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Zum Falle Friedrich Wolf

Die Staatsanwaltschaft greift ins volle Menschenleben, holt Gut und Schlecht heraus und bringt sie vor das große Clearing-House, Justiz genannt. Dabei muß sie aber immer recht rationell vorgehen, denn allzu viele Sünder auf einmal kann die Maschine nicht verarbeiten, darauf ist auch der Strafvollzug nicht eingerichtet. Von alters ruht das Gesetz auf der stillen Voraussetzung, daß seine Verächter auf einer sonst von Gerechten bewohnten Welt die betrübliche Ausnahme bilden. Wenn die Verbrecher allzu schnell zunehmen, steht das Gesetz selbst in Frage, und es ändert sich auch die Anschauung der Menschen darüber, was verboten und erlaubt sein soll. Die Gesetzeswächter werden dann zu Konservatoren, die aufpassen, daß sich nicht Unberufene an dem von ihnen behüteten Buchstabengut vergreifen. Sie wenden es also sparsamer an, um es nicht zum öffentlichen Kampfobjekt werden zu lassen. Nicht anders ging es mit den Hexenprozessen oder mit der Rechtsprechung in religiösen Dingen. Alle diese Gesetze waren hundert Jahre vor ihrer definitiven Abschaffung tot. Und trotzdem kostete die formale Beseitigung Mühe, und die Obrigkeit widersetzte sich mit Klauen und Zähnen. In England hat sich kürzlich jemand selbst bezichtigt, am Sonntag die Kirche geschwänzt zu haben. Der Staatsanwalt war in peinlicher Verlegenheit. Denn nach einem Gesetz aus dem siebzehnten Jahrhundert, das noch kein Parlament kassiert hat, ist Vernachlässigung des Kirchenbesuchs strafbar.

Der § 218 ruht schon lange so in Watte verpackt. Er wird nur gelegentlich herausgeholt, um ein paar sehr arme Schächer zu treffen. Das Empörendste an diesem Paragraphen ist ja nicht seine Existenz und die Versuche, auch in neuen, reformierten Strafgesetzbüchern seine Existenz künstlich zu erhalten, als vielmehr die Tatsache, daß seine Art, ihn zu gebrauchen, die Justiz zum Glücksspiel degradiert. Die Staatsanwälte denken gar nicht daran, ihn automatisch anzuwenden. Sie wissen, daß sich in Deutschland Geburten und Aborte ziemlich die Wage halten. Sie begnügen sich damit, gelegentlich ein paar Exemplare herauszuholen, um die Lebenskraft des Paragraphen neu zu belegen. Deshalb beschränken sich die Staatsanwälte darauf, den Gerichten hin und wieder einen Einzelfall zu apportieren, gewöhnlich einen, in dem einem Arzt ein Kunstfehler unterlaufen ist. Dabei wird die Ausdehnung einer solchen Praxis kaum geprüft, denn das würde eine größere Frage aufwerfen und vor allem auch die bessersituierten Schichten treffen. Das gibt dem § 218 seinen infamen Klassencharakter. Er ist nicht nur juristisch unhaltbar, sondern auch krasseste soziale Ungerechtigkeit.

