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XX.

Falk und seine Mutter waren hinunter nach Jökelheim in das große Gebäude gezogen und hatten die Schüler wieder zu sich in Kost genommen. Ulla und Etty lebten mit den Kindern oben in dem kleinen Haus zwischen den Felsen am Wasserfall – weil Ulla die Schule in ihrem jetzigen Zustand zu sehr angriff, hieß es.

Sie war auch den ganzen Winter sehr elend und konnte sich nur wenig bewegen. Die letzten Monate mußte sie ganz zu Bett liegen.

Falk, der sich vorgenommen hatte, die Schule wieder in die Höhe zu bringen, hatte mit der Einrichtung einer Sloidschule, Handfertigkeitsunterricht, speziell im Hobeln und Holzschnitzen.von der er so lange geträumt hatte, angefangen. Von allen Seiten strömten wieder neue Schüler herbei, und er hatte so viel zu thun, daß er nur kurze Zeit täglich bei Frau und Kindern sein konnte. Der kleine Rolf aber war beständig unten in der Schule und lief dem Vater auf Schritt und Tritt nach.

Das Verhältnis zwischen Falk und Ulla war wieder freundlich geworden, aber eine Wehmut lag darüber wie auf der Liebe, die man Sterbenden weiht. Die beständigen Schmerzen unter denen Ulla litt, machten, daß sie kaum für etwas anderes als ihren körperlichen Zustand Sinn hatte und in ihrem Gefühlsleben so erschlafft war, daß sie den tiefen Riß zwischen ihnen mit einer gewissen Gleichgiltigkeit hinnahm. Sie dachte an nichts weiter und wünschte nichts weiter als von ihren Schmerzen befreit zu werden.

Ende Januar gebar sie ein kleines, zartes Mädchen, dessen Lebensfunke so schwach war, daß man wochenlang fürchtete, er würde verlöschen. Erst im Laufe des März fingen Mutter und Kind an, sich zu erholen. Margit, die zu derselben Zeit einen kleinen Knaben verloren hatte, übernahm die Pflege des Kindes von seiner Geburt an, und nun stand Ullas Reise kein Hindernis mehr im Wege.

Ohne daß darüber gesprochen wurde, wußten doch alle, daß sie reisen würde, und sie selbst hatte das Gefühl, daß sie jetzt kein Recht mehr hätte, daheim zu bleiben. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt und konnte nun gehen, wann sie wollte. Man würde sie nicht vermissen, im Gegenteil, ihre Gegenwart unter den jetzigen Verhältnissen brachte nur peinliche Verstimmung für alle mit sich. Falk sah finster und unglücklich aus, mit bleichen Wangen und eingesunkenen Augen, und seine Mutter, die ihn angstvoll beobachtete, klagte unaufhörlich darüber, daß er so abmagerte, wenig äße und die Nächte unruhig schliefe.

Je näher die Zeit der Abreise kam, desto mehr bebte Ulla vor der fürchterlichen Einsamkeit zurück, der sie entgegenging, wenn sich die Thüre hinter ihr geschlossen haben würde, die alles verbarg, was sie Teures und Liebes besaß, und desto leerer erschien ihr der Sieg in der Kunst, dem sie nun nachjagen wollte.

Es war wieder der alte Zwiespalt, dieses nach zwei Richtungen hin Gezogenwerden, was das Unglück ihres Lebens ausmachte. Warum mußte das Leben für sie so qualvoll komplizirt sein! Warum mußte es ihr seine schönsten Gaben schenken, nur um sie unglücklich zu machen? Hätte sie weniger bekommen, würde sie unendlich viel mehr besitzen. So aber war sie dazu verurteilt, ewig das lieben zu müssen, was sie nicht behalten durfte, und sich ewig nach dem zu sehnen, was sie nicht besaß.

Etty beobachtete mit steigender Unruhe Ullas Reisevorbereitungen. Sie wollte nicht mit und wußte doch nicht, wie sie sich dem entziehen sollte. Sie sagte sich, daß sie unentbehrlich im Hause wäre; denn ihre letzte große Illusion war die, sich für diejenige zu halten, welche die Kinder aufzog und für deren leibliches und geistiges Wohl sorgte. Sie spielte mit ihnen, las ihnen Gebete vor, fütterte sie bei Tische und hatte beständig irgend eine unpraktische Stickerei für Kragen oder Schürzen vor, die doch niemals fertig wurde.

