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Zweites Kapitel.

Ernste Folgen der Schwerkraft. – O'Brien wandelt sich in einen Gendarmen um und transportiert mich. – Wir werden entdeckt und müssen Reißaus nehmen. – Die Annehmlichkeiten eines Winterbivouaks.

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Bei meinem Erwachen, das erst Mittag erfolgte, fand ich, daß O'Brien mich mehr als einen Fuß hoch mit Laub bedeckt hatte, um mich gegen das Wetter zu schützen. Ich fühlte mich ganz warm und behaglich; meine Kleider waren mir am Leibe getrocknet, jedoch ohne mich zu durchkälten.

»Wie gut ist es doch von Dir, O'Brien!« sagte ich.

»Gar nicht, Peter. Du hast jetzt noch eine schwere Arbeit durchzumachen und ich muß für Dich besorgt sein. Du bist erst 'ne Knospe, aber ich bin eine vollblühende Rose.«

Mit diesen Worten nahm er die Branntweinflasche an seinen Mund und gab sie dann mir.

»Jetzt, Peter, müssen wir uns davonmachen, denn verlaß Dich darauf, sie werden die Gegend nach uns durchstreifen; aber das ist 'n großer Wald, und wenn wir einmal im Herzen desselben sind, so mögen sie eben so gut versuchen, eine Nadel in einem Bund Heu zu finden.«

»Ich glaub'«, sagte ich, »dieser Wald wird von Shakespeare in einem seiner Schauspiele angeführt.«

»Sehr möglich, Peter«, antwortete O'Brien; »aber jetzt sind wir bei keiner Komödie; und was sich recht hübsch liest, ist in der Wirklichkeit kein Spaß. Ich hab' oft bemerkt, daß die Schriftsteller das Wetter nicht in Betracht ziehen.«

»Ich bitt' um Verzeihung, O'Brien; im König Lear ist das Wetter fürchterlich.«

»Wohl möglich; aber was für ein König war das, daß er bei solchem Wetter hinausging?«

»König Lear that's, als er wahnsinnig war.«

»Und das war er, das ist gewiß, Peter; aber entsprungene Gefangene haben einige Entschuldigung; darum jetzt vorwärts.«

Nun ging's fort, und wir drangen ungefähr drei Stunden lang mit Gewalt durch das Dickicht, wobei O'Brien gelegentlich auf seinen Taschenkompaß sah; es war beinahe dunkel geworden, als er vorschlug Halt zu machen. Aus Laub bereiteten wir uns ein Nachtlager und schliefen viel behaglicher als die vergangene Nacht. All unser Brot war naß; da wir aber kein Wasser hatten, so kam uns dies eigentlich eher zu gute. Unser Fleischvorrat war hinreichend für eine Woche. Wir legten uns noch einmal nieder und sanken in tiefen Schlaf; um etwa fünf Uhr morgens ward ich von O'Brien aufgeweckt, wobei er seine Hand sanft vor meinen Mund hielt. Ich richtete mich auf und gewahrte nicht ferne von uns ein großes Feuer.

»Die Philister sind über uns, Peter,« sagte er; »ich hab's ausgespäht, es sind Gendarmen. Ich fürchte mich, weiter zu gehen, da wir noch auf mehrere derselben stoßen könnten. Ich habe deshalb, ehe ich Dich weckte, darüber nachgedacht, was das Beste sei, und das Rätlichste ist, dünkt mich, wenn wir auf diesen Baum steigen und uns darauf hinlegen.«

Wir hatten uns unter Gesträuch und Buschwerk versteckt, in dessen Mitte eine große mit Epheu umrankte Eiche stand.

»Ich glaube auch, wir sollten das thun, O'Brien; sollen wir jetzt hinaufgehen oder noch ein wenig warten?«

»Sogleich, gewißlich, denn sie verzehren jetzt ihr Frühstück. Steig hinauf, Peter, ich will Dir helfen.«

O'Brien schob mich auf den Baum hinauf, blieb noch eine kleine Weile unten, um unsere Tragtaschen unter dem Laub zu verscharren, und dann folgte er mir. Mich hieß er in einer ganz bequemen Stellung auf dem untersten Ast des Baumes verbleiben, während er sich, ganz unter dem Epheugebüsch, einen anderen großen Zweig auswählte. Wir waren ungefähr eine Stunde dagewesen, als es Tag wurde. Wir sahen, wie die Gendarmen bei Tagesanbruch von dem Korporal gemustert wurden und wie sie sich dann alle nach verschiedenen Richtungen hin zerstreuten, um den Wald zu durchsuchen. Wir waren sehr erfreut, als wir dies sahen, weil wir hofften, bald weiter gehen zu können, aber einer der Gendarmen blieb da. Er ging auf und ab, und blickte nach allen Seiten hin, bis er gerade unter den Baum kam, auf dem wir uns verborgen hatten. Er durchsuchte alles ringsherum, bis er zuletzt an das Laubbett kam, auf dem wir geschlafen hatten; darin störte er mit seinem Bajonette herum und wühlte so endlich unsere Tragtaschen heraus.

