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Brüning und sein Ruhm

Legende

Ein Herr Rüdiger Robert Beer hat eine Schrift über den Reichskanzler Brüning herausgegeben, die wir vorige Woche mit einem kleinen heitern Licht gestreift hatten. Wir glaubten dabei nicht, daß es notwendig sein würde, auf diese ganz unwesentliche Arbeit, die sich durch nichts auszeichnet als durch Wichtigtuerei und falsche Biederkeit, nochmals zurückzukommen. Inzwischen hat sich gezeigt, daß auch Herr Beer seine Bewunderer hat und daß auch ein liberal-demokratisches Blatt wie die ›Frankfurter Zeitung‹, um ihrer Sympathie für Brüning Ausdruck zu geben, sich einer Interpretation bedient, die in ihrer psychologischen Hilflosigkeit und ihrer politischen Verwaschenheit kaum anders als komisch genommen werden kann. Es handelt sich nicht um Herrn Beer, einen jungnickelnden Stilisten, sondern um den von ihm Biographisierten und seine Verehrer.

Schopenhauer hat sich einmal über die Kathederphilosophen lustig gemacht, für die die Weisheit des Sokrates, die uns doch nur in Anekdoten überliefert wird, ein Axiom ist. Wir haben es augenblicklich mit einem ähnlichen Axiom zu tun: das ist die Staatsweisheit des Herrn Doktor Brüning. Herr Beer zitiert ein Wort des Prälaten Kaas, der durch Krankheit behindert, aber wohl auch in dem Gefühl, daß ein katholischer Kleriker für die höchsten politischen Reichsämter nicht geeignet ist, in den letzten Jahren immer mehr zugunsten Brünings zurückgetreten ist: »Ich habe ihn systematisch in die vordere Reihe geschoben, weil ich in ihm eine Synthese zwischen Denken und Handeln entdeckte, wie man sie ähnlich vielleicht nur bei den Staatsmännern der alten Griechen findet.« Und Herr Rudolf Kircher, der berliner Botschafter der ›Frankfurter Zeitung‹, der das kümmerliche Dekokt des Herrn Beer ernst genug findet, um sich in mehr als acht Spalten unterm Strich darüber zu verbreiten, meint: »In der Person Brünings hat sich das Deutschtum wieder auf die Eigenschaften besonnen, die uns im öffentlichen Leben unter Wilhelm, aber auch im Jahrzehnt der Parteidemagogie, fast aus den Augen entschwunden waren.« Und weiter: »Ihm fehlen die gewohnten Interpretationsmittel, sei es wilhelminischer, sei es demokratisch-demagogischer Art.« Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, mit welcher Selbstverständlichkeit hier in einer der letzten bürgerlich-demokratischen Bastionen Demokratie gleich Demagogie gesetzt wird. Auch wir schätzen an dem Kanzler die Schlichtheit, die unpersönliche Art, hinter seinem Amt zu verschwinden. Aber in der Politik kommt es schließlich nicht darauf an, ob ein Minister beim Scheiden von seinem Amt nur den einen Handkoffer mitnimmt, den er ins Haus brachte, sondern ob er ein Staatsmann geworden ist und was er an staatsmännischen Fakten hinterläßt. Ginge es nach der Einfachheit der Lebensführung und dem Verzicht auf die Annehmlichkeiten des Daseins allein, so wäre der trostlos tugendhafte Robespierre der segensreichste aller Regierer gewesen, was die Frankfurterin, deren altes Sonnemannsches Geruchsorgan plötzlich gegen demokratisch-demagogische Mißdüfte so empfindlich geworden ist, gewiß nicht zulassen möchte. Es ist wohl aller Ehren wert, wenn Herr Brüning den nicht verbrauchten Teil seines Gehaltes an die Reichskasse zurückverweist, aber politisch bedeutsamer wäre es, wenn er sein Geld behielte und dafür durch eine Notverordnung weitere Auszahlungen an die abgefundenen Fürsten verhinderte. Das ist der alte Trick, der Dreh mit dem »rein Menschlichen«, vor eine höchst anfechtbare Politik die höchst unanfechtbare Person des Verantwortlichen zu stellen. Nirgends hat Brüning bisher Staatsmannstum gezeigt und bewährt. Seine Notverordnungen sind nach den primitivsten kapitalistischen Rezepten hergestellt, hohe Steuern, niedrige Löhne. Seine Innenpolitik bedeutet den Anbruch neuer Kulturreaktion, das Ende der Versammlungs- und Pressefreiheit. Seine Außenpolitik den Beginn des sogenannten Aktivismus, die traurige Episode der Zollunion. Unter diesem Kanzler ist in fünfzehn Monaten viel geschehen – aber wo hätte er Initiative, wo schöpferische Kraft gezeigt? Hat er seine diktatorischen Befugnisse gebraucht, um auch nur einem einzigen Mißstand zu Leibe zu gehen? Brünings Ruhm – das ist die Hoffnung des politisch und wirtschaftlich lahmgeprügelten Bürgertums, der Mann, der es aus seinen verfassungsmäßig garantierten Freiheiten vertrieben, unter dessen tatenloser Anwesenheit seine ökonomischen Positionen in Stücke geschlagen wurden, werde ihm wenigstens ein bescheidenes kapitalistisches Altenteil sichern.

