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Wir müssen durch!

Caestus hat Recht. Die Tage von 1918 und 1923 kehren wieder. Abermals lebt ein abgewirtschaftetes System nur von der allgemeinen Ratlosigkeit und Entschlußlosigkeit. Das Juste milieu, das seit dem 14. September vorigen Jahres nur noch ein gespenstisches Dasein fristet, steht vor der Entscheidung, ob es sich schon jetzt in seine Gruft zurückziehen oder ob es noch die nächste, die kräftigere Beschwörungsformel abwarten soll, die es für immer zu den Schatten verweist. Die Rettung der Demokratie durch das Kabinett Brüning hat zu einer hoffnungslosen Auszehrung der letzten noch vorhandenen demokratischen Werte geführt. Der moralische Fundus der Demokratie ist verschleudert, ihre letzte körperliche Substanz wird von den gefräßigen Steuerwürmern der neuen Notverordnungen schnell aufgesogen sein. Niemand hat ein Interesse, pseudokonstitutionellen Kulissenzauber zu erhalten, niemand eine Regierung zu konservieren, deren Energie sich darin erschöpft, den Hungerriemen um den verelendeten Leib Deutschland noch enger zu schnallen.

Die Politiker feilschen, intrigieren, zanken. Indessen wachsen überall im Lande Unruhen, die spontanen Volksaufständen verzweifelt ähnlich sehen. Wir überlassen es den Zeichendeutern der Regierungspresse, die Schuld an den Tumulten abwechselnd kommunistischen und nationalsozialistischen Anstiftern in die Schuhe zu schieben. Als ob es etwas anzuzetteln, als ob viel aufzuwiegeln gäbe! Ich sehe nicht wie Caestus die soziale Revolution im nahen Hintergrund, aber es wäre Torheit, darüber hinwegzutäuschen, daß die Situation revolutionär ist, daß die Revolte in der Luft liegt. Deutschland ist noch zu vital, um schweigend in den ihm von seiner Regierung verordneten Marasmus zu versinken.

Was wir in diesen Tagen erleben, ist mehr als eine Kabinettskrise, es ist eine Krise des Staates, die aus verfassungsmäßigen Zuständen herausführt und deren zerfließende Formen von der Verfassung nicht mehr gedeckt werden können, auch wenn man sie noch so kühn verbiegt. Und unsre Verfassung ist in dieser Hinsicht wahrhaftig einiges gewöhnt. Es gibt natürlich noch Mächte und Machtfaktoren, aber sie haben zu dem, was sich in Regierung, Ämtern, Parteien, Verbänden und Presse als Politik kristallisiert, keinerlei Beziehung mehr. Hier steht die konzentrierte Kraft der Schwerindustrie und Agrariertum, dort die durch Unterernährung zermürbte Masse der Arbeiter, von Parteimoden streng geteilt, trotzdem im Kern gesund und eines Willens. Dazwischen das in Demonstrationen, Hoffnungen, Ideologien und Wünschen zerrinnende Bürgertum. Drei Kräfte von Bedeutung, ungleich in allen Stücken, gewiß, aber einer Meinung doch darin, daß der politische Betrieb ihnen nichts mehr geben kann. Ihre Existenz kreuzt sich nicht mehr mit der Politik der Regierung und der Parteien, kaum mehr mit der Opposition. Eigentlich müßte die Gewalt jetzt demjenigen zufallen, der zuerst marschiert. Aber niemand marschiert. So bleibt das groteske Nebeneinander von Politik und Wirklichkeit bestehen. Die wahren Kämpfe werden auf einem andern Boden als dem von den Parteien bereiteten ausgetragen, und über alledem thront jener personifizierte Leerlauf, jene durch feierlich unterfertigtes Kanzleipapier wichtig gemachte Fiktion, die heute noch Kabinett Brüning und morgen vielleicht schon anders heißt.