Wenn der Staatsanwalt aber schon ein Exempel statuieren möchte, dann sollte er wenigstens in der Wahl seines Objekts vorsichtig sein. Der § 218 konnte nur dadurch konserviert werden, daß die Staatsanwaltschaft ihre Unternehmungslust auf die Unterwelt der Heilkunst beschränkte und nur gelegentlich einen approbierten Arzt mitgehen ließ. Sich aber für ein solches Exempel grade den praktischen Arzt Doktor Friedrich Wolf in Stuttgart auszusuchen, das ist ein an Fahrlässigkeit grenzender Leichtsinn, der dem Paragraphen gefährlicher werden dürfte als dem Angeschuldigten. Denn es handelt sich hier um einen aufrechten Mann, von wachsamen Freunden umgeben, den man nicht einfach im Dunkeln justifizieren kann. Friedrich Wolf ist eine hochqualifizierte Persönlichkeit, ein Theaterschriftsteller von Ansehen, Verfasser volkstümlicher Schriften über Heilkunde, ökonomisch nicht auf die Erträgnisse einer unerlaubten Hintertreppenpraxis angewiesen. Ein Menschenfreund, ein Sozialist von Geblüt, nicht von Gnaden des Parteibuchs. Das alles hat natürlich einen lieben Kollegen nicht abgehalten, ihn zu denunzieren. Aber dieser törichte Judas hat ein besseres Werk getan, als er ahnt. Er hat diesen armen, halbtoten, kümmerlich in Watte verpackten § 218 mitten in die Arena geworfen. In frischer Luft kann das Unglücksding nicht mehr lange leben.

Zunächst versuchte die Anklagebehörde noch, Friedrich Wolf als Kapitalverbrecher zu behandeln, weil der Sturm, den die Verhaftung erregt hat, ihr unerwartet gekommen ist. So sollte wenigstens etwas schikaniert werden. Eis war eine herzlich überflüssige Prozedur, von dem Verdächtigten eine übertrieben hohe Kaution zu verlangen; erst 40 000 dann 25 000 Mark. Bildet der Staatsanwalt sich wirklich ein, daß Friedrich Wolf erst einmal über die schweizer Grenze flieht? Wäre der Ankläger ein besserer Psychologe, so würde er wissen, daß es diesem Mann nicht auf ein paar Wochen oder Monate Gefängnis ankommt, daß er nichts für sich will, sondern sich nur als Soldat der Menschheit fühlt, der den Platz verteidigt, auf den sein Gewissen ihn gestellt hat. Die Schroffheit, mit der gegen ihn vorgegangen wird, mit der dieser ganze Fall überhaupt aufgerollt wurde, erweist sich immer mehr als grausamer Rechenfehler. Die Bewegung gegen den § 218 ist nicht neu, aber es fehlte ihr die zentrale Kraft, sie hat in den letzten Jahren, seit sich das Theater ihrer bemächtigt hat, einen stark literarischen Charakter gehabt, ohne ganz ins Breite zu gehen. Jetzt schenkt ihr ein übereifriger Staatsanwalt, was ihr bisher gefehlt hat: den Vorkämpfer, den makellosen Vertreter der Idee unter Anklage und im Gefängnis; die Mittelpunktsfigur, das Symbol. Bisher war dieser Paragraph ein weit entrücktes, gefährliches Etwas; jetzt haben wir ihn in greifbarer Nähe, jetzt können wir endlich Tuchfühlung nehmen.

Es ist sogleich die Frage eines Volksbegehrens aufgeworfen worden. Ein Gedanke, der mit Begeisterung ergriffen werden müßte, wenn die Bedingungen, an die ein Volksbegehren geknüpft ist, ein Gelingen nicht von vornherein unmöglich machten. Aber unabhängig davon wird doch eine stürmische Volksbewegung einsetzen, die nicht mehr geringschätzig behandelt werden kann. Hier ist eine Sache, die jeden Einzelnen hart anfaßt, hier gibt es keine Exklusivität mehr. Das ist etwas andres als die albernen demagogischen Plebiszite der Rechten, die sich um »Youngsklaverei«, Preußenwahl und ähnliches drehen. Die deutsche Reaktion schien in die Wolken zu wachsen. Nun findet sie sich plötzlich einer Hemmung gegenüber, vor der ihr gespielter Sozialradikalismus nicht weiterhilft, vor der sie ihr wahres Gesicht zeigen muß. Es wird ein Kampf entbrennen, in dem sich mehr entscheiden kann als das Weiterleben des § 218. Zum erstenmal seit langer Zeit liegt die Initiative nicht mehr auf der Rechten. Diese Folgen hat der stuttgarter Ankläger nicht geahnt.

Die Weltbühne, 3. März 1931


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