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VIII.

Im Saal wurde jetzt ein Walzer gespielt. Es sollte ein Extra-Tanzabend wegen des schlechten Wetters stattfinden. Falk ging, um sich umzukleiden, und Ulla setzte sich in eine Ecke und sah zu.

»Ich kann die modernen Tänze nicht leiden,« sagte sie zu Falk, als er zurückkam und sie engagiren wollte. »Das Tanzen soll ja eine der schönen Künste sein, aber niemand denkt daran, daß diese Kunst gerade so gut wie die anderen ihre bestimmten Voraussetzungen hat, wenn es wirklich etwas werden soll. Wenn alle unsere Schönen und schön Gewachsenen sich geschmackvoll zu kleiden und ihren Körper zu beherrschen verständen, ja, dann könnte es etwas sein, aber alle diese mehr oder weniger verkrüppelten, modernen Menschen, diese unschön zugerichteten, eingeschnürten Puppen, die alle wie in Tüten umherhüpfen – nein, danke! Ich habe nicht die geringste Lust, ihre Zahl zu vermehren.«

Eglantine kam in dem Augenblick mit betrübter Miene zu Ulla. Sie war nicht aufgefordert worden und setzte sich nun neben ihre Cousine, die Hände in den Schoß gelegt, während sie mit sehnsüchtigen Blicken die Tanzenden verfolgte.

»Kannst Du tanzen?« fragte Ulla sie mit den Lippen.

»Ich habe noch nie getanzt, aber ich bin ganz sicher, es zu können,« antwortete sie mit ihrer eigentümlichen Stimme, die allen möglichen unartikulirten Lauten mehr als der menschlichen Sprache glich.

Ulla lächelte. Das sah ihr ähnlich. Ihre Phantasie war in dem einsamen Leben der Taubstummen so in die Höhe geschossen. Es gab nichts, was sie sich nicht zutraute, ausführen zu können; hätte man sie gefragt, ob sie Klavier spielen könnte, so würde sie auch da jedenfalls gesagt haben, sie wäre überzeugt, es zu können, wenn sie es nur versuchte, denn sie hörte in ihrem Innern beständig Melodien. Es gab nichts in den reichen Möglichkeiten des Lebens, das sie in ihren krankhaften Träumereien nicht schon erreicht hätte.

»Fordern Sie Eglantine auf,« sagte Ulla hinter ihrem Fächer zu Falk. »Sie machen ihr eine große Freude damit.«

Wie sie in die Höhe schnellte, als er sich vor ihr verbeugte! Er trug ihren Hut weg, und während er ging, um ihn auf eine Bank zu legen, stand sie mit ausgestreckten Armen da, als ob sie im Begriff wäre, fort zu fliegen, die großen, sanften Augen strahlten und ein glückseliges, erwartungsvolles Lächeln spielte um ihren Mund. Mehrere vorübertanzende Paare lachten über sie, aber sie merkte es nicht; Ulla betrachtete sie mit freundlichen Blicken; diese erwartungsvolle Glückseligkeit in Ausdruck und Haltung der ganzen zarten Gestalt hatte etwas Rührendes.

Falk faßte sie um die Taille und trug sie fast während des Tanzens und sie verschwand in seinen Armen wie ein aus seinem Nest in den Birken heruntergefallenes kleines, lebendes Vögelchen zwischen den Händen eines großen Schulknaben, der es vorsichtig und behutsam vom Boden aufhebt.

Ihr altes, verschossenes Barègekleid umgab sie wie eine Wolke. Der ihr innewohnende Drang nach Schönheit war so stark, daß er sie trieb, immer Kleider zu wählen, die anders als die anderer Leute waren. Das, was sie um sich herum sah, war ihr nie hübsch genug. Ihre geringen Mittel genirten sie nicht; die ästhetische Wirkung der Stoffe hing nicht von ihrer Kostbarkeit ab, sondern beruhte vielmehr auf der Zusammenstellung, dem Schnitt und vor allem auf der Uebereinstimmung mit der Persönlichkeit.

Wie viel hatte sie nicht über dieses Barègekleid nachgedacht, ehe sie den wichtigen Entschluß faßte, es sich zu machen, wichtig deshalb, weil Jahre vergehen konnten, ehe sie wieder ein neues Kleid bekam, und wichtig auch deshalb, weil es galt, von dem billigsten Zeug die überraschend schönste und poetischste Wirkung hervor zu bringen.

