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Es ist erreicht!

Es ist heute eine Binsenwahrheit, daß sich der Kapitalismus auf der ganzen Welt in einer ungeheuren Krise befindet. Aber was sich in Deutschland in diesen letzten beiden Wochen abgespielt hat, das ist mehr als das funktionelle Versagen eines Systems, das heute nirgendwo mehr gut arbeitet und überall mehr Enttäuschte und Verzweifelte zurückläßt als Zufriedene. Hier hat politische Unzulänglichkeit die allgemeine wirtschaftliche Misere zu einer besonderen Katastrophe ausgeweitet. Gewiß, ein Bankkrach bedeutet noch keine Götterdämmerung, die Tatsache, daß es auch denen heute jämmerlich geht, die sonst ihren Profit aus der Not der Andern holten, noch nicht den Beginn der Weltvereisung. Aber es ist ein trauriges Resultat, daß wir heute, Juli 1931, trotz aller schlimmen Erfahrungen, nicht besser dran sind als 1918 und 1923. In den Geldzentren der Welt wird wieder disputiert, ob Deutschland der Hilfe würdig ist, und unsre eignen Zahlungsmittel sind wieder höchst fragwürdig geworden. Hier waltet nicht nur die Unbarmherzigkeit eines blinden Schicksals, hier liegt Schuld vor, Schuld und nochmals Schuld.

Wir wollen in diesem Augenblick nicht auf den Reichskanzler Brüning Steine werfen. Wir haben ihn vom ersten Tag seiner Amtsführung an bekämpft, wir haben seine vielgepriesenen Taten mit Kassandrarufen verfolgt und sind dabei so gründlich allein geblieben wie Eremiten in der Wüste. Es bereitet uns keine Genugtuung, daß wir recht behalten haben. Unter diesem Kanzler begann jenes verheerende Schlagwort von der »Aktivierung« unserer Außenpolitik seine Wirkung auszuüben, setzte jene neue Hausse des Nationalismus ein, der wir es verdanken, daß Frankreich uns jetzt in unsrer höchsten Not hartnäckig und mit kühler Rechnergebärde entgegentritt. Unter diesem Kanzler begann auch jener rücksichtslose Auspowerungsprozeß des akkumulierten Kapitals gegen die restlichen deutschen Bürgerschichten, die aus der Inflation noch eben heil herausgekommen waren. Es ist eine besondere Tragikomödie, daß unserm Bürgertum grade die prononziert bürgerlichen Regierungen so verhängnisvoll werden. Unter der Ägide des hanseatischen Musterbürgers Cuno vernichtete Hugo Stinnes ungezählte selbständige Existenzen. Unter dem katholischen Ordnungsretter Brüning zogen Banken und Schwerindustrie eine grauenhafte Elendstrace kreuz und quer durch die letzten Vermögensreserven vertrauensvoller Bürgerseelen, die wie hypnotisiert auf die »Soziallasten« starrten, von der »Begehrlichkeit der Arbeiterschaft« faselten und darüber ganz vergaßen, wer ihnen eigentlich das Eisen an die Kehle setzte. Es ist wie ein schlechter Witz, daß einer dieser gigantischen Marodeure, heute selbst wankend geworden, hilfesuchend unter die Fittiche des demokratischen Staates kriechen muß, dem man so oft expropriatorische Tendenzen vorgeworfen und den man wie eine Vorfrucht des »Marxismus« behandelt hat. Wenn die Regierung Brüning sich heute für das, was sie am deutschen Bürgertum verbrochen hat, rechtfertigen müßte, so könnte sie nur ein sehr zweifelhaftes Argument zu ihren Gunsten anführen: sie hat die Kapitalflucht nicht gehindert. Das ist die einzige Chance, die sie den eignen Leuten gelassen hat. Sie hat tatenlos zugesehen, wie im vergangenen Jahre Milliarden nach der Schweiz abwanderten, und ihr famoser Finanzminister Herr Dietrich hat sogar öffentlich gesagt, daß er dies bei der hierzulande herrschenden Ungewißheit ganz begreiflich finde. Daß Brüning außenpolitisch die vernünftige Linie der Ära Stresemann verließ, daß er die innere soziale Krankheit ausschließlich mit Notverordnungen auf Kosten der Lohnempfänger zu kurieren trachtete, das ist seine ungeheure Schuld, das ist der Weg in die Katastrophe vom Juli 1931.