» Pardi!« rief er aus, »wo das Nest und die Eier sind, befinden sich auch die Vögel in der Nähe.«

Dann ging er rings um den Baum herum und sah nach jeder Seite hinauf; aber wir waren gut verborgen und er konnte uns einige Zeit lang nicht ausfinden. Am Ende sah er mich und befahl mir, herunterzukommen; ich schenkte ihm aber kein Gehör, weil ich kein Zeichen von O'Brien hatte. Nun ging er ein wenig weiter herum, bis er gerade unter den Ast zu stehen kam, auf dem O'Brien lag. Indem er diese Stellung annahm, könnt er besser auf mich zielen, und so schlug er nun sein Gewehr an mit den Worten: » Descendez, ou je tire!«

Ich blieb jedoch fortwährend unbeweglich sitzen, weil ich nicht wußte, was zu thun sei; meine Augen aber schloß ich zu; kurz darauf wurde die Muskete abgedrückt, und plötzlich verließ ich, ob aus Furcht oder nicht, kann ich nicht bestimmt sagen, meinen Anhaltspunkt und fiel herunter. Vom Fall wurde ich ganz betäubt und glaubte verwundet worden zu sein; sehr erstaunt aber war ich, als statt des Gendarmen O'Brien auf mich zukam und fragte, ob ich beschädigt sei. Ich antwortete, daß ich es nicht glaube, und stand auf; da sah ich den Gendarmen, der schwer atmend, aber besinnungslos auf dem Boden lag. Als O'Brien gewahrte, daß der Gendarm sein Gewehr auf mich anschlug, stürzte er sich plötzlich von dem Aste und gerade auf dessen Haupt herab; so kam es, daß der Schuß losging, ohne mich zu treffen, während zugleich das Gewicht von O'Briens Körper, von einer solchen Höhe herunter, den Gendarmen tötete; denn er starb, noch ehe wir von ihm weggingen.

»Nun, Peter,« sagte O'Brien, »das ist der glücklichste Umstand von der Welt, und wird uns durch's halbe Land forthelfen; aber wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Dann entkleidete er den Gendarmen, der noch fortwährend schwer stöhnte, schleppte ihn zu unserem Laubbette hin und überdeckte ihn mit demselben; seine eigenen Kleider zog er aus und band sie in ein Bündel zusammen, das er mir zu tragen gab, während er die des Gendarmen anzog. Ich mußte unwiderstehlich lachen bei dieser Metamorphose, und fragte O'Brien, was er beabsichtige.

»Nun ja, ich bin ein Gendarm, der einen entwichenen Gefangenen bei sich führt.«

Hierauf band er meine Hände mit einem Strick zusammen, nahm das Gewehr auf die Schulter und wir zogen fort. Jetzt verließen wir den Wald, sobald wir konnten; denn für die nächsten zehn Tage, sagte O'Brien, hätten wir nichts zu befürchten; und so stellte es sich auch heraus. Nur eine Schwierigkeit hatten wir, nämlich die, daß wir den unrechten Weg machten; diese beseitigten wir aber dadurch, daß wir meistens bei Nacht reisten, wo keine Fragen an uns gerichtet wurden, außer in den Wirtshäusern, wo wir logierten; da wußte man aber ja nicht, von wo wir herkamen. Wenn wir über Nacht blieben, erweckte meine Jugend, besonders bei dem weiblichen Geschlechte, großen Anteil, und einmal ward mir Beihilfe zur Flucht angeboten. Ich willigte ein, benachrichtigte aber zugleich O'Brien von dem vorgeschlagenen Plane. Er stellte sich auf die Wache – ich zog mich an und begab mich an das offene Fenster, als er hereinstürzte, mich festnahm und erklärte, er wolle das Gouvernement von dem Benehmen der Leute in Kenntnis setzen. Ihre Verwirrung und Angst war sehr groß; sie boten O'Brien zwanzig, dreißig, vierzig Napoleon an, wenn er darüber schweigen wolle, denn sie wußten, daß sie mit Geld- und Freiheitsstrafe gebüßt werden würden. O'Brien erwiderte, daß er kein Geld annehmen wolle, um sich seiner Pflicht abtrünnig machen zu lassen; wenn er mich dem Gendarmen auf der nächsten Station übergeben habe, so sei sein Geschäft zu Ende und dann müsse er nach Vließingen zurückkehren, wo er stationiert sei.