Wie hatte sie sich nicht ausgemalt, daß die graugelbe Farbe dieses leichten Stoffes ihrer zarten Gestalt etwas Aetherisches geben müßte; wie sie wie ein Wölkchen aussehen würde, eines jenes leichten Gewölks, das mit den Winden dahin jagt und flüchtig vorübereilende Schatten auf die Erde wirft.

Und um die Illusion einer Wolke noch zu erhöhen, bekam das Kleid natürlich nicht den Schnitt von gewöhnlichen Kleidern. Es durfte keine bestimmte Form, keine Garnirungen oder Drapirungen haben, nur weit, luftig und flatternd sein, mit bauschigen Unterröcken darunter.

Der dünne, magere, lange Oberkörper schoß aus dieser Rockmasse hervor, wie ein schwacher Stiel einer niederhängenden Glockenblume. Es ließ sich nicht leugnen, daß sie etwas komisch aussah, aber keiner, der die blutleeren Lippen und Wangen und die großen, ängstlich aufmerksamen Augen sah und ihr Schicksal kannte, hatte den Mut, über sie zu lachen.

Sie selbst war mit ihrem Aussehen sehr zufrieden und davon durchdrungen, daß sich alle die anderen in ihren Pariser Modekleidern neben ihr sehr unvorteilhaft ausnähmen. Ulla hatte ihr ein sehr hübsches fertiges Kleid aus Rom mitgebracht, aber sie hatte sich entschieden geweigert, es anzunehmen. Die Farbe stände ihr nicht und der Schnitt paßte nicht zum Charakter ihrer ganzen Erscheinung. Alle Ueberredungsversuche scheiterten an ihrem unüberwindlichen Eigensinn.

Sie tanzten mehreremale herum; und Eglantine sah im Geist, wie hübsch sie in ihrem Sommerwolkenkleid an der Seite des stattlichen Norwegers dahinschwebte, und war glückselig über dieses Bild. Natürlich konnte sie nicht tanzen, sondern machte nur kleine, trippelnde, ungleiche Schritte ohne Takt, aber er schwenkte sie trotzdem leicht herum und als er sie Ulla wieder zuführte, strahlte sie.

»Es ging so gut, es war gar keine Kunst,« sagte sie.

Der Dozent, der mit Nelly getanzt hatte, trat jetzt zu ihr.

»Bleibst Du hier?« fragte er.

Der glückselige Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht.

»Ach, es ist wahr, ich muß ja nach Hause zu Mama.«

»Nein, wenn Du bleiben willst, kann ich ja gehen,« sagte er und rieb sich die Hände, seine gewöhnliche Bewegung, wenn er verlegen oder unschlüssig war. Man merkte deutlich, daß er selbst gern geblieben wäre.

»Ich werde gehen und der Tante ein Weilchen Gesellschaft leisten,« sagte Ulla und stand auf, denn sie fühlte mitunter die Gewissensbisse, weil sie sich dieser so wenig widmete, und war nun über ihren schönen Entschluß froh. Aus der Ferne liebte sie die Schwester ihrer Mutter, aber ihre Gesellschaft ermüdete sie und griff sie an. Es wurde ihr nicht leicht, sich irgend einem Zwang zu unterwerfen, und sie hatte sich seit dem vor nun schon zehn Jahren erfolgten Tod ihrer Eltern infolge ihrer einsamen, unabhängigen Lebensstellung so sehr an volle Freiheit gewöhnt, fand es so selbstverständlich, nur mit solchen umzugehen, die ihr angenehm waren, daß es sie ziemlich viel Selbstüberwindung und einen förmlichen Entschluß kostete, diesen Sommer in der Heimat zuzubringen und sich ihren Verwandten zu widmen.

Sie saß zerstreut bei der Kranken und hörte ungeduldig zu, wie sie die Symptome ihres Nervenleidens beschrieb. Obgleich sie, vom besten Willen beseelt, die Tante selbst veranlaßt hatte, ihr von ihrer Krankheit zu erzählen, war es doch in einer Viertelstunde mit ihrer Geduld vorbei; und sie fing an, sich zu wundern, daß noch keines der Kinder nach Hause kam, um sie abzulösen.

Der Abend des stürmischen Tages war noch schön geworden. Ueber dem Meere im Westen hatte sich der Horizont völlig aufgehellt. Ulla machte das Fenster auf und sah hinaus.