Das alles muß in diesem Augenblick gesagt werden, wenn es auch nicht die Feststellung verhindert, daß Brüning in diesen Tagen, zusammen mit dem Reichsbankpräsidenten Luther, wahrhaftig heroisch gearbeitet hat, um die Konsequenzen seiner eignen Politik abzuwenden. Dieser Kanzler ist heute durch eine selbstgeschmiedete Kette von Irrtümern mit seinem Amt unlösbar verbunden. Er kann nicht mehr demissionieren. Er kann nicht mehr resignierend sagen: »Herr von Hindenburg, ich habe das Meinige getan, tun Sie das Ihrige!«, so wie irgend ein parlamentarischer Premierminister. Denn er hat, sehr zu seinem Unglück, alle konstitutionellen Faktoren, die ihn entlasten oder ablösen könnten, erledigt. Sein bizarres Schicksal will es, daß er trotz seiner Fehler und Zweideutigkeiten der einzige deutsche Politiker bleibt, dessen Fähigkeiten die Welt noch vertraut. Er steht ganz allein, eine letzte papierene Wand zwischen Deutschland und dem Chaos.

Es ist ein fieberhaftes Hinundher in diesen Tagen, die verrücktesten Rezepte werden wieder zur Rettung angeboten. Auch das Phantom der »wirtschaftlichen Autarkie« spukt wieder heftig. Deutschland soll sich »auf sich selbst stellen«, ökonomisch abschließen, aus der Weltwirtschaft ausscheiden, grade so, als wäre die Weltwirtschaft ein Verein, dem man nach Belieben die Mitgliedskarte zurückschicken kann. Und doch gibt es nur einen Weg zu einer Notlösung: das ist die Verständigung mit Paris! Und grade hier widersetzt sich Deutschland mit einer Hartnäckigkeit, die ans Pathologische grenzt. Alle Gebote der Vernunft sprechen für die Verständigung mit Frankreich, für die Aufgabe einer ökonomisch nutzlosen fixen Idee, wie es die Zollunion ist. Aber der jahrelang gehegte Prestigefimmel drängt sich lärmend dazwischen. Als ob wir noch eine andre Wahl hätten!

Herr Doktor Luther soll sehr erstaunt gewesen sein, als ihm die Notenbankpräsidenten, mit denen er wegen Krediten verhandelte, eröffneten, daß es sich hier vornehmlich um eine politische Frage handle. Er erklärte, seine Kompetenz reiche zu dieser Erörterung nicht aus. Letzteres ist durchaus richtig, aber wo bleiben denn die Herren, die dazu kompetent sind? Wieder erlebt Deutschland die Überraschung, daß es eine Wirtschaft an sich nicht gibt, sondern daß alles Politik ist. Nirgendwo sitzt die Vorstellung von der angeblichen Selbstherrlichkeit der Wirtschaft so tief wie bei uns. Wir wissen, daß die Wirtschaft, oder die Schwerindustrie, die sich mit ihr identifiziert, vom Staate Subventionen fordert, ohne irgend eine Gegenleistung zu bieten. Aber welch eine kindsköpfige Naivität ist es, eine so dubiose deutsche Spezialität auf ein internationales Gebiet übertragen zu wollen. Wie kann man von Frankreich, das man seit der Rheinland-Räumung mit Stahlhelmfeiern und tausend nationalistischen Kinkerlitzchen provoziert hat, Kredite verlangen ohne politische Gegenleistung? Bei der Eigenart des deutsch-französischen Verhältnisses setzt sich jede noch so geschäftliche Frage sofort ins Politische um. Es gibt zwischen Frankreich und uns nichts Unpolitisches. Hat man das noch immer nicht begriffen? Und da kommen die Industrie-Cherusker, die sonst Frankreich als den europäischen Beelzebub betrachten, mit einem Kreditgesuch und erklären dazu, das habe mit Politik nicht das Mindeste zu tun. Wo kommt es denn im bürgerlichen Leben vor, daß man dem Mann, den man anpumpen will, eines auf die Nase gibt und dazu erläuternd sagt, das sei eine ganz andre Sache und habe mit dem vorliegenden Geschäft nichts zu tun –? Die Deutschen sind nicht nur schlechte Verlierer, das haben sie seit Versailles bewiesen, sie verstehen sich auch nicht aufs Borgen.

