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Katholische Diktatur

Was bedeutet die Notverordnung? Die Notverordnung der Reichsregierung vom 28. März soll nach den Erläuterungen der republikanischen Presse eine Abwehrmaßnahme gegen den wachsenden Terror des Nationalsozialismus sein. Sie soll die Prediger der Gewalt und der Gesetzesverachtung in der Presse und auf der Rednertribüne ebenso treffen wie die kleinen namenlosen Bravi, die im nächtlichen Dunkel mit Knüppel und Revolver die empfangene Lehre in blutige Taten umsetzen. Auch wir haben niemals bestritten, daß der Fascismus härter angepackt werden muß. Aber dazu hätten die bestehenden Gesetze, die ja auch nicht von Pappe sind, durchaus genügt. Es wäre ein Unsinn, eine vitale Bewegung, die über Millionen gebietet, in die Katakomben zu treiben und ihr eine Heimlichkeit aufzunötigen, in der die konspirativen Instinkte sich erst recht entwickeln können. Wir würden gegen eine lex Hitler sein, auch wenn wir glaubten, daß es der Regierung Brüning mit dem Kampf gegen den Fascismus Ernst wäre. Es fehlt in Deutschland wirklich nicht an Gesetzen, um eine staatszerstörende Partei unschädlich zu machen, es hapert nur mit den Exekutivorganen, bei denen Lässigkeit und böser Wille oft die Anwendung der ganzen Schärfe des Gesetzes hindern. Die siebzehn Paragraphen dieser Notverordnung bedeuten eine radikale Außerkraftsetzung von Rede- und Schreibfreiheit, aber sie enthalten nicht eine Silbe über Justizpersonen, die nationalsozialistische Hetzer und Totschläger mit dem blauen Auge davonkommen lassen, und über Beamte, die den Feinden des Staates Vorschub leisten. Zugegeben selbst, daß der Mißbrauch der Versammlungsfreiheit überhand genommen hat, viel ernster ist der Mißbrauch, der mit den alten liberalen Palladien »Unabhängigkeit der Justiz« und »wohlerworbenen Beamtenrechten« getrieben wird. Hier hätte der Hebel angesetzt werden müssen, und zwei kurze Paragraphen hätten dazu genügt. Statt einige zehntausend reaktionäre Beamte, die sich weigern, ihre Pflicht zu tun, zum Gehorsam anzuhalten, zieht die Regierung Brüning es vor, ein Volk von fünfzig Millionen unter Kuratel zu stellen.

§ 16 der Verordnung lautet: »Die in Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung genannten Grundrechte werden für die Geltungsdauer dieser Verordnung in dem zu ihrer Durchführung erforderlichen Umfang außer Kraft gesetzt.« Das sind die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153. Um ein paar geifernde Agitatorenmäuler zu stopfen, um ein paar zum Schlag erhobene Fäuste aufzuhalten, soll also für ungewisse Zeit aufgehoben sein

die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit;
die Unverletzlichkeit der Wohnung;
die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses;
die Meinungsfreiheit in Wort, Schrift, Druck, Bild;
die Versammlungsfreiheit;
die Vereinsfreiheit;
die Unverletzlichkeit des Eigentums.

Was den letzten Punkt angeht, so kann man allerdings beruhigt sein, denn die Regierung dürfte ihre Vollmacht kaum dazu verwenden, etwa die Montanindustrie zu verstaatlichen oder Kapitalverschieber zu enteignen. Im Gegenteil, es war eine gewiß nicht beabsichtigte Ironie, daß mit diesem Artikel 153 auch sein letzter Absatz suspendiert ist: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste.«