»Aber, liebe Ulla,« rief Frau Rosenhane in klagendem Tone, »was denkst Du denn! Glaubst Du, ich könnte vertragen, nach Sonnenuntergang bei offenem Fenster zu sitzen? Weißt Du nicht, daß die Luft dann voller Dünste ist? Mehr bedarf es ja gar nicht, um mir einen Rückfall meines Fiebers zuzuziehen.«

Ulla machte mit einer ungeduldigen Bewegung das Fenster zu, drin war es so stickig. Sie machte eine Eau de Cologne-Flasche auf und goß sich etwas auf die Hände.

»Um alles in der Welt,« klagte die Kranke heftig. »Mach den Korken zu, schnell den Korken zu! Wo kommt die Flasche her? Ach, wie kann Etty so gedankenlos sein, sie hier herein zu bringen, da sie weiß – ach nein, Frau Krabbe war es gewiß, sie hat jedenfalls die Flasche heute hier stehen lassen. Nun begreife ich, warum ich den ganzen Tag solche Kopfschmerzen hatte. Es peinigte mich gleich, als Frau Krabbe hereingetreten war, daß sie so nach Parfüm roch. Bitte, geh in mein Schlafzimmer und wasch Dir die Hände, ich kann es nicht aushalten …«

»Aber, liebe Tante, das ist ja nur Einbildung; Eau de Cologne verflüchtigt sich ja augenblicklich, es bleibt keine Spur von Geruch.«

Aber Ulla erschrak über die Wirkung ihrer Worte. Die Kranke hatte sich in ihrem Stuhl aufgerichtet. Vor Aufregung zitternd und bebend, deutete sie mit der Hand nach der Thüre und rief: »Geh! geh! Ich ertrage nicht, daß man mir sagt, es wäre Einbildung – so krank wie ich bin!«

»Aber, liebe Tante,« sagte Ulla entschuldigend, »ich meine doch nur …«

»Geh, thu mir die Liebe und geh!« rief die Kranke und sank in ihre Kissen zurück.

Ulla war empört und aufgeregt. Sie wagte weder, die Tante in diesem Zustand allein zu lassen, noch gegen ihren Willen zu bleiben. Leise schlich sie hinaus und fing an, vor den Fenstern hin und her zu gehen, um in der Nähe zu sein, wenn die Kranke sie rufen sollte. Eine unendliche Traurigkeit überfiel sie nach der überströmenden Lebenslust von vorhin. Wie schrecklich konnte das Leben sein – wie verabscheuungswürdig! Sechs Jahre war ihre arme kleine Cousine nun schon an dieses Krankenbett gefesselt, deren Schicksal doch ohnehin schwer genug war. Und zu alledem noch die knappen Mittel! Ludwig arbeitete schon über seine Kräfte, das wußte sie, um Mutter und Schwester, die nur eine kleine Pension hatten, helfen zu können. Dadurch war er so ungeschickt und unbrauchbar für das praktische Leben geworden. Er hatte sich natürlich nie genügende Bewegung in frischer Luft machen können, daher seine schlaffe Körperhaltung. Wie viel hatte er nicht arbeiten müssen, um das Geld, was dieser Sommeraufenthalt kostete, zusammen zu bekommen – die erste Ferienzeit, die er sich seit fünf Jahren gönnte. Und was für Ferien bei der Pflege einer solchen Kranken!

Und sie hatte über ihn gelacht, sie, die nicht wußte, was es hieß, einen Einfall sich versagen, geschweige denn einen wirklichen Wunsch – sie, die nicht einmal im stande war, sich um anderer willen einer langweiligen halben Stunde auszusetzen.

Sie kam gerade am Fenster vorbei, als sie zu ihrem Schrecken ein Gesicht hinter den Scheiben sah, ein verbittertes, verzweifeltes Gesicht und eine Hand, die ihr winkte. Sie eilte hinein und sah, daß sich Frau Rosenhane in ihrem Stuhl an das Fenster gerollt hatte. Sie winkte Ulla zu sich heran, um sich nicht durch lautes Sprechen anstrengen zu müssen und flüsterte: »Sei doch so barmherzig, mich ganz zu verlassen. Du verfällst immer auf etwas, das mich quält. Ich weiß ja ganz gut, daß Du es nicht böse meinst, aber Du verstehst es eben nicht. Du hast mich halb toll gemacht mit Deinem fortwährenden Vorbeigehen am Fenster.«

