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Otto Straßers »deutscher Sozialismus«

Im Gegensatz zu seinem Bruder Gregor, dessen füllige volkstümliche Rhetorik durchaus zu seinem Äußern paßt, ist Otto Straßer ein sanfter Intellektueller, dessen hauptsächliches Kampfmittel die Überredung bleibt und der einem schroffen Gegner, einer lärmenden Versammlung eine beinahe chinesische Höflichkeit entgegensetzt. Während Gregor ministrabel und ein hohes Tier am Hofstaate des braunen Cäsar geworden ist, genießt Otto das geistigere Vergnügen, schulebildend zu wirken und Apostel um sich zu sammeln, die für ihn mit der Feder fechten, es aber lieber mit einer guten Damascenerklinge tun würden. Denn Otto Straßer ist ganz gewiß nicht, wie er wohl selbst glaubt, der Gegenkönig Adolf Hitlers, viel eher einer jener tätigen Ideendolmetscher, deren Wirkung nicht im Geschriebenen liegt, nicht einmal in der Sache, sondern vornehmlich in der Intensität der Mitteilung.

Otto Straßer ist aus der nationalsozialistischen Partei nicht als ideologischer Widersacher geschieden. Neben dem Bruder Gregor hält er sich als der Radikale, der Linientreue; die Partei scheint, an ihm gemessen, lasch, liberalistisch, entartet. Es soll uns in diesem Zusammenhang nicht beschäftigen, ob die Trennung der Brüder faktisch ist oder nur taktisch. Wenn man Otto Straßers neue Programmschrift »Aufbau des deutschen Sozialismus« (W.R. Lindner, Leipzig) etwa mit der im ›Völkischen Beobachter‹ erschienenen Rundfunkrede seines Bruders vergleicht, so erkennt man bei beiden die gleiche nationalistische Grundsuppe und fragt zunächst nach den Unterschieden. Der Antagonismus beginnt, wo vom Sozialismus gesprochen wird. Was Sozialismus ist, definiert Gregor so:

»Wir verstehen unter Sozialismus die staatlich durchgeführten Maßnahmen zum Schutze des Einzelnen oder einer größern Gemeinschaft vor jeglicher Ausbeutung.«

So etwas nennt man Sozialpolitik oder Sozialreform. Sozialismus bedeutet nicht Schutz vor Ausbeutung sondern Brechung aller ausbeutenden Mächte. In diesem Punkt ist der Bruder Otto reinster Revolteur:

»Darum ... ist die Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden, Bodenschätzen und Produktionsmitteln die Hauptforderung des deutschen Sozialismus und die Voraussetzung einer planmäßigen Nationalwirtschaft.«

Infolgedessen verwirft er auch das kapitalistische Wirtschaftsrecht von der Heiligkeit des Privateigentums:

»Sinnfällig erlebte es jeder Einzelne, daß dieses unbeschränkte Verfügungsrecht des Besitztitels verstieß gegen die Lebensinteressen des Volkes, daß es aber auch keine innere Berechtigung habe zu einem Zeitpunkt, da die ganze Nation mit ihrem Blut dieses ›Eigentum‹ verteidigen mußte.«

Bravo, das ist ein deutliches Bekenntnis, wenn auch nur gute alte SPD von 1910, als bei jeder Maifeier deklamiert wurde:

Hinter Mauern und Schlöten
liegt euer Vaterland!
Ihr sollt euch dafür schlagen und töten
– ihr habt es niemals gekannt.

Wenn jemand so selbstbewußt wie Otto Straßer sich eine »totale Gestaltung des deutschen Lebens« zumutet und von der »konservativen Revolution« die Durchführung des »deutschen Sozialismus« erwartet, so muß er sich nicht nur die Frage gefallen lassen, wie dieser Sozialismus aussieht, sondern auch, auf welche geschichtlichen Kräfte er ihn zu stützen gedenkt. Denn der Klasse erkennt der Nationalist Straßer keine geschichtliche Formkraft zu, nur der Nation, und selbst Marx behandelt er nur als besonderen Ausläufer des Liberalismus.

