Schlagododro wie die Andern, sondern trage ein Programm der Verbrüderung aller Werktätigen fix und fertig in der Tasche. Vor nicht vielen Wochen noch überraschte uns ein Gregorianer mit der Neuigkeit einer »Gewerkschaftsfront« unter dem Kommando dieses ewig kommenden Mannes. Wir haben Gregor Straßer mit jenem Interesse verfolgt, das eine Vitalität erweckt, und haben nichts gefunden, was zu Furcht oder Hoffnung berechtigte. Es stellte sich immer nur ein breit moralisierender Rhetor und Interpret sozialkonservativer Ideen vor, die heute unter allen literarischen Kaffeehaustischen achtlos fortgefegt werden, andrerseits aber auch ein durchaus unbestimmter Politiker, der sich ebensogern nationalrevolutionär gab wie er Verbindungsmann zu Herrn von Schleicher und dem Zentrum spielte. Grade weil dieser Gregor über sympathische Züge verfügt, ist man geneigt, ihn mit einer Sachlichkeit zu prüfen, die an eine hysterische Käsemilbe wie Goebbels verschwendet wäre, aber diese Prüfung fördert nichts zu Tage als einen Sack voll Nebel.

Daß eine Partei, die vor ein paar Monaten noch alles forderte und nach ihrem Umfang auch fordern durfte, sich heute schon in Krämpfen windet und offen die künftigen klassenmäßig bedingten Teilungsschnitte zeigt, ist natürlich ein einzigartiges Schauspiel. Dennoch scheint es uns angebracht zu sein, vor überspannten Erwartungen zu warnen. Die wirtschaftliche Grundlage ist noch immer dazu angetan, Desperados zu züchten. Nur eine neue allgemeine Konjunktur wäre imstande, den Nationalfascismus gründlich zu entblättern, und auch die voraussetzungslosesten Optimisten wagen das nicht in nahe Aussicht zu stellen.

Man darf auch nicht vergessen, daß eine moderne Partei ein früher unbekanntes konzentriertes Machtgebilde darstellt. Wir haben nacheinander in verschiedenen Parteien Meuterei und Sezession erlebt – und was ist daraus geworden? Wer auf der Kasse sitzt, und mag sie noch so leer sein, das Schaltwerk der Organisation vor sich, der beherrscht auch die Situation, der kann die Aufsässigen zunächst hinauswerfen. Der liberale, tolerante Parteityp alter Muster ist im Absterben begriffen, nicht mehr das Programm sondern das Statut ist der Koran einer modernen Partei. Solange noch ein Disziplinarurteil vollstreckt werden kann, ist die Omnipotenz der Zentralen nicht bedroht. Das sieht bei Wels, bei Thälmann, bei Hugenberg nicht viel anders aus. Die Parteien August Bebels oder Eugen Richters waren geistige Arenen. Die heutige Parteiform wird von Mussolini und Stalin bestimmt. In Rekrutendepots diskutiert man nicht.

Trotzdem steckt in der Krise des Nationalsozialismus ein realer politischer Kern, der allerdings nicht leicht sichtbar wird. Ein Rückbildungsprozeß findet statt, die Partei sucht ihre ursprüngliche Basis wiederzufinden. Sie hat in ihrem meteorhaften Lauf überall hospitiert und schmarotzt. Sie hat die KPD kopiert und sich nicht gescheut, in einem Streik an ihre Seite zu treten, und Herr Göring hat die Rechte des demokratischen Parlamentarismus so tönend vertreten, als hieße er Erich Koch-Weser. Die Zeit der sozialrevolutionären und republikanischen Eskapaden scheint definitiv vorüber zu sein, wenn nicht alles trügt, ist ins Braune Haus nach so viel Ausschweifungen doch eine Art Magdalenenstimmung eingezogen. Die Partei, die noch in jüngster Vergangenheit manche Lager geteilt hat, will wieder die Rechtspartei werden, die sie gewesen ist, und nach einigen Zickzackmanövern wieder ihre alte Farbe tragen. Aus braun muß wieder gelb werden.

