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Zum Leipziger Parteitag

Der diesjährige Parteitag der Sozialdemokratie in Leipzig ist der ernsteste seit langem, wenn er auch kaum klare Entscheidungen bringen wird. Aber nach einem Jahre von Fehlschlägen und politischem Trabantentum in der Sphäre Brünings, und nachdem sich gezeigt hat, daß auch die Wählermassen nicht mehr geneigt sind, der Partei Blankowechsel auszustellen, muß die Führerschaft darauf verzichten, diesen Kongreß als ein Spektakel mit verteilten Rollen aufzuziehn. Das historische »Schweineglück« der Sozialdemokratie hat inzwischen gründlich die Partei gewechselt.

In frühern Zeiten waren diese Parteitage Stechbahnen des Geistes. Jetzt sind sie schon lange nur noch Kontrollversammlungen, Schaustücke von Funktionären für Funktionäre, mit einer sorgsam rationierten Opposition. Das geht diesmal nicht so leicht, und die Hochmögenden müssen schon etwas weiter ausholen und Fragen zulassen und beantworten, die noch vor kurzem als linkeste Ketzerei verlästert gewesen wären. So wird man vermutlich mit den neun »Disziplinbrechern« glimpflicher verfahren, als dies noch kürzlich der Fall gewesen wäre. Man wird sie nicht gleich an den Galgen schleppen, sondern es nochmals beim Rade bewenden lassen. Das Ergebnis der oldenburgischen Wahlen ermutigt nicht grade zu einem Scherbengericht gegen die Neun, die gegen den Panzerkreuzer stimmten. Im Gegenteil, die bessern Taktiker unter der kompakten Majorität werden diesen Oppositionellen innerlich vielleicht dankbar sein, daß sie der Welt das so kompromittierende Schauspiel einer in dieser Frage geschlossenen Sozialdemokratie erspart haben. Es bleibt noch abzuwarten, ob die Klugheit so weit geht, jenen wehrfreudigen Patrioten den Mund zu verbinden, die sich offen zu der Devise: »Lieber mit Groener als mit den Kommunisten!« bekannt haben. Allerdings hat auch die Linke ihre Stunde gründlich verpaßt. Im vergangenen Herbst, nach dem großen Schrecken der Hitlerwahlen, war die Masse der Parteigenossen aufgelockerter als je. Damals war die Partei zu haben. Der Seydewitzgruppe fehlte die Entschlossenheit zu handeln, deshalb muß sie jetzt, anstatt den Kongreß zu beherrschen, sich ihrer Haut wehren, um nicht gemaßregelt zu werden.

Dennoch wird sich die Partei bald zu einer gründlichen Revision entschließen müssen, wenn sie ihre Zukunft nicht an die Kommunisten verlieren will, die zwar noch problemreich genug sind, aber doch die Logik der Situation für sich haben. Grade jetzt, mitten in der Wirtschaftskrise, verkörpert die Kommunistische Partei jene mitreißende Unzufriedenheit, die nicht an kleinen Errungenschaften klebt, sondern neuen Anfang verheißt. Ob die Kommunistische Partei im Endeffekt besseres bietet als die ältere Schwester, soll hier nicht beantwortet werden. Aber sicher ist, daß sie die jungen Elemente immer mehr gewinnt, weil das, was sie zu bieten hat, nicht abgestanden, nicht satt, nicht pharisäisch wirkt. Das Unglück der Sozialdemokratie ist, daß sie sich gewöhnt hat, alle Dinge von einer mittlern Höhe anzusehen, von der Stelle, wo das Tal winzig klein unten liegt, der Gipfel aber noch in unerreichbarer Ferne ragt, von der Stelle grade, wo man gern seßhaft wird. Nun ist aber in einer Epoche des ungehemmten Gesellschaftszerfalls die Seßhaftigkeit am wenigsten geeignet, als repräsentative Tugend anerkannt zu werden. Die Partei, die von den Gegnern auf der Rechten als die eingefleischte Destruktion und Zersetzung denunziert wird, ist in Wahrheit die einzige, die noch ganz und gar in der Illusion des allerbravsten Ordnungsstaates lebt. Sie behauptet, die Demokratie durch Unterstützung Brünings retten zu wollen, aber sie verkennt dabei, daß die Demokratie unter Brüning zur Fiktion, das Parlament zur Attrappe geworden ist. Daß nicht lebendig erhalten werden kann, was schon nicht mehr lebt und was man nur noch als leeres Abbild besitzt. Wenn die Sozialdemokratie den demokratischen Staat retten will, muß sie ihn neu schaffen, muß sie aber auch ganz andre Trümpfe ausspielen als bisher. Das ist aber nur möglich, wenn sie in die Urgründe sozialer Rebellion zurückgeht, denen sie ihre Existenz, ihren gewaltigen Auftrieb in der Vergangenheit verdankt.

»Republikanisch-legitimistische Haltung«, so hat Walther Pahl in den ›Sozialistischen Monatsheften‹ die Seelenverfassung der Führerschaft in unübertreffbarer Formulierung genannt. Dieser Legitimismus und Fassadenkult, dieser Radikalismus der Embleme à la Hörsing bedeutet die schwerste innere Hemmung für eine neue Aktivierung. Die Partei sehnt sich nach »dem Staat«, »der Nation«, und fühlt nicht, daß sie dabei ihre einzige wirkliche Lebensquelle verliert: die Klasse. In der Besinnung auf ihre klassenmäßige Grundlage liegt ihre größte Chance, aber hier wird auch der schärfste Widerstand der Honoratioren und Parvenus einsetzen. Wer in der Politik eine Wegmeile Fortschritt durchsetzen will, muß zehnmal so viel fordern. Weil die Sozialdemokratie diese alte Erfahrung vernachlässigt, lebt sie seit Jahr und Tag in einer recht unglücklichen Defensive und sucht den Verlust traditioneller sozialpolitischer Positionen der Arbeiterschaft durch Couloirschacher zu verhindern. Wenn aber die Sozialpolitik auch nur halbwegs in altem Umfange erhalten werden soll, muß mindestens die Nationalisierung von Kohle und Eisen gefordert werden, ebenso wie der agrarische Brotwucher nur gebändigt werden kann durch eine expropriatorische Offensive gegen den Großgrundbesitz. Die Sozialdemokratie verdirbt an der Lumperei der Bescheidenheit. Diese Millionen wohlorganisierter Arbeiter bedeuten keinen Schrecken, kaum ein politisches Druckmittel mehr. Und das ist kein Wunder, denn die Partei mit dem sozialistischen Programm ist die einzige, die in dem wilden sozialen Hin und Her dieser Tage absolut wirtschaftsfriedliche Tendenzen verkörpert und deshalb stets wie eine entbehrliche Größe beiseite geschoben wird. Es ist ein bizarres Schauspiel, daß jede skandalierende Bäckerinnung mehr erreicht als eine Gewerkschaft von Hunderttausenden, deren Klagen nicht über die ministeriellen Vorzimmer hinausdringen.

Die Weltbühne, 2. Juni 1931


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