Frankreich wünscht Aufgabe der Zollunion und Einstellung des Flottenbaues. Es hat keinen Zweck, sich angesichts der deutschen Bettelarmut in die Brust zu werfen und mit Hidalgogeste zu deklamieren: »Lieber tot als Sklave!« Wir kennen kein Gremium in Deutschland, dem wir so weit vertrauten, über den Tod des deutschen Volkes zu beschließen. Ein Volk kann sich nicht, wie eine Einzelperson, der Bürde eines unerträglichen Daseins entledigen. Ein Volk kann nicht, wie eine Einzelperson, sterben, es kann nur noch ärmer, nur noch unglücklicher werden. Man schreit, daß Frankreich uns Verzichte auf heilige Souveränitätsrechte abpressen wolle. Wie steht es denn damit? Mindestens 80 Prozent aller Deutschen ist die Zollunion einfach Hekuba, mindestens 70 Prozent lehnt die Flottenpolitik als kostspielig und schädlich ab. In keinem Falle handelt es sich um eine wirkliche nationale Sache, die von einer Mehrheit entschieden vertreten wird. Und um des törichten Prestiges willen soll das Vernunftgemäße, das Rettende ungetan bleiben? Zuerst hat man aus Herbert Hoover so etwas wie einen unerwarteten Bundesgenossen gegen Frankreich gemacht. Jetzt stellt es sich heraus, daß Amerika selbst die Erfüllung der französischen Wünsche verlangt, und die englischen Minister, die in diesen Tagen mit dem Reichskanzler verhandeln, werden kaum einen anderen Ratschlag geben.

Deutschland hat sich mit dem Unionsprojekt in ein Dickicht von Widersprüchen und Wirrnissen verrannt. Es muß endlich wieder der bescheidenen Einsicht Raum gegeben werden, daß unsere heutige Lage machtpolitische Aspirationen verbietet. Wir sind allzu verelendet, um Extratouren zu unternehmen, die das ganze Volk zu bezahlen hat. Die forcierte Revisionspolitik, die mit der Ära Brüning einsetzte, muß schleunigst in die Rumpelkammer geworfen werden. Auch wir halten die französische Haltung für herzlich unpsychologisch, aber Deutschland hat keine Wahl, nachdem es abermals erfahren mußte, daß es die ganze Welt gegen sich hat, wenn es sich auf eigne Faust machtpolitisch zu engagieren versucht. Ein wirklicher Staatsmann respektiert Realitäten, anstatt ihnen die Stirn zu bieten. Die deutsche Außenpolitik hat sich festgefahren, sie kann nur durch gründliche Kursänderung und durch die Ausbootung der Hauptverantwortlichen wieder mobil werden. Dazu gehört vor allem die Entfernung der Minister Treviranus und Groener aus ihren Ämtern. Keine deutsche Regierung ist mit diesem Ballast verhandlungsfähig. Herr Groener hat sich seiner Zeit als Vertrauter Erzbergers die größte Mühe gegeben, den Offizieren klar zu machen, warum der Versailler Vertrag unterschrieben werden müsse. Er kennt also solche Situationen zur Genüge. Ganz unmöglich geworden ist Herr Curtius, der Vater der Zollunion. Man ersetze ihn so bald wie möglich durch einen Diplomaten aus Stresemanns Zeit, der internationales Vertrauen genießt und durch seine Persönlichkeit Garantie bietet gegen selbstmörderischen »außenpolitischen Aktivismus«.

Eine vernünftige Außenpolitik hätte in dem Streit um die Zollunion rechtzeitig diplomatisch eingelenkt, anstatt es auf eine Sachlage ankommen zu lassen, in der das Nachgeben bereits den Charakter demütigender Kapitulation annimmt. Deutschland hat in der Welt keinen ärgern Feind als seinen eignen Nationalismus. Dem ist es seit mehr als einem Jahre gefolgt, und die Resultate sind offensichtlich. Die Wirtschaft ist zerrüttet, das letzte Vertrauen in dem Staat zerstört, der Ausblick in die Zukunft trostlos. Herr Hugenberg hat seinerzeit geweissagt, wir müßten alle eine Zeitlang Proletarier werden, ehe es wieder besser würde. Der erste Teil dieser Prophezeiung ist über die Maßen glorreich in Erfüllung gegangen. Es ist erreicht, wir sind alle Proletarier. Wir haben nichts mehr zu verlieren als unsre letzten Illusionen und unsern Hitler. Das Nationalgefühl blüht, es ist eine Freude zu leben. Im übrigen sind wir pleite.

Die Weltbühne, 21. Juli 1931


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