Aber das konnte sie doch nicht hervorheben, wenn Falk und Ulla fanden, daß sie mitreisen könnte. Treu ihrer alten Gewohnheit wartete sie deshalb passiv und hoffte, Gott würde ihre Gebete erhören und irgend ein Hindernis für diese Reise schicken, die für sie auch nicht die geringste Verlockung hatte. Mit Falk allein zu bleiben, wenn Ulla weg wäre, erschien ihr dermaßen als Gipfelpunkt alles Glückes, daß sich ihre Träume nur noch darum bewegten, während sie sich stillschweigend in Reisekleidung und anderem Bedarf ausrüsten ließ.

Ulla merkte aber doch, wie wenig Interesse sie für alles hatte, was die Reise betraf, und fragte sie, ob sie sich denn gar nicht freue, so viel Schönes zu sehen; sie erwiderte indessen vollkommen gleichgiltig, daß sie schon wüßte, wie alle die Kunstwerke aussähen, denn sie hätte so viel darüber gelesen, daß sie in ihrer Phantasie sie sich lebhaft vorstellen könnte.

Diese Gleichgiltigkeit ärgerte Ulla. Ihr war es eine Freude, doch jemand aus ihrem Heim mit zu haben, der ihrer bedurfte und dem sie etwas sein konnte. Die Pflegebedürftigkeit dieses armen, hilflosen Wesens würde dazu beitragen, daß sie sich weniger einsam fühlte, und die Notwendigkeit, etwas für ihre Gesundheit zu thun, versetzte sie einigermaßen in die Illusion, daß sie doch nicht allein um ihrer selbst willen reise. Deshalb beschäftigte sie sich auch viel mehr mit Ettys Reiseausrüstung als mit ihrer eignen, und wenn sie einmal mit der Mutter von der Reise sprach, war es immer im Hinblick auf Ettys Wohl – daß sie langsam reisen müßten, um sie nicht zu sehr anzugreifen – mit dem oder jenem berühmten Spezialarzt sprechen, während des Hochsommers auf die Berge gehen sollten und so weiter.

Eines Nachmittags, als Falk in seinem Arbeitszimmer in Jökelheim saß, sah er Etty mit dem kleinen Rolf draußen auf dem Hof herumspringen und Habicht und Taube spielen. Jede heftige Bewegung war ihr verboten, und er war eben aufgestanden um hinaus zu gehen und dem Spiel Einhalt zu thun, als er sah, daß sie hinfiel. Er eilte ganz erschrocken hinaus um ihr aufzuhelfen, aber sie blieb ruhig liegen und lachte so herzlich, daß der kleine Rolf sich auf sie warf und mit ihr balgte, so daß Falk auf der Treppe stehen blieb, sie gewähren ließ und ihnen lächelnd zusah.

Plötzlich aber stieß Etty Rolf auf die Seite und stützte sich auf ihren Ellenbogen. Sie bog sich nach vorn, und Falk sah einen hellen Blutstrom über ihre Lippen stürzen, während sie leise wimmerte. Er sprang hinzu, nahm sie in seine Arme und trug sie in sein Zimmer, dann lief er nach der Mutter, die augenblicklich mit Eisbeutel und Morphiumflasche kam. Ein Bote wurde hinauf nach der Felsenhütte zu Ulla geschickt.

Der kleine Rolf war zu Etty auf das Sofa geklettert und sah mit erschreckten Blicken ihre blutigen Lippen. Sie lächelte ihm zu, und ehe sich jemand dessen versah, sprang sie auf die Diele, hob den Kleinen auf ihren Armen in die Höhe, küßte ihn lachend und rief ihm zu: »Du Dich nicht fürchten sollt, das thut nix, Etty wiede gut ist und wiede spingen kann.«

Falk erschrak, als er sah, wie sie das Kind an die kranken Lippen mit ihrem blutigen Schaum drückte; er stürzte hin und nahm ihr den Knaben weg.

»Darf ich Dein Kind nicht küssen?« fragte sie und sah ihn bestürzt an.

»Nein, Liebe – es thut mir zwar schrecklich leid, aber Du mußt doch auch etwas an das Kind denken – Du weißt doch, wie gefährlich es ist.«

Wie oft hatte sie schon dasselbe sagen hören, aber immer war es an ihr abgeglitten, wie so viele Erscheinungen des täglichen Lebens. Als sie es aber von ihm zum erstenmal jetzt hörte, traf es sie wie ein vernichtender Schlag.

