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Viertes Kapitel.

Was sich in Vließingen und bei unserem Auszuge von dort zutrug.

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Eine Stunde vor Tagesanbruch gingen wir fort. Der Schnee lag tief auf dem Erdreich, aber der Himmel war hell. Ohne irgend eine Schwierigkeit und ohne Aufenthalt kamen wir durch die Städte Axel und Halst, langten am vierten Tage zu Terneuse an und setzten in Begleitung von etwa einem Dutzend Nachzügler nach Vließingen über. Beim Landen fragte die Schildwache, ob wir Konscribierte seien, O'Brien bejahte dies und zeigte sein Papier vor. Sein Name oder vielmehr der Name derjenigen Person, der das Papier gehörte, ward in ein Buch eingetragen und hierauf O'Brien bedeutet, daß er vor drei Uhr bei dem Stabe zu erscheinen habe. Wir entfernen uns, erfreut über den glücklichen Erfolg; dann zog er den Brief heraus, den er von der Frau im Wirtshause erhalten hatte, die mir damals, als O'Brien den Gendarmen spielte, zur Flucht behilflich sein wollte, las die Adresse und fragte, welchen Weg er nach der Straße zu machen habe. Wir fanden übrigens das Haus bald und gingen hinein.

»Konscribierte?« sprach die Wirtin, als sie O'Brien sah, »ich habe schon die volle Zahl Leute im Quartier. Es muß ein Irrtum sein. Wo ist Ihr Zettel?«

»Lesen Sie hier«, sagte O'Brien, indem er ihr den Brief zustellte.

Sie las denselben durch, steckte ihn dann in ihr Busentuch und lud O'Brien ein, ihr zu folgen. O'Brien winkte mir zu kommen, und so gingen wir in ein kleines Zimmer.

»Was kann ich für Sie thun?« sagte die Wirtin, »es soll alles, was in meinen Kräften steht, geschehen; aber ach, in zwei oder drei Tagen werden Sie schon wieder von hier fortmarschieren.«

»Nicht daran zu denken«, erwiderte O'Brien; »wir wollen später über den Gegenstand sprechen. Für jetzt verpflichten Sie uns, wenn Sie uns gestatten, in diesem kleinen Zimmer zu verbleiben; wir wünschen, nicht gesehen zu werden.«

» Comment donc! – Sie ein Konscribierter und wollen nicht gesehen werden? Gedenken Sie denn zu desertieren?«

»Beantworten Sie mir eine Frage; Sie haben den Brief gelesen; wollen Sie dessen Inhalt befolgen, wie Ihre Schwester es wünscht?«

»Ich will, so gewiß ich auf Verzeihung meiner Sünden hoffe, und sollte ich auch alles erdulden müssen. Sie ist mir eine liebe Schwester und würde nicht so dringend geschrieben haben, wenn sie nicht gute Gründe gehabt hätte. Mein Haus und alles darin steht Ihnen zu Diensten – kann ich mehr sagen?«

»Doch«, fuhr O'Brien fort, »angenommen, ich wollte entfliehen, würden Sie mir da Beistand leisten?«

»Selbst auf eigene Gefahr hin«, erwiderte die Frau; »haben Sie nicht meiner Familie Hilfe geleistet, als sie in Not war?«

»Gut; ich will Sie jetzt nicht länger von Ihren Geschäften abhalten; ich habe schon mehrere Male nach Ihnen rufen gehört. Sorgen Sie uns für ein Essen, wir wollen hier bleiben.«

»Wenn ich nur einige Kenntnis von Phis – wie nennt man doch das Ding – besitze«, sagte O'Brien, nachdem sie fortgegangen war, »so ist diese Frau ehrlich und ich muß mich ihr anvertrauen. Aber jetzt nicht; wir müssen warten, bis die Konscribierten fort sind.«

Ich stimmte O'Brien bei und wir sprachen eine Stunde lang miteinander, bis die Frau uns das Essen brachte.

»Wie ist Ihr Name?« fragte O'Brien.

»Louise Eustache; Sie hätten's können auf dem Briefe lesen.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Ja wohl, seit sechs Jahren. Mein Mann ist selten zu Hause; er ist einer von den Vließinger Piloten. Ein hartes Leben, noch härter als das eines Soldaten. Wer ist dieser junge Mensch?«

»Er ist mein Bruder, der, wenn ich Soldat würde, freiwillig als Tambour unter's Gewehr ginge.«

» Pauvre enfant, c'est dommage.«

Das Wirtshaus war ganz voll von Konscribierten und anderen Leuten, so daß die Wirtin genug zu thun hatte. Nachts wurden wir von ihr in ein kleines Schlafgemach geführt, das an das Zimmer stieß, das wir bisher inne gehabt hatten.

