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XV.

Ulla war verstimmt und konnte das Gefühl nicht überwinden, daß sich Falk gegen sie vergangen habe. Der Ausbruch maßlosen, besinnungslosen Zornes, der in Ettys Augen schön war, blieb ihr eine störende Erinnerung, welche ihren Schatten weit hinein in die Zukunft warf. Ihre eigene große Selbstbeherrschung und ihr natürlicher Widerwille gegen alles Gewaltsame und Unharmonische machten sie empfindlich gegen jede heftige Gemütserschütterung, die so viel stärker auf ihr Nervensystem als oft auf nervösere Personen wirkte, weil sie mit ihrer sonstigen gleichmäßigen Ruhe in zu schroffem Gegensatz stand. Ihr Temperament forderte Gleichgewicht und Ruhe.

Sie war im ersten Augenblick nicht so heftig wie Etty aufgeregt worden – aber es kam, wie immer, bei ihr nach. Die Erinnerung an das, was geschehen war, peinigte sie mit jedem Tage mehr. Daß ihr Jugendfreund, von dem sie so viel hielt, und von dem sie wußte, daß im Grunde seines Wesens nichts Schlechtes wohnte, auf so schimpfliche Weise aus ihrem Hause gejagt worden war – das war eine Erinnerung, über die sie sich nicht trösten konnte. Und welches Recht hatte Falk, so streng zu sein! Hatte er sich vor Jahresfrist nicht ungefähr desselben schuldig gemacht, als er Anna Krabbe huldigte? Wie konnte er so vermessen sein, zu glauben, er wäre zum Richter eines andern Menschen berufen?

Sie verschloß ihre Verstimmung in sich, ohne mit ihm darüber zu sprechen, aber er sah es deutlich genug, an ihrem zurückhaltenden Wesen, ihrem Abweisen jeder Annäherung seinerseits, ihrer ganzen stolzen Unnahbarkeit, die ihr in solcher Stimmung eigentümlich war und die ihn zu tief kränkte, als daß sie ihn hätte erkennen und einsehen lassen, daß er unrecht gehabt hatte. Er war zu stolz, um um die Zärtlichkeit zu betteln, die sie ihm versagte, ging aber während dieser Zeit wie ein Gewitter umher und schalt Schüler und Dienstboten wegen Kleinigkeiten, die er sonst unbemerkt durchgehen ließ. Ulla hörte seine Stimme oft laut und zornig; er ging mit so heftigen Schritten, daß das ganze Haus dröhnte; alle fürchteten sich vor ihm und gingen ihm aus dem Wege. Dieses stürmische Wesen trug viel dazu bei, ihre Nervosität zu unterhalten und zu steigern. Sie fuhr schon zusammen und flog auf dem Stuhle in die Höhe, wenn sie ihn eine Thür zuschlagen oder die Treppe herauf stürmen hörte und wich ihm aus, so viel sie konnte.

Margit war so eingeschüchtert, daß sie nicht wagte, ihr Zimmer zu verlassen, wenn Falk zu Hause war. Sobald sie Ulla sah, fing sie zu weinen an und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, in der Hoffnung, Ulla dadurch zu bewegen, Falk milder gegen sie zu stimmen.

Etty war die einzige, die sich in der Gewitterschwüle, welche über dem Haus lastete, wohl zu befinden schien. Sie hatte fortwährend das Gefühl, vor etwas Großem, Außerordentlichem zu stehen, ähnlich dem Zorne Gottes über die Kinder Israel, und die Spannung, in der sie dadurch erhalten wurde, wirkte auf ihre Natur wie ein Berauschungsmittel. Falks aufgeregtes Gesicht, mit den finster zusammengezogenen Brauen, sah sie mit einem Gefühl schüchterner Verehrung, aber gleichzeitig auch mit leisem Herzklopfen bei der Erinnerung, daß dieser zürnende Gott sie in seinen Armen gehalten, geliebkost und zärtliche Worte ihr zugeflüstert hatte. Mehr und mehr lebte sie sich in diese Phantasien ein, und ihre früheren spiritualistischen Träume von einer besseren Welt wichen allmälich vor den glühenden, ungesunden Hirngespinnsten, mit denen sie sich ein sehr irdisches Liebesglück ausmalte.