»Er kam nicht ins Amt, um zu diktieren. Er kam mit einer parteipolitischen Idee, die sich nicht verwirklicht hat.« So Herr Kircher, ohne sich leider über diese Idee näher zu äußern. Etwas deutlicher wird schon Herr Beer, wenn er die Programmrede Stegerwalds vom essener Kongreß der Christlichen Gewerkschaften im Jahre 1920 erwähnt. In dieser Rede forderte Stegerwald »an die Stelle der formalen westlerischen Demokratie die organische Demokratie der Selbstverwaltung zu setzen«. Damals war Brüning der Famulus Stegerwalds, und im ›Deutschen‹ hat er diese Anschauungen später oft vertreten. Das Gedächtnis der Menschen und besonders jener, die die Zeitungen schreiben, ist schwach. Sonst würde doch irgend jemand Artikel aus jener Zeit wieder ausgraben, in denen zu lesen war, daß dies Programm Stegerwalds den ersten Versuch in der Zentrumspartei darstellte, wieder in die alten reaktionären Bahnen zurückzugehen, die schroffe Absage an die Erzbergerpolitik der ersten republikanischen Jahre. Wenn Herr Brüning einem Programm treu gewesen ist, dann diesem. Mit verschränkten Armen hat er von April bis September 1930 zugesehen, wie der Wahlkampf ausschließlich gegen Links, gegen die Arbeiterschaft geführt wurde, gegen Erfüllungspolitik und Völkerbund, gegen Sozialpolitik, gegen Gedankenfreiheit und Menschenrechte. Auf alle Apostrophen, sich doch endlich zu äußern, ob er das Bündnis mit Hugenberg und Hitler wolle oder nicht, hat er geschwiegen. Damit ist er zum Wegbereiter des reaktionären Triumphes vom 14. September geworden, zum Mitverantwortlichen für das Unheil, das seitdem über Deutschland hereingebrochen ist. Wenn etwas in dieser Zeit gelungen ist, so die Beseitigung der »formalen westlerischen Demokratie«, die übrigens schon früher nicht allzu üppig ins Kraut geschossen war. Hier ist an die Stelle der verfassungsmäßig verbrieften Garantien bürgerlicher Freiheit die ganz unformale und gar nicht westlerische Polizei getreten. Die »organische Demokratie der Selbstverwaltung« wird dagegen wohl noch etwas auf sich warten lassen. Denn einstweilen gibt es nichts zu verwalten als die Pleite.

Der Reichskanzler Brüning hat wenig bewirkt, aber viel zugelassen. Wenn sein Ruf als Außenpolitiker trotzdem zusehends wächst, wenn Beer sogar in der Lage ist, enthusiastische Auslandsstimmen zu zitieren, so hat das einen recht prosaischen Grund. In Deutschland haben sich in diesen Jahren so viele lärmende Hanswurste vorgedrängt, daß ein ernst aussehender Mann, der wenig spricht, schon als ein Genie angestaunt werden muß. An wen soll sich das Ausland halten? An Schacht oder Bang? An Seeckt? Zwischen randalierenden und ahnungslos herumspielenden Halbwüchsigen erwacht das Verlangen nach einem Erwachsenen. Außerdem hält man einen katholischen Politiker niemals für ganz dumm. Erst wenn die Phantasten, die Katastrophen-Spezialisten, etwas zur Ruhe gekommen sind, wird die Stimme des Außenpolitikers Brüning vernehmbar werden. Aber erst dann wird sich auch ein Urteil fällen lassen. Bis jetzt mahnen die innenpolitischen Folgen der Kanzlerschaft Brünings zur Vorsicht. Wenigstens uns, die wir nicht über das virtuose seelenkennerische Rüstzeug von Beer und Kircher verfügen, infolgedessen auch nicht über deren unbegrenztes Vertrauen.