Der Straßersche Sozialismus stützt sich nicht auf ökonomische Gegebenheiten, er bedeutet, so radikal die Formulierung manchmal klingen mag, nur die Flucht in vergangene Jahrhunderte. In der Gesellschaft des »deutschen Sozialismus« soll zwar das Privateigentum ebenso aufgehoben sein wie das Monopol an Boden und Produktionsmitteln, aber die Nation soll die Bewirtschaftung den einzelnen Volksgenossen »nach Fähigkeit und Würdigkeit in Erblehen geben«. Was Straßer vorschwebt, ist ein romantisches Feudalsystem, ständisch gegliedert, in dem, wie bei allen konservativen Ideologien, die Landwirtschaft die wichtigste Rolle spielen soll. Ja Straßer bezeichnet als vornehmstes Ziel die »Reagrarisierung Deutschlands«. Es ist schwer zu verstehen, warum es nicht nur volkswirtschaftlich sondern auch ethisch wertvoller ist, Kartoffeln zu buddeln, statt sich über einer schwierigen technischen Konstruktionszeichnung anzustrengen. Gewiß erlebt die Großstadt gegenwärtig unter dem ungeheuren Krisendruck einen Rückschlag, überall entstehen kleine periphere Siedlungen. Aber darf man auf einem vorübergehenden Notstand, auf einem Akt von Selbsthilfe, der morgen schon von bessern Mitteln abgelöst sein kann, ein sozialistisches System aufbauen? Und ist es wirklich so leicht, Menschen, denen die Großstadt in Blut und Nerven steckt, in Landleute zurückzuverwandeln? Ganz Deutschland soll also von kleinen Bauerntümern überzogen werden, von denen keins größer sein darf als sein Besitzer in eigner Arbeit verwalten kann. Auf die Industrie ist Straßer nicht gut zu sprechen, wie er denn überhaupt die »technische Götzendämmerung« erwartet. Man sollte mit solchen Prophezeiungen etwas vorsichtig sein. Ich wünsche Herrn Doktor Straßer nicht, daß die technische Götzendämmerung auf der Lokomotive ausbricht, wenn er grade Eisenbahn fährt. In der Industrie fällt die Verwaltung des Betriebs einer Dreiheit von Staat, Belegschaft und Führer zu, wovon der letztere einen höhern Anteil an Besitz und Gewinn erhält. Überall also strenge Bindung, jeder Einzelne lebt in fest gesteckten Grenzen, der Schützengraben wird aus der Kriegswissenschaft in die Soziologie eingeführt. Es ist eine neue Art Kastenstaat, in dem auch die Parias nicht fehlen dürfen, nämlich die Juden, die kein Bürgerrecht genießen und deshalb auch nicht Lehnsträger werden sollen. Nur eine Kategorie gibt es in diesem tristen Einerlei, der erhöhte Selbständigkeit eingeräumt wird, und das sind die Handwerksmeister. Denn das Gedeihen von Kleinbetrieben beruht »auf der Persönlichkeit des Handwerksmeisters«. Hier beginnt man sich doch ernsthaft die Nase zu reiben. Auch wenn man nicht geneigt ist, mit dem Begriff der Unternehmerpersönlichkeit heroisierenden Unfug zuzulassen, so muß doch gefragt werden, ob der Budiker oder der Grünkramhändler mehr Persönlichkeit ist als, sagen wir, der Professor Junkers in Dessau!