»Ich habe eine Schwester da,« antwortete die Frau vom Hause, »die eine Wirtschaft treibt. Sie werden guten Quartiers und eines freundlichen Trunkes bedürfen; zeigen Sie uns nicht an und ich will Ihnen einen Brief an sie mitgeben; wenn er seine Dienste nicht thut, so können Sie ja zurückkehren und uns immer noch angeben.«

O'Brien willigte ein; der Brief ward ihm übergeben und vorgelesen. Die Schwester wurde in demselben bei aller Liebe, die sie für die Schreiberin hege, gebeten, für den Überbringer alles zu thun, was sie nur könne; denn derselbe habe die Macht, die ganze Familie ins Elend zu stürzen, obschon er keinen Gebrauch von derselben machen wolle.

O'Brien steckte den Brief ein, füllte seine Branntweinflasche, grüßte alle Frauenzimmer und verließ das Wirtshaus, indem er mich an einem Stricke mit sich fortführte. Der einzige Unterschied, wie er mir später sagte, als wir herauskamen, lag darin, daß er alle Frauenzimmer küßte, während letztere alle mich küßten.

Auf diese Weise waren wir über Charleroy und Löwen gekommen und nur noch einige Meilen von Mecheln entfernt, als ein Umstand vorfiel, der uns nicht wenig in Verlegenheit brachte.

Wir setzten unseren Weg fort, um Mecheln zu vermeiden, das eine befestigte Stadt war, und befanden uns gerade auf einem schmalen Feldwege, auf dessen beiden Seiten breite mit Wasser angefüllte Gräben waren.

Als wir um eine Straßenecke bogen, stießen wir auf den Gendarmen, der O'Brien den Plan der Stadt Givet geliefert hatte.

»Guten Morgen, Kamerad,« sagte er zu O'Brien, indem er ihn scharf ansah, »wen habt Ihr da?«

»Einen jungen Engländer, der aus dem Gefängnis entsprungen ist und den ich in der Nähe erwischt habe.«

»Aus welchem?«

»Er will es nicht sagen: aber ich vermute aus Givet.«

»Von dort sind ihrer zwei entwichen,« antwortete er; »aber wie sie davongekommen sind, kann sich niemand vorstellen. Doch,« fuhr er fort, O'Brien aufs neue ansehend, »den Beherzten ist nichts unmöglich.«

»Das ist wahr,« entgegnete O'Brien, »ich habe den einen aufgegriffen und da kann der andere auch nicht ferne sein. Ihr werdet daher gut thun, ihm aufzulauern.«

»Ich muß sehen, wie ich ihn ausfindig mache,« sagte der Gendarm, »denn Ihr wißt, daß das Wiedereinbringen eines Gefangenen eine gewisse Beförderung zur Folge hat. Ihr werdet Korporal.«

»Um so besser,« sagte O'Brien; » adieu, mon ami.«

»Nicht doch, ich bin bloß auf einem Ausflug begriffen und begleite Euch nach Mecheln zurück, wo Ihr ja hingehen müßt.«

»Heute Nacht werden wir nicht mehr dahinkommen,« sagte O'Brien, »mein Gefangener ist zu sehr ermüdet.«

»Gut, dann gehen wir, so weit wir können, und ich will Euch beistehen. Vielleicht finden wir den andern, der, wie ich höre, auf irgend eine Weise sich einen Plan der Festung zu verschaffen wußte.«

Da sahen wir denn ein, daß wir entdeckt waren. Er erzählte uns sodann, daß man den Leichnam eines Gendarmen im Walde gefunden habe; derselbe sei ohne Zweifel von den Gefangenen getötet und ganz nackt ausgezogen worden.