Politik ohne Geld

Als vor drei Wochen die Danatbank zusammenkrachte, senkte sich auf das allgemeine Entsetzen ein merkwürdiges tröstendes Gefühl nieder, die Ahnung, daß die Ära des Kapitalismus vorbei ist, daß es auf den Besitz des Einzelnen nicht mehr ankommt. In den Galgenhumor mischte sich die Hoffnung auf ein Neues, ein Unbekanntes. Die Menschen hatten es weniger im Bewußtsein als in den Nerven, daß dieser gigantische Klotz: die Wirtschaft, der ihnen sonst jede Minute ihrer Existenz diktierte, plötzlich gesprungen war, daß er seinen Schrecken verloren hatte.

War dies Gefühl nicht berechtigt? Flüchtete nicht die Großmacht Wirtschaft, die bisher bei jeder Gelegenheit ihre Superiorität mit einer Intoleranz ohnegleichen betont hatte, unter die abgeschabten Rockschöße des sonst immer in die Ecke gedrängten Staates? Seitdem hat der Staat sehr viele Findelkinder aufnehmen müssen. Die größte sächsische Bank hat sich mit der Staatsbank vereinigt; wenn sich auch die Schriftgelehrten im Augenblick noch nicht einig sind, welchem Institut es am schlechtesten ging, so besagt doch die Entscheidung der Privatbank, daß sie den Staat für kein Bankrottunternehmen hält. Und während diese Zeilen geschrieben werden, sind die Meldungen noch nicht dementiert, daß das Reich in die Dresdener Bank einzusteigen beabsichtige. Wir stehen am Anfang einer neuen Entwicklung. Erst nach Einführung des vollen Zahlungsverkehrs wird sich ein Überschlag über den Stand der Wirtschaft machen lassen. Die gegenwärtige Dunkelheit verhindert nicht nur das Sehen, sondern auch den Griff in eigne oder fremde Taschen. Bald wird es tagen, und bei hellem Tageslicht wird der Kapitalismus fürchterlich aussehen. Ein bleiches, ausgehöhltes Gespenst, dem die Haut grau und runzlig um die dürren Glieder schlottert. Ein Fresser, der plötzlich auf Wasser und Brot gesetzt ist und zusehends verfällt. Für den deutschen Kapitalismus ist der 13. Juli das geworden, was der 14. September für die deutsche Demokratie gewesen ist. Aber so wie Hitler den Tag nach dem 14. September versäumte und damit eine Gelegenheit, die niemals wiederkehren wird, so verpaßt der Staat heute die Stunde, den Kapitalismus für immer unter seine Hoheit zu bringen, das generationenlange Duell zwischen Staat und Wirtschaft mit seinem endgültigen Siege zu beenden. Alles was die Regierung unternimmt, läuft darauf hinaus, sie zu päppeln, zu sanieren. Aber dieser Patient wird niemals mehr gesund werden.

Was wirklich los ist, hat die öffentliche Meinung viel besser in den Fingerspitzen. Wer beachtet noch die polternden Kundgebungen der Schwerindustrie? Wo liest man noch etwas von »freier Wirtschaft«, »privater Initiative«? Wo noch die altgewohnten Deklamationen gegen die öffentliche Hand? Welches Blatt zitiert eigentlich noch die ›Bergwerkszeitung‹, die ›Börsenzeitung‹ oder die ›Deutsche Allgemeine Zeitung‹, die gestern noch so pompösen Herolde des klassenbewußten Unternehmertums? Diese schwer gepanzerten Industriemoniteure wirken vorgestrig, und außerdem sind sie reichlich kleinlaut geworden. Die gestern noch wie Blücher übern Rhein wollten, warten nun ganz klein und häßlich auf den pariser Pump.