»Hier sind Sie ganz allein; die Konscribierten sollen, wie ich höre, morgen um zwei Uhr auf dem Waffenplatze gemustert werden; gedenken Sie hinzugehen?«

»Nein«, antwortete O'Brien, »sie werden glauben, ich sei zurückgeblieben. Es hat nichts auf sich.«

»Gut«, entgegnete die Frau, »handeln Sie ganz nach Ihrem Belieben, Sie dürfen mir vertrauen. Aber ich bin so durch meine Geschäfte in Anspruch genommen – da ich niemand habe, der mir hilft – daß ich kaum werde Zeit finden können, mit Ihnen zu sprechen, ehe die Soldaten zur Stadt hinausziehen.«

»Das wird noch bald genug sein, gute Frau«, antwortete O'Brien; » au revoir.«

Den nächsten Abend trat die Frau ziemlich aufgeregt zu uns herein und erzählte, es sei ein Konscribierter angekommen, dessen Name schon früher angegeben worden sei; derjenige aber, der ihn angegeben habe, sei bei der Musterung nicht erschienen. Der Konscribierte habe ferner gesagt, sein Paß sei ihm von einer Person, mit der er in St. Nicolas Halt gemacht habe, gestohlen worden, infolge dessen seien nun Befehle zur strengsten Nachsuchung in der ganzen Stadt erlassen worden, zumal, da man erfahren habe, daß einige englische Offiziere aus der Gefangenschaft entwichen seien, und man vermute, daß einer derselben diesen Paß besitze.«

»Sie sind doch sicherlich kein Engländer?« fragte die Frau, O'Brien ernstlich dabei ansehend.

»Doch, ich bin einer; meine Liebe«, antwortete O'Brien, »wie auch mein junger Gefährte; und die Gefälligkeit, die Ihre Schwester von Ihnen verlangt, besteht darin, daß Sie uns über Wasser helfen; hundert Louisd'or liegen für diesen Dienst parat und sollen sofort ausgezahlt werden, sobald wir hinübergebracht sind.«

» Oh, mon Dieu, mais c'est impossible.«

»Unmöglich?« entgegnete O'Brien, »war das die Antwort, die ich Ihrer Schwester in ihrer Not gab?«

» Au moins c'est difficile.«

»Das ist wieder eine ganz andere Sache; aber da Ihr Mann ja Pilot ist, so sollte, denke ich, die Schwierigkeit um einen großen Teil verringert sein.«

»Mein Mann! Ich vermag nichts über ihn«, sagte die Frau und hielt die Schürze vor ihre Augen.

»Aber hundert Louisd'or vermöchten vielleicht etwas?« erwiderte O'Brien.

»Darin liegt etwas Wahres«, sagte die Frau nach einer Pause; »aber was soll ich thun, wenn sie kommen, um mein Haus zu durchsuchen?«

»Uns verbergen, bis Sie eine Gelegenheit finden können, uns nach England zu bringen. Ihrem Gutdünken überlasse ich alles – Ihre Schwester erwartet es von Ihnen.«

»Und sie soll sich nicht getäuscht haben, so Gott hilft«, sagte die Wirtin nach kurzem Bedenken; »aber ich fürchte, Sie müssen diese Nacht noch dies Haus und auch die Stadt verlassen.«

»Aber wie kommen wir zur Stadt hinaus?«

»Ich will das schon machen. Halten Sie sich um vier Uhr bereit, da die Thore geschlossen werden, sobald es dunkel wird. Ich muß nun von Ihnen fortgehen, denn es ist keine Zeit zu verlieren.«

»Jetzt sind wir in einer säubern Brühe, O'Brien«, sagte ich, als die Wirtin zum Zimmer hinaus war.

»Den Teufel auch, Peter; ich bin nicht im geringsten besorgt; nur bedaure ich, solch gutes Quartier verlassen zu müssen.«

Wir packten hierauf unsere sämtlichen Effekten zusammen, wobei wir namentlich die zwei Decken nicht vergaßen, und sahen der Rückkehr der Wirtin entgegen. Nach einer Stunde etwa trat sie ins Zimmer.

»Ich habe mit meines Mannes Schwester gesprochen, die zwei Meilen von hier an der Straße nach Middelburg wohnt. Sie befindet sich gerade in der Stadt, da Markttag ist; Sie werden, wo sie Sie verbirgt, völlig sicher sein. Ich sagte ihr, es sei der Wunsch meines Mannes, sonst würde sie nicht eingewilligt haben. Hier, junger Mensch, ziehen Sie diese Kleider an, ich will Ihnen dabei helfen.«

Noch einmal wurde ich als Mädchen verkleidet, und als ich angezogen war, brach O'Brien in ein lautes Gelächter aus über meine blauen Strümpfe und kurzen Röcke.

» Il n'est pas mal«, sagte die Wirtin, als sie mir eine kleine Haube aufsetzte, und ein Tuch unter das Kinn band, das mein Gesicht teilweise verdeckte.