Damit entlarvt sich der ganze Straßer-Sozialismus als ein Angstprodukt des versinkenden Mittelstandes, als die rettende Theorie einer in Panik geratenen Schicht, die ihr Sonderdasein auf Kosten der Gesamtheit zu fristen wünscht. Ein reges, intelligentes Volk, seit Jahrhunderten in manueller Fertigkeit, Wissen, Technik und Kunst aufs beste erfahren und immer vorwärtstreibend, soll in ein mürrisches Agrar- und Industriehelotentum verwandelt werden, während Herr Klamuffke, Fleisch- und Wurstwaren, Aufschnitt täglich frisch, selbstherrlich bleibt, nur einer Zunft Gleichartiger verbunden, auf seinem Boden ein Herzog, ein Than, begnadet mit dem Vorrecht, ein Individuum zu sein. Man fragt sich, wie in einem geistigen Menschen, der Otto Straßer doch ist, das Bild eines sozialen Systems entstehen kann, das die Rückständigsten, die schon heute von der Zeit fast Ausradierten zu Herren macht, während es die Beweglichen, die Leichtschreitenden, die Unternehmenden auf die Galeere bannen möchte. Was für ein Albdruck von einer Utopie!

Nicht nur Otto Straßer, der ganze Neokonservativismus nährt sich von ständischen Vorstellungen. Bei Heinrich von Gleichen und dem »Herrenclub« sieht es damit auch nicht anders aus als bei Ferdinand Fried in der ›Tat‹. Es ist keine Entschuldigung für die Herren, daß sie sich ihre Theorie nicht selbst ausgedacht, sondern von Othmar Spann übernommen haben, der seinerseits das Entscheidende von Adam Müller bezieht, dem Ökonomisten der Romantik. Bei allen Anhängern der ständisch aufgebauten Gesellschaft, auch bei Otto Straßer, kehren die Worte »organisch«, »gewachsen«, »geworden« beängstigend oft wieder. »Organisch« kann aber heute nur sein, das Zeitalter des Industrialismus weiterzuführen, wie es die Russen tun, auf neuer sozialer Grundlage weiterzuentwickeln. Was aber wäre an der Wiedereinführung des Zunftwesens heute organisch? Adam Müller war ein Metternichreptil und publizistischer Verfechter der heiligen Allianz; seine sozialen Visionen entsprachen durchaus den Vorstellungen des damaligen Absolutismus, alle Reaktionäre haben seitdem auf den Ständestaat geschworen. Kein Wunder, denn er hält die aktiven Elemente nieder. Auch Bismarck sehnte sich vom freien Wahlrecht immer wieder zur ständischen Verfassung zurück. Otto Straßer mag sich als ein großer Revolutionär vorkommen, wenn er seine Heilswahrheiten von dem vergilbten Pergament Adam Müllers abliest. Aber ein reaktionäres Skriptum, das hundert Jahre in der Rumpelkammer der Weltgeschichte gemodert hat, ist in der Zeit nicht revolutionär geworden.

In der Blüte der Romantik hat Novalis, dessen hektischer Überschwang alles mit Kunst penetrieren mußte, die Forderung erhoben, auch die »Finanzwissenschaft müsse poetisiert werden«. Das ist mindestens einigen der heutigen Nachfahren der Ideen Adam Müllers, den Anbetern der Autarkie und der ständischen Gliederung, aufs beste gelungen. Nur Otto Straßers »deutscher Sozialismus« kann wirklich nicht zu den schönen Künsten gerechnet werden. Diese Utopie ist eng und spärlich, die Phantasie haftet an den winzigsten Dimensionen und an den primitivsten Bedürfnissen. »Fremde Sprachen haben in der Volksschule keinen Platz.« Oder: »Eine weitere notwendige Folge ist die, daß das Eingehen einer Ehe eines deutschen Staatsbürgers mit Angehörigen eines andern Volkes den Verlust der Staatsbürgerschaft nach sich zieht.« Diese Sätze charakterisieren den Barbarismus dieser Vision eines völkischen Idealstaates. Alles soll in Anlage und Funktion sehr klein, sehr simpel werden, alles ist von der Theke eines verärgerten Ladenbesitzers her gesehen. Darin unterscheidet sich Otto Straßer, der Häretiker, in keiner Weise von Gottfried Feder und den andern volkswirtschaftlichen Dreierlichtern des offiziellen Nazitums.