»Darf ich Dein Kind nicht küssen?« rief sie mit ihrer eigentümlichen, klagenden Stimme. »Nie mehr – niemals mehr Deine Kinder küssen?«

Sie warf sich auf das Sofa und brach in Thränen aus.

»O Gott, ist mein Atem so vergiftet? Kann ich denen, die ich liebe, nur Krankheit und Tod bringen! Dann laß mich lieber sterben, mein Gott! Jesus, nimm mich zu dir. Hier auf Erden will mich niemand mehr lieben – ich bin eine Verpestete, vor der man sich scheut.«

Falk erschrak über diesen heftigen Ausbruch, der für sie lebensgefährlich werden konnte, besonders jetzt, da ihr Blut so in Wallung war. Er beugte sich über sie herab, faßte sie an den Schultern, drehte sie herum – und küßte sie.

Sie fuhr mit einer raschen Bewegung in die Höhe und umschlang ihn.

»Fürchtest Du Dich nicht, mich zu küssen?« fragte sie und ihre Augen strahlten in einem solchen Glanz, daß er fast geblendet wurde. Statt zu antworten, zog er sie noch näher an sich, während er sich auf die Sofakante neben sie setzte. Da drückte sie ihre Lippen auf die seinen, in einem langen, leidenschaftlichen Kuß – einem Kuß, in dem ihre ganze verzehrende Sehnsucht nach seiner Liebe lag, der glühenden Sehnsucht, die sie so lange beherrscht, gegen die sie so oft gekämpft hatte, und die doch nach jedem scheinbaren Siege immer von neuem mit verdoppelter Stärke wieder erwachte. Weder ihre jungfräuliche Scham, noch ihre Ueberzeugung von der Sündigkeit aller sinnlichen Liebe halfen ihr in diesem Augenblick sie überwinden. Sie sammelte ihre letzte Lebenskraft in diesem Kuß, der ihm schließlich peinlich und widerwärtig wurde, ohne daß er gewagt hätte, sich ihr zu entziehen und sie von neuem unglücklich zu machen.

Endlich sank ihr Kopf wieder zurück auf das Sofakissen; ein neuer Blutstrom brach aus ihrem Munde, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten, ihr Kopf fiel auf die Seite, sie that ein paar schwache Atemzüge – und so lag sie noch, als Ulla kam, halb vom Sofa herabgesunken, wie ein kleiner, angeschossener Vogel in seinem Blute.

Man wagte nicht, sie fortzutragen, sondern Falk überließ ihr sein Zimmer, und sie wurde in sein Bett gelegt, während er selbst in Ullas frühere Zimmer eine Treppe hoch zog. Ulla blieb bei Etty und pflegte sie mit ängstlicher Hingabe, als wollte sie sie mit Gewalt am Leben erhalten. Und während sie am Krankenbette saß und sah, wie die Kräfte von Tag zu Tag abnahmen, überkam sie ein Gefühl, als ob die Einsamkeit, die ihrer wartete, wenn auch dieses Band zerrissen sein würde, unaufhörlich wüchse und sich ausdehnte, bis sie gleichsam allen Raum um sie her ausfüllte.

Etty war immer heiter und sprach fortwährend davon, daß sie bald wieder aufstehen könnte. Ihre Gedanken waren mit unbedeutenden und gleichgiltigen Dingen beschäftigt, und während ihre ganze Umgebung wußte, daß es jede Stunde mit ihr zu Ende gehen könnte, dachte sie auch nicht im entferntesten an den Tod. Bis zuletzt lebte sie in ihren maßlosen Phantasien, unberührt von der Wirklichkeit, glaubte sich im Besitz alles dessen, was sie sich wünschte – Gesundheit, Talente, Schönheit, Liebe und verlöschte endlich leicht und ohne Kampf.

Gleich nach ihrem Begräbnis fuhr Falk fort, um an einer Volkshochschulenversammlung in Westland teil zu nehmen. Obgleich sie nie darüber gesprochen hatten, wann Ulla abreisen wollte, wußten sie doch beide, daß es während seines Wegseins geschehen würde. Ihr Abschied war aufregend, aber kurz. Keines wagte sich selbst einzugestehen, daß es vielleicht eine Trennung für das Leben würde.