Die Hitlerpartei betont gern ihre Andersartigkeit, und sie darf in der Tat nicht mit hergebrachten Normen gemessen werden. Würde sie heute jäh in Atome zerspringen, so bliebe doch das Faktum bestehen, daß sie noch vor kurzem fünfzehn Millionen Wähler gefunden hat. Sie muß also nicht nur einem politischen Bedürfnis sondern auch einer speziellen deutschen Gemütsanlage entsprechen. Ihre Brutalität, Großmäuligkeit und Hirnlosigkeit haben nicht abschreckend sondern anziehend gewirkt und bedingungslose Gefolgschaft gefunden. Das bleibt eine nicht leicht zu beseitigende Tatsache.

Die Nationalsozialistische Partei hat für fünfzehn Millionen Deutsche genau das erfüllt, was sie sich unter einer politischen Partei vorgestellt haben. Niemals ist das deutsche Bürgertum in einem Säkulum so ehrlich gegen sich gewesen wie in diesen paar Jahren nationalsozialistischen Wachstums. Da gab es nicht mehr intellektuellen Aufputz, nicht mehr geistige Ansprüche, nicht mehr die akademische Fassade reicherer Jahrzehnte. Der ökonomische Zusammenbruch hat die innere Roheit, die plumpe Geistfeindlichkeit, die harte Machtgier bürgerlicher Schichten – Eigenschaften, die sich sonst halb anonym hielten oder in private Sphäre ableiteten – offen bloßgelegt. Nur einmal haben nationalistischer Blutrausch und politische Hilflosigkeit so bedenkenlos Hochzeit gefeiert, und das war zu Kriegsbeginn. Insofern ist die Nationalsozialistische Partei der in Permanenz erklärte 4. August. Sie trägt am deutlichsten die Illusionen dieses traurigsten Datums der deutschen Geschichte in eine veränderte Zeit.

Der große völkische Führer mit dem Äußern und den Allüren eines Zigeunerprimas mag seine Saison haben und mit dieser abblühen. Was er an bösen und häßlichen Instinkten hervorgerufen hat, wird nicht so leicht verwehen und für lange Jahre noch das gesamte öffentliche Leben in Deutschland verpesten. Neue politische und soziale Systeme werden kommen, aber die Folgen Hitlers werden aufstehen, und spätere Generationen noch werden zu jenem Gürtelkampf antreten müssen, zu dem die deutsche Republik zu feige war.

Der Mann dazwischen

Schopenhauer hat einmal darüber gespottet, daß die Universitätsphilosophie die Weisheit des Sokrates zum Axiom erhoben habe, denn sie sei ja durch kein eignes Werk des Mannes verbürgt. Man möchte eine ähnliche Frage erheben angesichts der begeisterten Artikel über die staatsmännische Begabung des Herrn von Schleicher.

Die großstädtische Presse kennt keinen Dank. Wo sind Brüning und Groener geblieben, ihre alten Lieblinge? War nicht Brüning ein von mystischen Gaben Gespeister, der auch bezüglich kommender Notverordnungen in seiner Kammer mit Gottes Engel rang? War nicht Groener der selbstverständliche Nachfolger Hindenburgs? Où sont les neiges d'antan?

Herr von Schleicher ist eine Hintergrundspersönlichkeit, die sich meisterhaft an die Rampe gespielt hat. Seine militärische Leistung besteht in der Erlegung seiner Vordermänner nach den klassischen Regeln der Vernichtungsstrategie. Seine politische Leistung in der Schaffung einer absoluten Vormachtstellung des Militärs, in der Totmanövrierung des bürgerlichen Staates. Die Hauptetappen seiner glanzvollen Laufbahn sind zugleich die Leidensstationen der Republik von Weimar.