»Es sollte mich wundern,« fuhr er fort, »wenn nicht einer der Gefangenen seine Kleider angezogen hat und sich für einen Gendarmen ausgiebt.«

»Peter,« sagte O'Brien, »müssen wir diesen Mann töten oder nicht?«

»Ich muß ›nein‹ sagen; stelle Dich, als ob Du ihm vertrautest und dann können wir ihm vielleicht entwischen.«

Diese Worte wurden gewechselt, während der Gendarm einen Augenblick hinter uns stehen blieb.

»Gut, wir wollen's versuchen; zuerst aber will ich ihn sorglos machen.«

Als der Gendarm wieder zu uns herkam, sagte ihm O'Brien, »die englischen Gefangenen seien äußerst freigebig; er wisse, daß oft hundert Napoleon für die Beihilfe zur Flucht bezahlt worden seien, und ihn dünke, der Korporalsrang sei nicht so viel wert, als eine Summe, die in Frankreich einen Mann glücklich und für sein Lebenlang unabhängig machen könne.«

»Ganz richtig,« erwiderte der Gendarm; »laßt mich einmal diese Summe sehen, und ich stehe für gesichertes und ungehindertes Entkommen aus Frankreich.«

»So verstehen wir einander,« sagte O'Brien; »dieser Bursche will zweihundert geben – die Hälfte davon soll Euch sein, wenn Ihr Beistand leisten wollt.«

»Ich will es noch bedenken,« entgegnete der Gendarm, der nun über gleichgültige Gegenstände sprach, bis wir in einer kleinen Stadt, Acarchot genannt, ankamen, wo wir uns in ein Wirtshaus begaben.

Nachdem die gewöhnliche neugierige Befragung vorüber war und wir uns allein befanden, sagte O'Brien dem Gendarmen, daß er seine Antwort bis diesen Abend oder morgen früh erwarte. Der Gendarm erwiderte, »daß er sich morgen früh erklären wolle.«

O'Brien bat ihn, auf mich acht zu geben, und forderte dann die Wirtin auf, ihm ein Zimmer anzuweisen. Sie zeigte ihm eines oder zwei, die er aber verwarf, als nicht sicher genug für den Gefangenen. Die Frau lachte über einen solchen Gedanken, mit den Worten: »was er denn von einem pauvre enfant, wie ich sei, zu befürchten habe?«

»Nun, ja, dieses pauvre enfant ist aus Givet entwichen,« versetzte O'Brien. »Diese Engländer sind doch von Geburt aus wahre Teufelskerle.«

Das letzte Zimmer, das O'Brien gezeigt wurde, entsprach ihm und er wählte dasselbe; – die Frau wagte nicht einem Gendarmen zu widersprechen. Sobald sie wieder mit einander heruntergekommen waren, befahl mir O'Brien zu Bette zu gehen, und begab sich mit mir die Treppe hinauf. Er verriegelte die Thür und zog mich zu dem großen Kamin; da steckten wir unsere Köpfe hinein und flüsterten einander zu, damit unser Gespräch nicht gehört werde.

»Diesem Mann kann man nicht trauen,« sagte O'Brien, »und wir müssen ihm entwischen. Ich kenne den Weg zur Stadt hinaus; wir müssen die Straße, auf der wir herkamen, wieder zurückgehen und dann eine andere Richtung einschlagen.«

»Aber, wird er's uns gestatten?«

»Nein, wenn er etwas dabei thun kann; aber ich werde seinen Plan bald ausfindig machen.«

O'Brien verstopfte nun das Schlüsselloch, indem er sein Schnupftuch darüber hing; dann zog er die Gendarmenuniform aus und seine eigenen Kleider an; hierauf stopfte er mit Decken und Kissen die Kleider des Gendarmen aus und legte diese außen auf das Bett hin, gerade als ob es ein Mann wäre, der in seinen Kleidern schläft – die Täuschung war in der That bewundernswert. Er stellte sein Gewehr der Puppe zur Seite, nahm das Gleiche an meinem Bette vor und machte, daß es aussah, als ob eine Person von meiner Größe da schliefe; dem Kopfkissen setzte er meine Kappe auf.

»Jetzt, Peter, wollen wir sehen, ob er uns bewacht. Er wird so lange warten, bis er glaubt, daß wir schlafen.«

Das Licht brannte im Zimmer fort und ungefähr nach einer Stunde hörten wir ein Geräusch von Fußtritten auf der Treppe, worauf wir verabredetermaßen unter das Bett krochen. Die Schnalle unserer Thüre war probiert, und da der Gendarm sie offen fand, was er nicht erwartet hatte, so trat er herein, ging aber, nachdem er die Betten angesehen, wieder fort.