Alles in allem: ein Willkürregiment in Großfolio. Es können Briefe geöffnet und Telephongespräche abgehört, es können Verhaftungen vorgenommen werden, ohne daß der Arrestant erfährt, warum, und ohne daß er in gesetzmäßiger Frist seinem Richter vorgeführt wird; es kann auf Grund dieser Verordnung die Gründung neuer Parteien untersagt werden. Ein Verteidiger des Ausnahmezustandes, der kasseler Regierungspräsident Doktor Friedensburg, schreibt in der ›Frankfurter Zeitung‹: »In bezug auf Versammlungen und Umzüge, das Führen von Waffen und Abzeichen, die Verbreitung von Plakaten und Flugblättern, sogar in bezug auf die politischen Ausführungen der Presse erhalten die Polizeibehörden so weitgehende Vollmachten, daß praktisch jede erdenkliche polizeiwidrige Betätigung verhindert werden kann.« Wir könnten dem Herrn Verfasser durchaus beipflichten, wenn er statt »jede erdenkliche polizeiwidrige Betätigung« geschrieben hätte: »jede unerwünschte politische Betätigung.« Bei den offenen konservativen und sozialreaktionären Tendenzen der Regierung Brüning, in der schließlich auch Herr Treviranus sitzt und Herr Schiele, der »das ganze System am liebsten zum Teufel jagen« möchte, und Herr Groener, der schon eine neue Verordnung ankündigt gegen die Leute, die ihm in seine militärischen Geheimnisse hineinmuddeln, ist anzunehmen, daß das Ausnahmegesetz den Oppositionellen von links schrecklicher werden wird als denen von rechts. Kommunisten, Linkssozialisten, Pazifisten, unabhängige Republikaner, streikende Arbeiter, verzweifelte Arbeitslose, sie alle stehen jetzt außerhalb des Gesetzes. Man muß in der Geschichte weit zurückgehen, um außerhalb des Kriegszustandes auf eine so rigorose Aufhebung aller verfassungsmäßigen Garantien zu stoßen. Man muß schon zurückgehen auf die berüchtigten Ordonnanzen des Ministeriums Polignac vom 26. Juli 1830, die das Volk von Paris zwei Tage später mit der revolutionären Erhebung, mit der Julirevolution beantwortete. Die Ordonnanzen des republikanischen Hindenburgministers Brüning sind nicht minder einschneidend als die des ultrakonservativen Bourbonenministers Polignac, aber der Applomb ist geringer. Die Sozialdemokraten zucken die Achseln und erklären, daß man zur Bekämpfung der fascistischen Gefahr halt Opfer bringen muß, und insgeheim hoffen sie dabei auch noch auf größtmögliche Schädigung der kommunistischen Konkurrenz. Die Liberalen ... lassen wir das! Sie schwingen sich kaum noch zu Verwahrungen auf gegen Film- und Kunstzensur, gegen Eingriffe in die ästhetische Domäne, die letzte ihnen verbliebene.

Diese Notverordnung ist nach Gesetz und Recht unzulässig. Die März-Ordonnanzen der Regierung Brüning bedeuten eine Verletzung der Verfassung und eine Mißachtung des Parlaments. Hätte diese Volksvertretung nur einen Bruchteil von dem Selbstbewußtsein der englischen, von der demokratischen Wachsamkeit der französischen, sie wäre augenblicklich wieder zusammengetreten, um der Regierung eine Diktatur aus der Hand zu schlagen, die sie wie zum Hohne, vierundzwanzig Stunden nach der Vertagung des Parlaments verkündet. Der Reichstag, der sich das widerspruchslos gefallen läßt, degradiert sich selbst zu einem würdelosen Figurantentum. Die Parlamentarier werden Beamte, die das Volk zum Zwecke des Jasagens wählt und die die Regierung mit einem Freibillett nach Hause schickt, wenn die wirklichen Aufgaben der Volksvertretung erst beginnen. In dem einen Jahre seiner Kanzlerschaft hat Herr Brüning die republikanischen Parteien durch Einschüchterung genötigt, eine Position nach der andern preiszugeben. Mit dem ihr eignen goldenen Humor schreibt die ›Deutsche Allgemeine Zeitung‹ dem davonschleichenden Reichstag ins Poesiealbum: »Wenn die Weimarer Verfassung wenige Vorzüge besitzt, so doch offenbar den einen, die Möglichkeit der Korrektur für Exzesse der Freiheit zu bieten.« Kleiner Schäker, wann hätte diese Demokratie jemals freiheitlich excediert? Die Herren Republikaner haben das Recht, sich selbst zu korrigieren, nicht grade sehr zurückhaltend angewendet. Jetzt haben sie auch das Herrn Brüning überlassen, und man muß sagen, sie sparen nicht mit Dankesbezeugungen, weil er sie nicht gleich ganz abschlachtet, sondern sie einstweilen nur zu päpstlichen Sängern korrigiert.

Großreinemachen bei Hitler

Es ist ein besonders arroganter Witz des Schicksals, daß ein paar Tage nach Erlaß der März-Ordonnanzen schon ein Ereignis eintritt, durch das die Partei, gegen die sie sich angeblich richten, erheblich geschwächt, zum mindesten aber an Gestalt und Gesicht verändert wird. Wenn es dem Kanzler nur um die Bekämpfung der Nationalsozialisten zu tun wäre, so könnte er das Ausnahmegesetz ohne Gewissensnöte heute aufheben, denn es wird die Auseinandersetzung auf der Rechten eher stören als fördern. Einerlei, wie hoch man den ja nicht seit gestern bestehenden Führerkonflikt in der Nationalsozialistischen Partei einschätzt, ihre revolutionäre Stoßkraft ist erschüttert, sie kann nicht marschieren, ehe sie sich nicht wieder innerlich geordnet hat.