Der verfassungsmäßige Bestand des Staates selbst ist es, der zur Diskussion steht. Weshalb hat denn diese Krise so völlig verrückte Maße angenommen? Wenn sich Sozialdemokratie und Zentrum heute zu einer offenen Koalition zusammenschlössen, so wäre damit zwar nicht grade der Geist des Sozialismus, wohl aber der Sinn der Verfassung gewahrt. Aber das lassen diejenigen Gruppen nicht zu, welche die Regierung Brüning inthronisiert haben und ihr dabei fortwährend Schwierigkeiten machen, so daß die liebe, geduldige Sozialdemokratie Brüning immer wieder mit toleranzgeübten Händen auf dem wackelnden Sessel halten muß. Es gibt genug Schlauköpfe auf der Linken, die das für große Politik halten, aber es hat in Wahrheit nur zu einer unerhörten Verschmuddelung aller politischen Begriffe geführt, es hat die alte deutsche Neigung zur Trennung von Politik und Volk erst richtig stabilisiert.

Nicht die Ohnmächte der Parteien, die anonymen Mächte der Wirtschaft selbst sollen regieren. Sie waren seit 1914 die wirklich Treibenden und Bestimmenden und die Politiker nur ihre Diener. Darüber ist die Demokratie in Deutschland verdorben. Caestus fordert mit bestem Recht, einem Zustand der Verschleierung und Übertünchung ein Ende zu bereiten, der viel gefährlicher ist als die unverhüllte Gliederung in noch so feindlich starrende Fronten. Es wird Zeit, daß die wirklich ausschlaggebenden Geister des Finanzkapitals, die sich immer so gut im Nebel verborgen halten, endlich Gestalt und Gesicht annehmen. Sie sollen herauskommen aus dem bequemen Dunkel, und wir werden, wenn die Verantwortung in der ganzen Schwere auf den Schultern dieser Industriegiganten lastet, manche Jammergestalt und manches Schafsgesicht erblicken können. Sie sollen die Finanzen stemmen, diese Bizepshelden von der Ruhr, sie sollen ihre muskelstrotzende außenpolitische Aktivität in Genf und auf internationalen Konferenzen spazieren führen. Sie sollen, sie sollen! Die sogenannten starken Männer, die den Beruf zum Regieren in sich fühlen, sind es gewöhnlich nur, so lange sie nicht in die peinliche Lage kommen, diesen Beruf auszuüben. Herr Schacht würde in kurzer Zeit ein so manierlicher Finanzminister sein wir nur irgend einer; er würde bald gestehen müssen, daß die von ihm so maßlos aufgebauschten Reparationen nur ein Teilstück der Wirtschaftskrise darstellen, daß auch ihr Aufhören keine Erleichterung bringen kann. Und jener Herr von Hassel, der Schwiegersohn des seligen Tirpitz, den man zum Außenminister der neuen Ära ausersehen hat, würde kein ungestümeres Temperament entwickeln als jener heute schon legendäre Herr von Rosenberg, der 1923 an seinem leeren Schreibtisch saß und Neugierige auf den hohen Alliierten im Himmel verwies.