Wahrscheinlich kann man das Dumpfe, Trübe und Unfreudige dieser Utopie nicht einmal Straßer persönlich zur Last legen. Man findet das in allen von rechts kommenden Konzeptionen eines deutschen Staates auf ständischer Grundlage. Ein öffentliches Leben soll es nicht mehr geben, die Frauen werden wieder in die Küche gesteckt; es gibt überhaupt keine Politik mehr, sondern nur noch Berufsangelegenheiten. Straßer hofft auf kulturelle Wundertaten eines völkischen Idealismus. Aber in Wahrheit würde eine also aufgebaute Gesellschaft in Wort und Schrift nicht über das platteste fachmännische Kannegießern hinauskommen. Phantasie, Initiative, Weltoffenheit, und nun gar in Verein mit künstlerischer Begabung, müßten als Ketzerei verpönt und verfolgt werden. Der proletarische Sozialismus hat ganz gewiß Paradiese weder versprochen noch geschaffen, aber für ihn handelte es sich um die Menschheit, er strebt zum Universalismus. Der völkische Pseudo-Sozialismus in allen seinen radikalen oder gemäßigten Spielarten dagegen kennt als sein Ideal nur die Abkapselung; sein Staat ist eine Feudalburg, von Mauern und Festungsgräben umgeben, während jeder echte Sozialismus sich bemühen muß, die Grenze zu sprengen. Der Sozialismus braucht gewiß nicht nur auf marxistischen Doktrinen aufgebaut zu werden, es gibt noch andre Möglichkeiten, aber aus dem Nationalismus kann zu allerletzt ein Sozialismus entwickelt werden. Denn der Nationalismus ist selbst ein Kind der kapitalistischen Ära, er muß mit dieser vergehen. Diese Zusammenkoppelung von Nationalismus und Sozialismus ist der Grundirrtum deutscher Nationalisten, für die eine sozialistisch organisierte Gesellschaft nicht mehr bedeutet als eine bessere Grundlage für den Revanchekrieg.

Der Nationalismus wird kaum jemals die Überzeugung eines ganzen Volkes werden können. Die Geschichte hat ihn uns nur gezeigt als die in Krämpfen und Krisen explodierende Selbstsucht einer herrschenden Klasse. Nationalisten wie Straßer haben immer den 4. August 1914 im Kopfe, wo ganz Deutschland, das sich unfähig gezeigt hatte, sein inneres Schicksal zu gestalten, aus unfreien, als unleidlich empfundenen politischen Zuständen in den Kriegsfuror flüchtete. Was für ein verbrecherischer Esel ist Wilhelm II. gewesen, solch Kapital zu verwirtschaften! Diese Stimmung ist für immer dahin, kein rebellierendes Kleinbürgertum kann sie jemals wiedererwecken.

Dennoch wird man grade Otto Straßer, auch wenn man seine Lehren aufs heftigste ablehnt, eine Reihe von sympathischen Zügen nicht absprechen mögen. Denn dieser unbestreitbare Reaktionär und Obskurant tritt in öffentlichen Kämpfen mit der Haltung und den Ansprüchen eines neuen Hutten auf. Es hat etwas Rührendes zu sehen, wie dieser Klopffechter einer für ewig versunkenen sozialen Ordnung mit der Gebärde eines Lichtbringers, eines Sankt Georg für seine Gedanken einsteht. Seltsames Paradox: dieser Kämpfer gegen alle Freizügigkeit, für den Liberalismus dasselbe bedeutet wie Zuchtlosigkeit, ist ausgesprochener Individualist und wäre erledigt ohne eine Gesellschaft, die liberal genug ist, das Recht des Individuums anzuerkennen. Durch seine besondere Art ist dieser Künder des »deutschen Sozialismus« der prägnanteste Liberale, der sich denken läßt. Das ist eine Zwiespältigkeit, die ihn reizvoller macht, als es seine Thesen sind. Eine Ahnung sagt, daß hier ein Ringender am Werke ist, der sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat.

Die Weltbühne, 16. August 1932


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