Was wir jetzt in Deutschland erleben, diese Kirchhofsruhe, dieses höfliche Schweigen auch der wildesten Parteien, ist etwas ganz Einzigartiges. Die Parteien haben kein Geld, und damit hört auch die Politik auf. Wenn man Sozis oder Reichsbannerleute fragt, warum sie nichts gegen den Stahlhelm unternehmen, so antworten sie resigniert, wir haben kein Geld. Fragt man die Stahlhelmleute, warum die Agitation für den Volksentscheid so gemächlich betrieben werde, so heißt es auch hier achselzuckend: Kein Geld! Dasselbe wird man hören, falls das Referendum fehlschlägt. Hugenberg selbst, der alte Cherusker, schaut sinnend auf sein Bärenfell, denn auch er sitzt bei der Danatbank fest. Hitler, der Brecher der Zinsknechtschaft, ist stillgeworden, seitdem Lahusens keine Wolle mehr kämmen und seitdem seine andern Mäzene ihr bißchen Geld lieber zum Einkauf von Lebensmitteln verwenden, was entschieden vernünftiger ist. Und die K.P.D., die revolutionäre Partei, die seit Jahr und Tag Bastillen stürmt und Systeme an der Wurzel packt? Sie denkt nicht im Traum an Revolution. Sie beteiligt sich lieber am Volksentscheid, einer streng legalen Sache, um die Energie ihrer Aktivsten zu beschäftigen. Ein Ablenkungsmanöver; Getöse ohne Kampf.

Es ist kein Geld da, und deshalb stagniert auch die Politik. Wo die Herren vom Bau notgedrungen agieren, tun sies wie Schauspieler auf der Probe: sie bleiben in der Alltagskleidung und schonen die Stimme; sie markieren. So wird mit seltener Eindringlichkeit eine ungeheure Kluft sichtbar: hier die Parteiapparate, die mangels Betriebsstoff ruhen, hier das Volk mit seinen Sorgen, mit seiner Empörung, mit seiner Not, die keine Pause kennt.

Aber, gesetzt, es käme morgen wieder Geld ins Land – dieser Augenblick dürfte fürchterlich werden. Wenn erst die Kredite des Erbfeindes hereinströmen, dann fährt neuer Lebensmut in die Verzagten. Dann aber: Licht aus, Messer raus! Die Parteiapparate fangen an zu glühen und zu brodeln wie delirierende Wurstkessel. Sie speien wieder Flugblätter, Reden, Schlagzeilen. Die Hermannsschlacht respektive Volksrevolution respektive Kampf für respektive gegen die Republik setzt mit ungeahnter Vehemenz ein. Aber erst muß wieder etwas Geld da sein.

Pressechef verkündet die Autarkie

Zwei englische und ein amerikanischer Minister sind in Berlin gewesen und wieder abgereist. Laval wird nach Berlin kommen, Brüning und Curtius werden nach Rom fahren. In der Außenpolitik, die noch vor einiger Zeit eingefroren schien, herrscht totale Mobilmachung. Dennoch weiß man nicht recht, zu welchem Ende, und vor allem weiß man nicht, was die Reichsregierung will. Welches sind ihre Pläne? Niemand kann darüber Genaues sagen, und ziemlich sicher ist nur, daß starke Kräfte in der Reichsregierung der Verständigung mit Paris widerstreben.

In dieses etwas wirre Rätselraten fällt plötzlich ein Licht von Oben. Die Reichsregierung selbst ist es, die in einer an die ›B.Z. am Mittag‹ gesandten Entgegnung auf Grund der Notverordnung »zur Bekämpfung der politischen Ausschreitungen« ihre außenpolitische Linie zu definieren sucht. Die politische Ausschreitung des Blattes besteht darin, das unterstützt zu haben, was von wohlwollenden Beurteilern für die Politik der Reichsregierung gehalten wird.