O'Brien zog einen großen Überrock an, den ihm die Frau gab, und setzte einen Hut mit breiter Krempe auf.

»Jetzt folgen Sie mir.« Mit diesen Worten führte sie uns auf die Straße, die gedrängt voll von Menschen war, und als wir nach dem Marktplatze gelangt waren, trafen wir eine andere Frau, die sich an uns anschloß. Am Ende des Platzes stand ein Karren mit einem kleinen Pferde; die fremde Frau und ich stiegen hinein, während O'Brien nach den Anordnungen der Wirtin das Pferd durch den Volkshaufen hindurchleitete, bis wir am Thore ankamen, wo diese mit lauter Stimme im Beisein der Wache uns einen guten Tag wünschte. Letztere nahm keine Notiz von uns; wir kamen glücklich durch und befanden uns auf einer gut gepflasterten, schnurgeraden Straße, die auf beiden Seiten mit hohen Bäumen besetzt und mit vielen Gräben versehen war.

In einer Stunde etwa hielten wir in der Nähe des Pachthauses der Frau, deren Obhut wir anvertraut waren.

»Sehen Sie diesen Wald, sagte sie zu O'Brien, indem sie nach einem ungefähr eine halbe Meile von der Straße entlegenen Gehölze deutete. »Ich darf nicht wagen, Sie ins Haus zu nehmen; mein Mann ist so erbittert gegen die Engländer, die ihm seine Schuyte gekapert und ihn zum armen Manne gemacht haben, daß er Sie im Augenblicke anzeigen würde; drum gehen Sie dorthin, machen Sie sich's da für heute Nacht so bequem als möglich, und morgen will ich Ihnen schicken, was Sie bedürfen, Adieu! Je vous plains, pauvre enfant«, sagte sie, indem sie mich noch einmal ansah, während sie in dem Karren nach ihrem Hause hin fortfuhr.

»Peter«, sagte O'Brien, »mir däucht, der Umstand, daß sie uns zum Hause hinaussperrt, ist ein Beweis ihrer Aufrichtigkeit, und ich will deshalb nicht mehr darüber sprechen; auch haben wir ja unsere Branntweinflasche, um uns munter zu erhalten. Also, jetzt vorwärts nach dem Walde; übrigens, bei den himmlischen Mächten! – für die nächsten zwölf Jahre werde ich keinen Geschmack mehr an euren Picknickpartieen, wie ihr sie nennt, finden.«

»Aber, O'Brien, wie kann ich in den Weiberröcken über diesen Graben kommen? Ich könnte kaum in meinen eigenen Kleidern hinüber hüpfen.«

»Du mußt Deine Röcke über der Taille zusammenknüpfen und einen tüchtigen Anlauf nehmen; spring, soweit Du kannst, dann will ich Dich schon vollends hinüber tragen.«

»Du vergißt aber, daß wir im Walde schlafen werden; und da ist's kein Spaß, durch und durch naß zu werden, zumal, wenn es so grimmig kalt ist, wie gegenwärtig.«

»Ganz richtig, Peter, und da der Schnee so tief auf dem Graben liegt, so möchte vielleicht das Eis schon tragen. Ich will's versuchen und wenn es mich trägt, so wird es unter Deinem Knirpsgestelle nicht brechen.«

O'Brien untersuchte das Eis, und da es fest war, gingen wir beide hinüber; wir beeilten uns, so viel wir konnten, und kamen so bald zu dem Walde, wie ihn die Frau genannt hatte, der aber nichts anderes als ein Häuflein Bäume auf ungefähr einem halben Morgen Feld war. An einer etwas vertieften Stelle kehrten wir den Schnee etwa sechs Fuß weit hinweg; O'Brien schnitt Pfähle, die wir in die Erde steckten und über die wir eine unserer Decken ausspannten. Da der Schnee schon zwei Fuß tief lag, so hatten wir Raum genug, unter unsere Decke hinunter zu kriechen. Dann sammelten wir Laubwerk, so viel wir konnten, schüttelten den Schnee davon ab und legten es auf den Boden unserer Höhle. Über das Laub breiteten wir die andere Decke aus und verstopften, nachdem wir unsere Bündel hereingenommen hatten, die obere Decke auf allen Seiten mit Schnee, die Öffnung zum Ein- und Ausgehen ausgenommen. Es war ganz erstaunlich, wie warm dieser Platz wurde, nachdem wir uns erst einmal einige Zeit da befanden. Es war fast zu warm, obgleich draußen eine durchdringende Kälte herrschte. Nach einem guten Abendessen und einem Schluck Branntwein schliefen wir beide ein; vorher aber zog ich die Weibskleider aus und meine eigenen wieder an. Niemals schliefen wir wärmer und besser, als in dieser Höhle, die wir auf einem mit Schnee und Eis bedeckten Boden uns zurecht gemacht hatten.

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