»Nun,« sagte ich, als er wieder die Treppen hinunter war, »sollten wir jetzt nicht entfliehen?«

»Ich habe schon darüber nachgedacht, Peter, und bin zu einem Entschluß gekommen, daß wir es noch besser einrichten können. In einer oder zwei Stunden wird er gewiß wiederkehren; es ist erst elf Uhr, dann will ich ihm einen Possen spielen.«

O'Brien nahm eine der Decken, befestigte sie an dem Fenster, das er weit offen ließ, und verwirrte die Figuren, um dem Gendarmen bemerklich zu machen, daß es nur Täuschung war. Dann krochen wir wieder unter das Bett, und in einer starken Stunde kam, wie O'Brien vorhergesagt hatte, der Gendarm wieder; unsere Lampe brannte noch immer, aber er hatte selbst sein Licht.

Er sah nach den Betten und gewahrte, daß er hintergangen worden war; dann kam er ans offene Fenster und rief aus:

» Sacre Dieu! sie sind mir durchgegangen und ich werde nicht Korporal, Foutre à la chasse!«

Er stürzte hinaus und wenige Minuten nachher hörten wir, daß er die Hausthür öffnete und fortging.

»So ist's recht, Peter,« sprach O'Brien lachend; »jetzt wollen wir auch fortgehen, obgleich es keine große Eile hat.«

O'Brien legte seine Gendarmenkleider wieder an und nach einer Stunde etwa kamen wir herunter. Wir wünschten der Wirtin alles Gute und verließen das Haus, um den gleichen Weg zurückzumachen, auf dem wir hergekommen waren.

»Jetzt, Peter«, sagte O'Brien, »sind wir in einiger Verlegenheit. Mit diesem Anzug hier geht's nicht mehr länger, und doch steckt so 'n Ansehen darin, das mir nicht gestatten will, ihn abzulegen bis auf den letzten Augenblick.«

Wir marschierten bis zu Tagesanbruch, wo wir uns unter dem Gebüsch von Bäumen versteckten. Nachts eilten wir wieder dem Ardennenwalde zu, denn O'Brien sagte, es sei das beste, dorthin für so lange zurückzukehren, bis unsere Verfolger glauben würden, wir hätten unsere Flucht glücklich bewerkstelligt; aber wir erreichten den Wald nicht, denn am nächsten Tage trat ein heftiges Schneegestöber ein, das ohne Unterbrechung vier Tage fortdauerte, während deren wir außerordentlich viel auszustehen hatten. Unser Geld war nicht erschöpft, denn ich hatte sechzig Pfund auf meinen Vater gezogen, was mir bei dem ungünstigen Wechselkurs fünfzig Napoleon einbrachte. Bisweilen schlich sich O'Brien in ein Wirtshaus hinein, um Lebensmittel anzuschaffen; aber da wir nicht mehr wie früher wagen durften, uns mit einander sehen zu lassen, so mußten wir unter freiem Himmel schlafen, während der Boden mehr als drei Fuß tief mit Schnee bedeckt war. Am fünften Tage, dem sechsten, nachdem wir den Ardennenwald verlassen, verbargen wir uns in einem, ungefähr eine Viertelmeile von der Straße entlegenen Wäldchen. Ich blieb da und O'Brien ging als Gendarm fort, Lebensmittel zu holen. Wie gewöhnlich sah ich mich während seiner Abwesenheit nach dem besten Obdache um; wie groß aber war mein Schrecken, als ich auf einen Mann und eine Frau stieß, die tot im Schnee lagen und augenscheinlich infolge der so rauhen Witterung umgekommen waren. Gerade, als ich diese entdeckte, kehrte O'Brien zurück und ich erzählte es ihm; er ging mit mir, um die Leichname zu sehen. Sie waren in eine fremde Tracht gekleidet und Bänder auf ihrem Anzuge befestigt; ihnen zur Seite lagen zwei paar hohe Stelzen.