Schon kurz vor den Wahlen gab es zwischen der Reichsparteileitung und den berliner S.A.-Leuten beträchtliche Differenzen, die damals zu einer zackigen S.A.-Attacke auf das Stabsquartier in der Hedemann-Straße führten. Hauptmann Stennes, der berliner Leiter, ein robuster kleinhirniger Condottiere, dessen Name mit der dunklen Geschichte der Hundertschaft z. b. V. verbunden bleibt, muckte auf, weil er kein Reichstagsmandat abbekommen hatte. Den ersten Aufruhr dämpfte Hitler durch ein Kompromiß, doch schon damals wurde von der Sezessionsgruppe Otto Strassers gesagt, daß der Allerhöchste Adolf nur darauf warte, mit den Landsknechten ganz Schluß zu machen.

Deshalb scheint es auch jetzt zweifelhaft zu sein, ob wir es hier mit einer von Herrn Stennes inszenierten Revolte zu tun haben oder mit einer von München bewußt herbeigeführten Abstoßung von Elementen, deren revolutionärer Ludergeruch geeignet ist, die Bank- und Industrieverbindungen der Großkopfeten auf die Dauer zu stören. Das zu untersuchen, soll nicht unsre Sorge sein, bei dem erblichen deutschen Talent für die Analysis von Schuldfragen, werden sich dafür schon genügend Spezialisten finden, es berührt uns auch wenig, ob die Partei mit der Ausmerzung ihrer Totschlägerabteilungen nicht ein gutes Stück ihrer Anziehungskraft verliert. Als wichtigste politische Folge müssen wir zunächst betrachten, daß es eine Nationalsozialistische Partei, die auf ihre Gurgelabschneider verzichtet, leichter hat, den Schein von braver Legalität zu wahren. Man darf auch in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß Hitler schon im Sommer 1929 die holsteinischen Pulververschwörer rückhaltlos preisgegeben hat. Die neue Notverordnung schützt nicht so sehr das Haus der Republik wie das Braune Palais in München, sie schützt Hitler vor den Abgefallenen, vor der Demolierung durch Rebellen. Hat er nicht selbst sofort zur sorgfältigen Beachtung der Notverordnung aufgefordert? Bald wird er fest auf ihrem Boden stehen, die von sozialrevolutionären Keimen gereinigte N.S.D.A.P. wird im Herbst in den Reichstag zurückfinden und etwas später an die Seite der Regierung Brüning. Das aber würde zu einer neuen Verlegung des parlamentarischen Schwerpunktes führen, die Sozialdemokraten überflüssig machen. Begreifst du das, lieber ›Vorwärts‹?

Ein katholischer Staatsmann

Am 19. August 1930 erschien in der ›Germania‹, dem berliner Zentrumsorgan, ein Artikel des bekannten Jesuitenpaters Professor Friedrich Muckermann, der damals, mitten im Wahlkampf, mit Recht alarmierend wirkte. Herr Professor Muckermann kennzeichnete darin mit bewundernswerter Schärfe den Krisenzustand der Demokratie; besseres ist in diesem ganzen geistig so niedrig stehenden Wahlkampf nicht geschrieben worden: »Es wird entweder ein arbeitsfähiges Parlament geben oder das letzte Parlament der Weimarer Zeit sein. Es wird sich entscheiden, ob die Anwendung des Artikels 48 in die Ära eines erneuerten Parlamentarismus hinein- oder aber aus der Ära eines heruntergewirtschafteten Parlamentarismus überhaupt herausführt. Wir wollen jetzt die Frage nicht untersuchen, was letzte Verantwortung vor dem Volk von einem Reichskanzler verlangt, der auch das jetzt zu wählende Parlament wieder nach Hause schicken müßte. Wir wollen für diesen Fall nur bemerken, daß die christliche Moral nicht bloß dazu da ist, um ein fait accompli, das ihre Gegner machen, hinterher gutzuheißen, sondern daß sie auch dem katholischen Staatsmann die Möglichkeit gibt, unter gewissen Bedingungen ein fait accompli zu schaffen.«