Vielleicht ist es allzu rigoros, an den Vorschußlorbeeren für einen neuen Mann kritisch zu zerren. Die höflicheren englischen und französischen Blätter geben in solchem Falle Chancen, lassen wenigstens zunächst die Fallstricke beiseite. Eines erklärt allerdings die Herrn von Schleicher gespendete Wärme: er ist der Nachfolger des Herrn von Papen. Danach ist es nicht schwer, als Genie zu gelten. Und wäre selbst, anstatt Schleichers, Michaelis selig aus seinem friedlichen Altersheim auf den Kanzlerstuhl geschritten, so hätten doch alle hochbeglückt »Ave Caesar!« gerufen.

In der demokratischen Presse fliegen noch immer frisch gepuderte Weihnachtsengel auf und verkünden eine neue liberale Ära. Die kleine Atempause um die Feiertage wird überschätzt. Die Parteien sind des Wählens müde und beziehen neue Position. Abgewirtschaftet hat nicht nur der Kurs Papen sondern auch, was gern verkannt wird, der Kurs Brüning. Auch dieser Rückweg ist versperrt. Was soll also werden? Ein parlamentarisches Regime ist kaum denkbar, und möglich nur, nach mancherlei andern Versuchen, die neue, schroffere Diktatur. So sitzt man an den Kaminen, schaut träumend in die rote Glut und erzählt sich Märchen von Besserung, Freiheit und Versöhnung – Märchen, die nicht so lange wie dieser Winter währen werden.

General von Schleicher wird in einer merkwürdigen Phase Reichskanzler. Deutschland hat sich in diesem Sommer zur Konterrevolution ebenso unfähig gezeigt wie 1918 zur Revolution, und jetzt herrscht auf der Linken eine gewisse Verblüffung darüber, daß auch die von Rechts weder gescheiter noch energischer sind. Dieser Verwirrung verdankt Schleicher ein gutes Stück seiner jungen Autorität. Seine Barden behaupten zwar, sein Kopf strotze gradezu von politischen Ideen, was aber nur schwer bewiesen werden kann und von ihm in seiner Rundfunkrede jedenfalls sorgfältig getarnt wurde. Dagegen kann nicht bestritten werden, daß er über eine glänzende Personenkenntnis verfügt und leidenschaftlich gern jene diplomatische Kunst ausübt, die man früher »Finassieren« nannte. Man darf sicher sein, daß Auseinandersetzungen mit seinem alten Frühstücksgast Hitler und dem verbitterten Brüning in den erprobtesten Formen einer nicht mehr ganz zeitgemäßen Kabinettspolitik vor sich gehen werden. Liebhaber von Kabalen aller Art dürften auf ihre Kosten kommen – aber werden davon die Arbeitslosen satt?

So muß also angenommen werden, daß der weniger amüsante Teil der Politik auch weiterhin bei Herrn Bracht liegen wird, der schon bewiesen hat, daß er die Seele eines Gendarmen aufs glücklichste mit der Faust eines alten Möbelpackers vereint und der hinter seinem jovialen Herrn hergeht wie der Lictor mit dem Beil. Nachdem die netten Weihnachtswünsche verhallt sind, wird die Politik des vergangenen Kabinetts treulich fortgesetzt, die Bevorzugung der Agrarier ebenso wie der Abbau von sozialdemokratischen Beamten. Herr von Schleicher war der starke Arm der Papenregierung, er mag dabei gelernt haben, daß auch der Kopf nicht auszuschalten ist, aber er ist jedenfalls nicht an die Spitze geholt worden, weil man ihn für eine profunde politische Begabung hält, sondern weil er die Wehrmacht repräsentiert, die einzige stabile Kraft in der Auflösung aller andern Gewalten.

Damit ist eine jahrelange Maskerade beendet, die wirkliche Macht tritt unverhüllt hervor. Und sie wird diktatorisch herrschen, bis ihr eine neugebildete Macht entgegentritt. Es wäre vermessen, über Schleichers Person prophezeien zu wollen, wahrscheinlich wird er sich, bei dem Fehlen nennenswerter bürgerlicher Gegengewichte, lange halten, wenn auch die Berater, Helfer und Hilfsarbeiter oft wechseln werden. Eines aber ist sicher: er eröffnet die Reihe der Prätorianer-Kanzler.

Die Weltbühne, 3. Januar 1933


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