Die ›B.Z.‹ mag sich ungeheuer gewundert haben, als ihr so unvermittelt attestiert wurde, daß sie Sicherheit und Ordnung gefährde. In Wahrheit hat sie der Regierung einen Gefallen erweisen wollen, indem sie sich gegen unberufene nationalistische Ratgeber wandte: »Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß gewisse Kreise den Ausgang der Londoner Konferenz und die Tatsache der augenblicklich nicht bestehenden Anleihemöglichkeiten dazu benutzen wollen, die vom Reichskanzler in Paris und London angebahnte deutsch-französische Annäherung als überflüssig hinzustellen und damit zu sabotieren.« Die Entgegnung des Herrn Ministerialdirektors Doktor Zechlin, der sich als Pressechef nun wohl als unser aller Vorgesetzter fühlt, schwingt sich ganz gemütlich darüber hinweg, daß die ›B.Z.‹ ja nur »gewisse Kreise« beschuldigt, solche Auffassungen zu vertreten. Er verteidigt schlankweg die gar nicht angegriffene Regierung: »Die Reichsregierung treibt keine ›Prestigepolitik‹ auch nicht Frankreich gegenüber.« Niemand hat das behauptet. »Die für eine Deutschland-Anleihe geforderte Staatsgarantie Frankreichs, Englands und Amerikas ist in keiner Weise zu erhalten. Die Ausführungen der ›B.Z. am Mittag‹ gefährden daher den Willen des deutschen Volkes zur Selbsthilfe und schwächen das Vertrauen auf seine eigne Kraft, durch das in diesen Zeiten allein die Überwindung der Wirtschaftsnöte möglich ist.«

Die Überraschung über diese Art von Zwangsentgegnung war ungeheuer. Auffällig genug ist es, wenn ein Blatt, das der Regierung nach Kräften zu sekundieren sucht, derartig gerüffelt wird; auch der ›Börsencourier‹, der in der Regierung Brüning so ziemlich das Erlesenste seit Bismarck sieht, hat wegen einer andern Sache einen Wischer bekommen. Handelt es sich hier nur um die Machtgelüste eines Pressechefs, der sich als Pressevogt fühlt, oder wünscht die Regierung nicht die Unterstützung von Blättern, die zur Verständigung mit Frankreich raten? Der zweite Punkt ist ernster. Denn es ist die eigne Sache der betroffenen Zeitungen, wenn ihre gläubige Beflissenheit enttäuscht wird, das andre aber ist ein Politicum ersten Ranges. Bisher wenigstens mußte man der Meinung sein, daß die »Selbsthilfe« die Bemühungen um eine langfristige Anleihe nicht ausschließe und nur der notwendigsten innern Balance zu dienen habe. Der Herr Pressechef jedoch unterstreicht das Vertrauen auf »eigne Kraft, durch das in diesen Zeiten allein die Überwindung der Wirtschaftskrise möglich ist«. Das wäre doch ein offenes Bekenntnis zur sogenannten Autarkie, und man versteht nicht recht, warum danach noch Unterhandlungen mit Laval und Mussolini nötig sein sollen. Es ist ja alles in Ordnung. Wir ersetzen ein Mittagessen durch stramme Haltung.

Von vornherein haftete der Regierung Brüning eine fatale außenpolitische Zweideutigkeit an, die der Kanzler erst jüngst beseitigt hat. Soll dieses gefährliche Spiel von neuem beginnen? Pariser Blätter schreiben bereits, die Reichsregierung verbreite die Meinung, daß sie von Frankreich selbst gegen politische Garantien keine Kredite erhalte. Es muß schnell und eindeutig geklärt werden, ob der Herr Reichspressechef als Interpret offizieller Meinungen aufgetreten ist oder ob er in eignen Improvisationen geschwelgt hat. Seit 1918 stand es niemals gut um Deutschland, wenn wir »aus eigner Kraft« und »allein« fertig werden wollten. Auch ohne törichte Experimente werden die nächsten Monate schwer genug werden. Die Autarkie führt die Kohlrübe im Wappen. Das stolze »Allein« heißt: allein verkümmern, allein verhungern. Der Reichskanzler mag nicht so groß sein wie sein Ruhm, aber er wird klug genug sein, um zu wissen, daß kein Staatsmann mehr dem Volke das grauenhafte Opfer einer selbstgeschaffenen Blockade auferlegen kann, die, wie Dreiundzwanzig, mit einer elenden und bedingungslosen Kapitulation enden muß. Der nächste verlorene Ruhrkrieg wird ganz Deutschland in Brand stecken. Illusionen darüber, Herr Pressechef, gefährden Sicherheit und Ordnung.

Die Weltbühne, 4. August 1931


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