Das machte sie krank; sie fühlte eine bleierne Schwere in allen Gliedern und litt unter Kopfschmerzen und Atemnot. Ein Gefühl folterte sie, als müßte sie ersticken, wenn sie sich nicht jemand anvertrauen könnte, und als Margit eines Tages durch ihre Erzählungen über Lewi, dessen Küsse sie berauscht hatten, ihre Phantasie auf das äußerste erregte, konnte sie nicht länger widerstehen, auch ihrerseits einige Andeutungen fallen zu lassen, daß sie ebenfalls eine Liebesgeschichte habe. Margit wurde neugierig und bestürmte sie mit Fragen, und Etty sagte mehr, als sie eigentlich wollte. Um aber den wahren Gegenstand ihrer Liebe vor der andern nicht zu verraten, sah sie sich genötigt, die Verhältnisse umzudichten.

Auf diese Weise wurden die beiden gleichalterigen Mädchen allmälich immer vertrauter, sie saßen stundenlang zusammen und unterhielten sich eifrigst mit den Lippen, ohne daß ein Ton dabei laut wurde, und hatten durch diese Art der Mitteilung, die Margit sehr rasch gelernt hatte, den großen Vorteil, die tiefsten Geheimnisse einander anvertrauen zu können, ohne fürchten zu müssen, sich vor einem Unbefugten zu verraten.

Beide Mädchen hatten, trotz ihrer verschiedenen Naturen und verschiedenen Voraussetzungen, die kritische Lebensperiode erreicht, in welcher das Erotische eine unbeschäftigte und eingeengte Phantasie völlig ausfüllen kann. Margit sprach von Erlebtem, Etty nur von Erträumtem, aber beide wurden von derselben Sehnsucht verzehrt und regten einander mit ihrem halben Vertrauen auf.

Allmälich nahm Ettys Geschichte immer größere Dimensionen an. Im Anfang war es nur jemand, den sie in der Stille liebte, dessen Gegenliebe sie aber nicht sicher war – wenigstens nicht ganz – auf Margits drängende Fragen aber, was sich nun eigentlich zwischen ihnen zugetragen habe, kamen allmälich schwache Andeutungen, daß er einmal – nein, zweimal sie umarmt habe, und daß er das in einer Weise gethan, daß – nein, mehr wollte sie nicht sagen.

Aber hatte er denn da nicht um sie gefreit?

Nein, es war ein Hindernis im Wege, ein großes, unüberwindliches Hindernis.

Welcher Art dieses Hindernis war, konnte sie nicht sagen, als aber Margit riet, es wäre vermutlich ein viel zu vornehmer Herr – wie Lewi – konnte sich Etty doch nicht in diese Annahme finden, sondern erklärte, so unbedeutende Hindernisse würde seine Liebe spielend überwinden; nein, es war etwas anderes, was mit seinem edlen und reinen Charakter –

»Ist er verheiratet?« riet Margit, die geradezu unheimlich rasch in ihrem Auffassungsvermögen war, wenn es sich um Liebesgeschichten handelte.

Etty wurde so rot, daß es sich gar nicht der Mühe lohnte, die Richtigkeit von Margits Annahme zu verneinen.

»Das ist ja das Tragische,« sagte sie. »Er ist verheiratet. Aber das Verhältnis zwischen ihm und seiner Frau ist ganz gestört – seit dem Tag –«

»– – als er Dich umarmte,« vollendete Margit, die keine solche Scheu vor klaren Worten wie Etty hatte.

Als Etty nach diesem Bekenntnis wieder allein mit sich selbst war, überfiel sie eine quälende Unruhe, sie lag die ganze Nacht wach und krümmte sich förmlich in ihrem Bett. Sie fragte sich, ob sie auch Margit nichts vorgelogen habe, träumte aber trotzdem weiter, daß alles wahr wäre, bis sie schließlich selbst glaubte, daß Falk eine stille Liebe für sie im Herzen habe, und daß dies der eigentliche Grund seines Mißverhältnisses zu Ulla sei.