Eine Woche später reiste Ulla weg. Kein Wort war zwischen ihr und der Mutter über ihr Wiederkommen, überhaupt über die Zukunft gewechselt worden. Frau Falk versuchte nur, sich dafür zu interessiren, daß sie sich auch warm genug für die Reise kleidete, sich Cognac in einer Feldflasche mitnähme, weil der bei Erkältungen gut wäre, daß sie ihr Geld an verschiedenen Stellen aufbewahre für den Fall, daß sie bestohlen werden sollte und was dergleichen praktische Einzelheiten mehr waren.

Ulla hatte seit Ettys Tod beide Kinder des Nachts bei sich gehabt. Sie hatten sich deshalb viel ausschließlicher an sie gewöhnt und kamen früh zu ihr in das Bett gekrochen, um mit ihr zu spielen und sie zu liebkosen. Ettys Zärtlichkeit hatte bei dem kleinen, noch nicht zweijährigen Ingjald, der ein weiches, liebevolles Gemüt hatte, das Bedürfnis erweckt, beständig zu küssen und zu streicheln. Rolf dagegen, der wilder und unstäter von Natur war und schon tüchtig und männlich sein wollte, fand sein Hauptvergnügen im Puffen und Kratzen oder Beißen –, das war seine Art, seine Liebe zu beweisen.

An dem Morgen, als sie reisen wollte, waren die Kinder gerade besonders zum Spielen aufgelegt und wollten durchaus nicht von ihr fort. Rolf war es gelungen, sie auf die eine Seite des großen Bettes zu drängen und jedesmal erhob er ein lautes Freudengeschrei, wenn es ihm geglückt war, ihren scheinbaren Widerstand zu besiegen und sie wieder ein Stückchen näher an die Bettkante zu drängen. Er fuhr im Bette auf und ab, bald auf den Knieen, bald trampelte er mit seinen kleinen, dicken Beinen auf ihr herum, bald schob er sie an den Schultern, bald an den Beinen Zoll für Zoll zur Seite, ganz entflammt von Eifer und Siegesstolz. Der kleine Ingjald war an ihre Brust gekrochen und küßte mitten im Tumult des Kampfes ihren Arm, bis ihn Rolf endlich ziemlich rücksichtslos wegpuffte, so daß er zu weinen anfing.

Ulla hatte eine Zeit lang mitgespielt und sich damit amüsirt, sich vorwärts und rückwärts zu werfen, so daß, wenn es Rolf geglückt war, die Füße fortzuschieben, der Oberkörper wieder auf der alten Stelle lag und umgekehrt.

Plötzlich aber fuhr sie im Bett in die Höhe, sprang heraus, nahm beide Knaben, einen nach dem andern, und schob sie in das anstoßende Zimmer, während sie nach dem Kindermädchen rief, die sie anziehen sollte. Dann machte sie die Thüre wieder zu, warf sich auf ihr Bett und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus.

Als sie mit geröteten Wangen und verweinten Augen zum Frühstückstisch kam, stand der Wagen schon vor der Thüre, der sie die ersten Meilen fahren sollte. Sie nahm eilig und nervös Abschied und fuhr hastig davon, ohne sich umzusehen. Der kleine Rolf hatte gebeten, ein Stückchen mitfahren zu dürfen, aber sie hatte es ihm in heftigem Tone abgeschlagen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn erst bei sich im Wagen zu haben und ihn dann mitten auf der Landstraße zu verlassen.

Das Kind blieb still auf dem Hofe stehen und sah ihr nach, als sie davonfuhr. Als sie den halben Hügel hinunter war, der bis zur Landstraße hinabging, konnte sie nicht mehr widerstehen und sah sich um. Sobald der Kleine das merkte, beschloß er, einen letzten Versuch zu machen, seinen Willen durchzusetzen, erhob ein großes Geschrei und fing an, ihr weinend nachzurennen.

Wie konnte sie so von ihm scheiden! Sie ließ den Wagen halten, erwartete ihn und nahm ihn herein zu sich. Er strahlte nun vor Glück, hielt die Zügel, schwenkte mit der Peitsche und plapperte und schwatzte die ganze Zeit. Als sie an eine Biegung des Weges kamen, von wo aus er schon oft allein zurückgegangen war, stieg er freiwillig aus, nachdem er die Abschiedsküsse der Mutter äußerst ruhig und kühl erwidert hatte.

Ulla sah ihm nach, wie er langsam den Weg nach Hause trabte mit seinen kleinen, dicken, festen Beinchen, dem langen blonden Haar im Nacken und der roten Zipfelmütze, die das letzte war, was sie sah – sie leuchtete noch lange weithin wie eine kleine Mohnknospe in einem Getreidefeld.



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