O'Brien betrachtete sie und sagte dann:

»Peter, das ist der allerglücklichste Umstand, der uns hätte begegnen können. Jetzt wollen wir durch Frankreich ziehen, ohne unsere Füße in dem verfluchten Lande zu beschmutzen.«

»Wie meinst Du das?«

»Ich meine«, sagte er, »daß das die Leute waren, die wir bei Montpellier trafen, sie kamen aus den ›Landes‹ (d. i. Heidestrecken, ein Departement) und gingen auf ihren Stelzen herum, um andere zu belustigen und für sich Geld zu erwerben. In ihrem Heimatlande sind sie genötigt, so einherzulaufen. Nun, Peter, scheint mir's, daß die Kleider des Mannes mir passen und die des Mädchens (armes Geschöpf, wie hübsch sie aussieht, kalt und tot) werden Dir recht sein. Alles, was wir brauchen, ist ein bischen Übung und dann vorwärts.«

Hierauf zog O'Brien, nicht ohne einige Mühe, dem Manne Jacke und Hosen aus und verscharrte ihn, nachdem dies geschehen, in den Schnee. Dem armen Mädchen wurde ihr Kleid und der äußere Unterrock in aller Sittsamkeit abgezogen, und auch sie hierauf verscharrt. Wir packten die Kleider und die Stelzen zusammen und begaben uns nach einem andern Teile des Waldes, wo wir eine gutbedeckte Stelle fanden, auf der wir unser Mahl einnahmen. Da wir diese Nacht nicht, wie sonst, fortmarschierten, so mußten wir unser Lager bereiten. Wir scharrten den Schnee weg und machten's uns so behaglich, als wir ohne Feuer konnten, aber das Wetter war schrecklich.

»Peter«, sagte O'Brien, »ich bin ganz trübsinnig. Da, thu einen guten Zug.«

Damit reichte er mir die Branntweinflasche, die wir nie leer werden ließen.

»Trink mehr, Peter.«

»Ich kann nicht, O'Brien, ohne berauscht zu werden.«

»Bekümmere Dich nichts darum, trink mehr; denk an jene zwei armen Teufel: sie mußten ihr Leben lassen, weil sie im Schnee einschliefen. Peter«, sagte O'Brien, indem er aufsprang, »Du darfst hier nicht schlafen, – folge mir.«

Ich machte vergebens Einreden. Es war fast schon dunkel, und er führte mich zu einem Dorfe, in dessen Nähe er mich nach einem Schuppen (einer Art Vorhaus) wies.

»Peter, da ist 'n Obdach; leg' Dich hin und schlaf, und ich will Wache halten. Nicht ein Wort, ich will es haben – also thu's.«

Ich folgte ihm, und schon in ein paar Minuten lag ich in tiefem Schlaf, denn von Kälte und Anstrengung war ich ganz erschöpft. Seit mehreren Tagen waren wir jede Nacht fortmarschiert, und der Schlaf, den wir bei Tag genossen, war unbedeutend. O, wie sehnte ich mich nach einem warmen Bette mit vier oder fünf Decken! Gerade als der Tag anbrach, weckte mich O'Brien auf: er hatte die ganze Nacht Schildwache gestanden und sah sehr verstört aus.

»O'Brien, Du bist krank,« sagte ich.

»Nicht im geringsten; aber ich habe die Branntweinflasche geleert und das ist ein schlimmer Streich. Übrigens, da kann geholfen werden.«

Hierauf kehrten wir unter Staubregen und Nebel nach dem Wald zurück; das Wetter hatte sich nämlich geändert und die starke Kälte aufgehört. Übrigens war das Tauwetter eben so schlimm als der Frost, und die Kälte fühlten wir jetzt nur noch mehr.

O'Brien bestand wieder darauf, ich solle in dem Vorhause schlafen; aber nun weigerte ich mich entschieden, wenn er nicht auch da schlafen wolle, indem ich ihm auseinandersetzte, daß wir auf diese Weise nicht mehr Gefahr liefen, und vielleicht nicht einmal so viel, als wenn er außen stehen bliebe. Da er mich fest entschlossen sah, so willigte er zuletzt ein und wir erreichten beide die Hütte unbemerkt. Wir legten uns nieder, aber ich konnte einige Zeit lang nicht einschlafen, denn ich war sehr besorgt darum, O'Brien auch wirklich schlafen zu sehen. Er ging mehrere Male aus und ein, wobei ich mich stellte, als ob ich in tiefem Schlummer läge. Endlich fiel der Regen in Strömen herab; dann legte er sich wieder hin und fiel auch in wenigen Minuten, überwältigt von der Natur, in tiefen Schlaf, wobei er so laut schnarchte, daß ich fürchtete, es möchte uns jemand hören. Nun stand ich auf und hielt Wache; bisweilen legte ich mich hin und schlummerte ein wenig, ging dann aber immer wieder nach der Thür hin.

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