Etty sollte nun wieder nach Hause reisen, aber der Gedanke, vom Gegenstand ihrer Liebe scheiden zu müssen, war ihr so schrecklich, daß sie Gott Tag und Nacht bat, er möchte etwas schicken, das ihre Abreise verhinderte. Aber alles schien vergebens, der Tag war bestimmt, Falk wollte mit ihr über die Fjälle reiten und sie an Bord des Dampfschiffs bringen, und diese zwei Tage allein mit ihm waren nun ihr einziger Trost. Die ganze Nacht lag sie wach und bat Gott, sie doch nicht reisen zu lassen, die Fahrt bis zum Dampfboot mit Falk wollte sie wohl machen, dort aber ein Telegramm von der Dame in Christiania, mit der sie zusammen fahren sollte, vorfinden, daß die Abreise verschoben werden und sie wieder mit zurückkehren müßte. Und als sie am Morgen aufstand und ihre letzten Sachen in die Reisetasche packte, that sie das mit einem so bestimmten Gefühl, es würde doch nichts aus ihrer Reise, daß sie nicht im mindesten überrascht war, als Ulla hereinkam und zu ihr sagte: »Du wirst nicht reisen, liebe Etty. Du wirst bei uns bleiben und wir werden versuchen, Dir das Leben so angenehm wie möglich zu machen.«

Sie sagte das mit erregtem Gesichtsausdruck, während sie Etty umarmte.

Etty entzog sich Ullas Umarmung und ließ die Arme sinken. Sie stand einige Augenblicke still, mit starren Augen, dann brach sie in Schluchzen aus: »O Gott, so hatte ich es nicht gemeint – o Gott, ich habe sie getötet!«

Sie warf sich auf das Sofa, und als Ulla sie streicheln wollte, schob sie sie von sich. »Laß mich – laß mich gehen!« rief sie.

Den ganzen Tag lag sie so da und weinte, jede Speise von sich weisend und nur leidenschaftlich bittend, sie allein zu lassen. Gegen Abend kam Falk zu ihr herein. Sie lag noch zusammengekauert, die Hände vor dem Gesicht, an die Sofalehne gedrückt, und bemerkte sein Kommen nicht. Er ging zu ihr, umschlang ihre Taille und zog sie in die Höhe, während er sie auf die Stirn küßte. Bei seiner Berührung stieß sie einen Schrei aus, die Thränen blieben ihr im Hals stecken, sie konnte nicht atmen, sie sah ihn nur an mit offenem Mund und flammendem Blick.

»Du mußt nicht so maßlos trauern,« sagte er innig. »Du sollst hier immer ein Heim haben, und Ulla und ich werden Dir Bruder und Schwester sein.«

Da legte sie ihren Kopf an seine Brust und weinte, aber nicht mehr aus Schmerz, sondern aus einer Art glücklicher Ekstase. Er hatte sich neben sie auf das Sofa gesetzt, und sie schmiegte sich immer fester in seine Umarmung. Er drückte sie warm und zärtlich an sein Herz, als ob sie ein kleines Kind wäre, nicht ahnend, daß sie seine Innigkeit mißverstehen könnte, die nur durch das wärmste Mitleid mit diesem armen, hilflosen Geschöpf hervorgerufen worden war.

Ulla kam jetzt auch wieder herein und sagte lächelnd, als sie die zärtliche Gruppe sah: »Ja, das konnte ich mir denken, wenn jemand im stande war, sie zu trösten, dann warst Du es.«

Bei dem alten Ton ihrer Stimme fuhr Falk mit dem Kopf in die Höhe und streckte die Hand nach ihr hin. Sie gab ihm ihre Hand, und er küßte sie, während seine andere auf Ettys Nacken ruhte, die mit dem Gesicht auf sein Knie gedrückt dalag.

Bei seiner Bewegung hob Etty den Kopf etwas und sah wie im Traume, daß er Ulla küßte. Wie von einer spitzigen Nadel gestochen, fuhr sie in die Höhe und stürzte aus dem Zimmer.

»Es ist merkwürdig, daß sie seit einiger Zeit einen förmlichen Widerwillen gegen mich bekommen hat,« sagte Ulla. »Ich glaube, Du mußt etwas vorsichtig ihr gegenüber sein, Rolf.«

»Warum, meinst Du –«

»Ich fürchte, sie verliebt sich in Dich.«

»Sie! Sich verlieben! Das arme Kind! An so etwas habe ich freilich nicht gedacht. Sie kommt mir immer wie ein zwölf- bis dreizehnjähriges Mädchen vor.«



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