Ulla ging hinaus und setzte sich nun auf eine Bank an der andern Seite des Hauses. Nein, das war nicht auszuhalten! Sie war noch nie mit der Tante allein gewesen; Eglantine und Ludwig hatten stets verstanden, solchen Scenen vorzubeugen. Bisher hatte sie keine Ahnung gehabt, wie eigentlich deren Leben war. Jetzt stand es mit doppelt peinigender Schärfe vor ihr im Gegensatz zu dem Jubel, zu dem hellen, verheißungsvollen Glücksgefühl, das sie noch eben durchströmt hatte. Was hatte sie für ein Recht, so glücklich zu sein? Aber konnte sie, selbst wenn sie wollte, ihr Glück einem andern abtreten? Konnte sie ihre Talente, ihre gewinnenden Eigenschaften, ihr Aussehen, ihre Gesundheit und ihre frischen Sinne diesem armen, kleinen, spärlichen Pflänzchen geben, das nicht wußte, was ein gesundes Jugendleben bedeutet? Oekonomisch zu helfen war das einzige, was in ihrer Macht stand; und das that sie. Nicht viel, denn reich war sie nicht und ihr eigenes Leben kostete viel; sollte sie sich aber aller Lebensfreude berauben, um denen geben zu können, die doch nie kennen lernen konnten, was Lebensfreude war? Sollte sie nicht glücklich sein dürfen, jetzt, gerade jetzt, wo ihr das Leben verlockender denn je erschien. Jetzt zur Sommerszeit, wo alles so herrlich und sinnberauschend war!

Sie blickte hinaus über die weite Wasserfläche, die nach dem stürmischen Tage noch in wogender Bewegung schäumte. Die Sonne war untergegangen und der helle Abendhimmel leuchtete in unendlichen Farbentönen. Der frische Seewind strich über ihr Gesicht. Und sie dachte an das dumpfe Zimmer da drinnen, an die unbegreifliche Angst der Kranken vor einem frischen Luftzug – und ihr Herz verlangte mit stürmischer Heftigkeit nach Glück, nach all der Herrlichkeit, mit der das Leben lockt, obgleich andere leiden müssen und immer werden leiden müssen – trotzdem, trotzdem!

Falk begleitete Eglantine nach dem Tanzen nach Hause, nicht nur ihrer selbst willen, wie sie in ihrer Naivität glaubte, sondern in der Hoffnung, Ulla den Abend noch einmal zu treffen. Ulla sah sie schon von weitem kommen und ging ihnen entgegen.

Eglantine sah so strahlend und glücklich aus, als sie an der Seite des großen Norwegers mit kleinen, unregelmäßigen Schritten einhertrippelte, daß Ulla Thränen in die Augen traten, während sie sie liebevoll auf die Stirne küßte und fragte, ob es ihr gefallen hätte.

»Unsagbar!« antworteten die eigentümlichen, klagenden Vogellaute. Alles zeigte sich ihr immer in so großen und maßlosen Dimensionen, daß sie die Worte dafür nicht stark genug finden konnte. Aber wie ihre Lippen, so sprachen auch ihre Augen, ihre ganze Erscheinung »unsagbar!« – und Ulla sah mit Wehmut von ihr auf Falk. Arme kleine Etty, wohin hatte ihre Phantasie sie jetzt gelockt!

An der Thüre verabschiedeten sie sich von ihr und gingen eine Weile schweigend neben einander her, jedes auf seine Weise von dem strahlenden Ausdruck ergriffen, der diesen Abend das ganze Wesen der Taubstummen verklärte.

»Man hat wahrhaftig ihren ganzen Optimismus nötig,« sagte Ulla endlich, »um nicht der Verzweiflung anheim zu fallen, wenn man an das Los meiner armen Cousine denkt.«

Sie erzählte ihm von dem Zustand der Tante und wie ihr Vetter und ihre Cousine sich beständig aufopfern müßten.

»Aber glauben Sie denn eigentlich, daß es so schwer wäre, für andere zu leben?« sagte er nach einer Weile.

Sie sah mit einer gewissen Verwunderung zu ihm auf.

»Glauben Sie wirklich, daß es das nicht ist?« fragte sie. »Vielleicht wird es Ihnen, als Christ, leichter.«

»Aber auch vom rein menschlichen Standpunkt aus,« erwiderte er. »Es nützt natürlich gar nichts, wenn ich Ihnen das sage, denn man glaubt natürlich nie den Erfahrungen Anderer, es macht aber wirklich glücklich, rein menschlich glücklich, für die, welche man liebt, sich etwas zu versagen. Das würden Sie selbst finden, wenn Sie nur jemand hätten, den Sie wirklich liebten.«

Ein warmer Blutstrom drängte sich bei diesen Worten nach ihrem Herzen. Ja, wenn sie jemand wirklich lieben könnte – wenn sie es könnte, wenn sie es nur könnte!



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