Als wir kurz nach dem 14. September an diesen sehr wichtigen Artikel erinnerten, verwahrte sich Herr Professor Muckermann brieflich dagegen, daß er der Diktatur das Wort habe reden wollen, sein Artikel wäre nur im Interesse der Demokratie gedacht gewesen. Wir hatten nicht vor, Herrn Professor Muckermann, dessen guter Glaube über jedem Zweifel steht, etwas andres zu unterstellen. Die Schwierigkeiten liegen jedoch darin, daß es bei der Diktatur nicht auf den guten Willen ankommt, sie nicht zu mißbrauchen. Die Diktatur hat ihre eignen Gesetze, sie steht vor allem unter dem Zwang, alle neuen Fragen, die während ihrer Dauer auftauchen, auch wieder diktatorisch zu lösen; und wenn sie endlich, erdrückt von Verantwortung, festgefahren in Widersprüchen, ihre Befugnisse wieder abgeben möchte, dann stellt es sich meistens heraus, daß sie im Laufe ihrer Geschäftsführung die verfassungsmäßigen Instanzen so ganz nebenbei mit umgebracht hat, und statt der Konstitution folgt nur ein neuer Diktator. Aber sonst hat Herr Muckermann erschütternd recht behalten. Herr Brüning regiert nur noch mit dem fait accompli. Er benutzt den Reichstag nur noch als verfassungsmäßiges Dekorum, er benutzt ihn nur insoweit, um dem Ausland zu beweisen, daß der Etat in parlamentarischer Weise verabschiedet wird. Aber sobald die Deputierten aus dem Hause sind, ist das neue fait accompli da. Ob der Herr Reichskanzler sich dabei allerdings ausschließlich an die Möglichkeiten der christlichen Moral hält, möchten wir im Interesse des Christentums lieber ununtersucht lassen, andrerseits ist sein geschicktes Manövrieren nicht groß genug, um dem politischen Immoralismus des florentiner Heiden Macchiavelli Ehre zu machen. Aber als eines erweist sich Herr Brüning in immer stärkerm Maße: als der katholische Staatsmann, dem die Interessen des Katholizismus über alle andern gehen. Vor Jahresfrist, bei seinem Amtsantritt, erschien der Kanzler als ein gemäßigter Nationalist und Konservativer, der den Apparat der demokratischen Republik nur mit innerm Horror anwandte, dann als der trockene wortkarge Vollstrecker der programmatischen Forderungen des Großkapitals. Heute steht er ganz als der erwählte Mann der Katholischen Partei da, seine Diktatur dient vornehmlich der katholischen Kirche. Sie ist die katholische Diktatur sans phrase.

*

Kulturkampf

Es hat kürzlich einiges Staunen erregt, als der Reichsminister Doktor Wirth in einer Parlamentsrede wiederholt von einer gemeinsamen Bedrohung Deutschlands durch Nationalsozialismus und Kommunismus sprach und die Gefahren der atheistischen Agitation in groben Farben an die Wand pinselte. Das wurde damals als recht merkwürdig betrachtet, denn wer die Machtverhältnisse kennt, der weiß, daß der Fascismus brutalste Gegenwart ist, der Kommunismus dagegen heute keine praktischen Wirkungsmöglichkeiten hat, daß der Terror der Nationalsozialisten in den verstecktesten deutschen Winkel gedrungen ist, daß dagegen die atheistische Bewegung, und besonders die von Moskau ausgehende »Gottlosen«-Agitation, nur eben die Peripherie des Volkes erfaßt. Erschien schon die Gleichsetzung von Bolschewismus und Hitlertum seltsam, so muß sich die »Gottlosigkeit«, von Herrn Wirth auf die dritte der apokalyptischen Mähren gesetzt, noch viel unwahrscheinlicher ausnehmen. Die Notverordnung zieht durchaus die Konsequenz der Rede Joseph Wirths, sie stellt auch die Religion unter den Schutz des Ausnahmegesetzes. Und wenn auch die Nationalsozialisten bisher von den neuen Verordnungen noch nicht viel abbekommen haben, so sind doch schon ein paar Freidenkerversammlungen verboten worden. Die Bischöfe denken nicht daran, die Hakenkreuzler und Wotansjünger umsonst zu exkommunizieren, dafür muß Severing, der in seiner Vergangenheit als Agitator im roten Westfalen wohl auch nicht immer Psalmen gesungen hat, den Genossen, die für Kirchenaustritt sind, in die Parade fahren. Und beschlagnahmt ist auch die kommunistische Zeitschrift ›Der Rote Aufbau‹. Ein symbolischer Akt. Über roten Aufbau darf nicht mehr gesprochen werden, jetzt ist der schwarze Abbau dran.