Jetzt wird sich natürlich der Einwand erheben: »Welch eine Frivolität, uns dem Fascismus auszuliefern!« Lassen wir uns dadurch nicht dumm machen. Auf jenem friedlichen Wiederkäuerkongreß zu Leipzig hat man dasselbe eingepaukt. Dort saßen lauter gutartige gernbetrogene Leute, ließen sich viel Schönes von der Rettung der Demokratie erzählen und merkten nicht, daß der Teufel, von dem sie redeten, ihnen schon eine Ekrasitpatrone unters Sitzleder schob. Es hat keinen Zweck mehr, vor der drängenden Gewalt der Reaktion die Augen zu verschließen. Es gibt keine Demokratie mehr zu retten, weil keine da ist, wohl aber eine zu schaffen. Weil die Krise mit parlamentarischen Mitteln nicht zu beheben ist, muß ihre Lösung außerhalb des Parlamentes gesucht werden, wo noch Kräfte vorhanden sind. Wenn der Feldherr eine Bastion unter den schweren Kalibern der Feinde zusammensinken sieht, so läßt er sie räumen. Denn die Menschen sind mehr wert als die Steine und der Ruhm, bis zum letzten Blutstropfen gefochten zu haben. Es ist oft günstiger zu stürmen als zu verteidigen. Die Republikaner haben das Stürmen verlernt, sie sind an die Defensive durch kleine Mätzchen und Zugeständnisse gewohnt. Das Kapital der deutschen Republik wird von diplomatisierenden Gänserichen à la Breitscheid betreut, die nur am Tage schnattern und in der Nacht zu schlafen pflegen. Die Republikaner müssen sich von der Illusion trennen, als ob sie bei dem gegenwärtigen Zustand noch die Nutznießer irgendwelcher Macht wären. Statt dessen sind sie den Giftstoffen der Verweichlichung und des innern Verfalls ausgesetzt, deren Virulenz grade heute aufs höchste gestiegen ist. Hinaus ins Freie und neu sammeln!

Der Führer der Deutschen Volkspartei, der Abgeordnete Dingeldey, hat die Forderung nach Einberufung des Reichstags erhoben. Die Nationalsozialisten tun dasselbe. Ebenso die Kommunisten. Morgen werden sich die kleinen Rechtsgruppen vielleicht anschließen. Die antiparlamentarischen Fraktionen fordern also den verfassungsmäßigen Weg, während die Sozialdemokratie, die demokratisch-parlamentarische Partei par excellence, in ihrem Fraktionsbeschluß vom vergangenen Freitag dessen keine Erwähnung tut. Welch bizarre Umkehrung aller hergebrachten Anschauungen und Vorstellungen! Und dieser Unsinn soll der Verteidigung, soll neuer Opfer wert sein? Da hilft keine Reichstagsauflösung, die doch keinen andern Effekt zeitigen könnte, keine Ersetzung von Curtius und Dietrich durch ein paar Mannequins der Industriekontore von Düsseldorf und Essen. Nochmals: die Herren sollen selbst!

Es kommt nicht darauf an, ob Herr Brüning seine Krise zur Zufriedenheit des Zeitungsviertels löst, sondern darauf, daß die deutsche Politik wieder in Einklang gebracht wird mit der deutschen Realität und daß der Kampf der falschen Fronten aufhört. Deutschland hat die Ära Brüning mit ungeheuerlichen kulturellen und sozialen Opfern fundiert und dafür als Gegenleistung nur die schamlose Auspowerung durch das System der Notverordnungen erhalten. Keine offene großkapitalistische Diktatur hätte mehr zu bieten gewagt. Eine radikale Opposition, die sich nicht mit Reichsbanner-Deklamationen begnügt, sondern sich klassenmäßig formiert, wird sich nicht bei dem heute üblichen Frosch-Mäusekrieg zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten aufhalten können, sie wird einer neuen Parteigliederung der Arbeiterschaft den Weg freimachen. Denn für das Kommende wird das Wort Benjamin Franklins gelten: »Wir müssen alle zusammenhängen, sonst werden wir alle einzeln hängen.«

Wenn die republikanische Parteipresse ihre Pflicht erfüllen würde, dann hätte sie schon lange sagen müssen, wie sehr man sich in der Wilhelm-Straße auf das Zusammengehen mit dem Nationalsozialismus einrichtet. Statt der Wahrheit hat man die Brüninglegende serviert. Davon ist jetzt nichts mehr zu retten. Die reaktionär-fascistische Periode liegt vor uns wie ein böser Zauberwald voll von schreckerregenden Figuren und heimlichen Fallen. Es hilft nichts. Wir müssen durch.

Die Weltbühne, 16. Juni 1931


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