Der Katholizismus müßte aus seiner langen Erfahrung wissen, daß die Religion gewöhnlich zu kurz kommt, wenn die Büttel des Staates die Leute in die Kirchen treiben oder schützend Quarantäne errichten, wenn eine neue Lehre naht. Die wirkliche Bedrohung der Kirche liegt nicht in einer öffentlichen atheistischen Agitation, sondern in der namen- und gestaltlosen sozialen Erschütterung, die alte Autoritäten und Gemütsbindungen unterhöhlt. Diese Erschütterung von innen heraus hat nichts mit freidenkerischer Propaganda zu tun, sie endet nicht im demonstrativen Unglauben sondern in der kalten Gleichgültigkeit. Es ist eine stille, ungreifbare Auszehrung, die gleiche, unter der jetzt die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften leiden. Die Kirche dürfte demgegenüber nicht so töricht sein, in ihr eignes Mittelalter zurückzufallen und eine Krankheit anstatt mit Medikamenten mit exorzierenden Formeln zu bannen versuchen. Die Kirche sollte sich auch endlich daran gewöhnen, in der Freidenkerbewegung etwas andres zu sehen als eine schamlose Dirne, die man am besten an den Pfahl bindet und mit Birkenreisern streicht. Grade in Deutschland hat das Freidenkertum schon lange die historische Stellung der verfallenden evangelischen Kirche bezogen. Das Freidenkertum mit seinen schon starren Formen, mit seinem hahnebüchenen Materialismus ist schon lange eine neue Kirche, ein Sammelpunkt für eine besondere deutsche, zum ewigen Protestieren neigende Geistes- und Seelenveranlagung. Hier gibt es noch Kämpfe für und wider Gott, individuelle Gewissensqualen; ein verdrängtes Theologentum tiftelt an Spitzfindigkeiten und sucht den leeren Raum zu füllen, den der Sturz alter Glaubensvorstellungen hinterlassen hat. Es ist ein Kennzeichen des Menschen von heute, daß er um diesen leeren Raum weiß, ohne deswegen unruhig zu sein, und daß er nicht daran denkt, ihn mit einer ideologischen Zementplombe zu füllen. Der Talar des Priesters und der Bratenrock des atheistischen Sonntagspredigers gehören zusammen. Sie beide dienen Gott. Der Eine spendet Weihrauch, der Andre Negation: also Interesse.

Fühlt die Kirche diese geheimnisvolle, körperlose Gewalt des wachsenden Indifferentismus? Bröckelt ihr machtvoller, alter Bau still und ohne laute Katastrophe? Dann ist sie herzlich schlecht beraten, wenn sie, anstatt auf geistige Abwehrmittel zu sinnen, an der physisch faßbaren Person des organisierten Freidenkertums ihre Sanktionen vollstrecken möchte. Grade der deutsche Katholizismus dürfte sich erinnern, wie ausgezeichnet einer geistigen Bewegung ein Kulturkampf von oben bekommt. Will der Katholizismus, der die Schlüsselstellungen der Reichsregierung innehat, gegen seine wirklichen und vermeintlichen Feinde einen Kulturkampf nach bismarckschem Muster entfesseln, so wird die Sache totsicher mit einem andern Canossa enden. Aber diesmal wird es umgekehrt verlaufen, diesmal wird es der Klerus sein, der unten steht. Mag Deutschland auch zeitweilig durch Bolschewisten- und Naziangst noch so sehr durcheinander gewirbelt sein, so ahnungslos ist es doch nicht, als daß es nicht bald erkennen müßte, daß die Regierung zwar Hitler sagt, in Wahrheit aber ihre Vollmacht nur benutzt, um die bescheidenen Überbleibsel geistiger Freiheit zur größern Ehre der katholischen Kirche im Dunkeln abzuwürgen. Mit dem Schlagwort Kulturbolschewismus läßt sich alles abtun, was der religiösen Reaktion verhaßt ist. Mit den Kautschuckbestimmungen der Notverordnung läßt sich ohne viel Aufhebens eine kulturpolitische Bartholomäusnacht gegen die verhaßte moderne Kunst arrangieren. Nackte Machtpolitik kann für eine ausgesprochen religiöse Partei verhängnisvoll enden. Was dem deutschen Katholizismus fehlt, das ist ein wahrhaft christliches Genie, ein neuer Franciscus, der Gott in der leidenden Kreatur sucht und findet. Die Vorsehung hat es indessen anders gewollt. Sie hat ihm keinen Heiligen beschert sondern einen Diktator, Herrn Doktor Brüning.

Die Weltbühne, 7. April 1931


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