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IX.

Sie kamen an der Landungsbrücke vorüber. Die Boote schaukelten leise bei der frischen, nächtlichen Brise. In den zusammengebundenen Segeln zuckte es wie in den Flügeln eines gefesselten Vogels, der sich losmachen und fortfliegen will. Luft und Wasser leuchteten nach dem Unwetter in verklärter Schönheit wie ein Mensch, der durch Thränen zum Frieden gelangt ist.

»Welch herrlicher Abend!« rief Falk. »Jetzt sollten wir segeln.«

»Ja, das wäre entzückend,« stimmte Ulla ein, aber wie sich besinnend, sah sie sich unwillkürlich um, als fürchtete sie, gesehen zu werden. »Ich weiß doch nicht,« fügte sie hinzu. »Es ist schon spät – bald Mitternacht.«

»Was thut das? Sie sind doch nicht müde, und auch nicht so konventionell, daß Sie denken, wenn es zwölf Uhr des Nachts, statt zwölf Uhr am Tage ist …«

»Nein, konventionell bin ich nicht,« sagte sie, »aber …«

»Aber … aber … aber?« fragte er ungeduldig.

»Aber ich könnte dasselbe sagen, was Sie mir heute nachmittag erwiderten, Sie hätten nicht Lust, mir zu dienen, wenn ich mehrere darum bäte; wenn ich daran denke, finde ich es etwas lächerlich, vor einer Woche ein nächtliches Zusammentreffen mit Anna, nun mit mir, – bitte, bedenken Sie doch – wenn ich nun morgen auch Gift nähme?«

»Ach, wie froh bin ich, daß Sie davon anfangen,« rief er. »Ihr Schweigen über diesen Punkt hat mich so gedrückt, weil ich nicht wußte, was Sie von der Geschichte dächten. Hören Sie, bitte, sagen Sie mir nur das eine – Sie lügen natürlich niemals?«

»Ei, gewiß lüge ich!« rief Ulla munter. »Natürlich lüge ich, das können Sie sich doch selbst sagen. Sollte ich am hellen Licht des Tages vor Sie hintreten und Ihnen zugestehen, daß ich alles gesehen hätte – das genirte mich, wie Sie doch verstehen müssen. Oder hätte ich vielleicht nicht nachsehen sollen, was da Geheimnisvolles vor sich ging, nachdem ich gehört hatte, wie Sand an das Fenster geworfen worden war. Und als ich dann Anna da unten so theatralisch stehen sah, mit ihrem alten Spitzenshawl drapirt – es sieht ihr so ähnlich, zu einer nächtlichen Zusammenkunft einen Spitzenshawl umzuthun, sie macht immer alles nach, was sie im Theater sieht; sie ist ja wieder gesund, da thut es wohl nichts, wenn ich ein bißchen über sie lache – finden Sie wirklich, daß ich, nachdem ich das alles gesehen hatte, mich hätte bescheiden zurückziehen und hinlegen sollen?«

»Sie sahen also alles? Und Sie verdammen mich nicht?«

»Ich kenne Anna, ich sah die kleine Ohnmachtsscene, sah Ihr verlegenes Gesicht und wußte nicht, ob ich über Sie lachen oder über Anna mich ärgern sollte, denn wahrhaftig, im Namen meines Geschlechts … indessen, sind Sie nun von der Courmacherei kurirt, wenigstens für diesen Sommer?«

»Von der Courmacherei, ja …«

»Nun gut, da wüßte ich nicht, was mich daran hindern sollte, mit einem ernsten Volkshochschullehrer auszusegeln,« sagte sie in lustigem Tone.

Trotzdem beunruhigte sie der Gedanke etwas, es könnte sie jemand auf der Brücke stehen und warten sehen, während er das Boot zurecht machte. Die Geschichte mit Anna hatte seinem Verhältnis Damen gegenüber einen unbehaglichen Anstrich gegeben, und die Mißdeutungen, zu denen ihre Vorurteilsfreiheit Veranlassung geben könnte, hatten etwas Verletzendes für ihre weibliche Würde, auf welche sie streng hielt, trotz aller Freiheit in ihrer Handlungsweise.

»Bitte, alles klar!« rief Falk von unten im Boot und reichte ihr die Hand, um ihr beim Herabspringen von der Brücke behilflich zu sein. Das Segel flatterte heftig, Falk griff nach dem Steuer und bat sie, die Fockschote zu halten und auf ein Zeichen von ihm die Focke loszulassen. Sie war etwas zerstreut und benahm sich ungeschickt. Die Focke ging nicht los, sie hatte sich in der Schote verwickelt. Er mußte Ulla an das Steuer sitzen lassen, während er die Focke klar machte, und sie lachten beide über ihr Talent, in wenigen Minuten alles in Verwirrung zu bringen. Dieses Lachen befreite sie von dem Gefühl eines leichten Zwangs, der sich ihrer bemächtigt hatte. Sie beschloß, allen Konventionalismus am Land zurück zu lassen; er war unbedingt eine zu naive Natur, als daß es sich verlohnt hätte, ihm damit imponiren zu wollen. Nein, viel besser war es, sich der natürlichen Stimmung hinzugeben, der fröhlichen, ausgelassenen und doch gleichzeitig warmen Stimmung, welche sich in dieser schönen, nordischen Sommernacht ihrer bemächtigte und alle Erinnerungen und Träume ihrer Kindheit aufweckte, die sie während ihres langen Aufenthaltes im Süden vergessen hatte.

Wieder tanzten in dem weichen Nebel über den Sümpfen die Elfen ihren Reigen, spielte der Nock in der Tiefe auf seiner Harfe.

Armer Alter, deine Lieder
Heilen nicht die Schmerzen wieder.

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

Sternenbaldachine ruhen
Ueber Wald und Berg und Thal,

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

Tief im Meer auf Demantsäulen
Weilt der Nock im grünen Saal.

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

Erd' und Höh' im lichten Schein,
Himmel, Strand und Wogen zeigen
Der Geliebten Bild allein.

»Meines Mädchens« heißt es eigentlich, sie erinnerte sich genau. Aber sie sagte unwillkürlich »Geliebte«.

Nein, wie alle diese Verse in ihrem Gehirn förmlich tanzten! Nein, welcher wunderbare Zauber über einer solchen nordischen Nacht lag!

Wie merkwürdig nüchtern wird man dagegen im Süden! Dort bestand die Natur nicht aus lauter lebenden Wesen, dort wohnten keine Zwerge, dort tanzten keine Elfen, dort sangen Wogen und Wasserfall keine Lieder und Berge und Wälder erzählten keine Märchen.

Erschrocken fliehen die Schatten bis an des Berges Fuß,
Und alle Zwerge flüchten nach dem Norden.
Dort beten alle Thäler, dort beichtet jeder Berg,
Und schwere Seufzer tönen aus dem Walde.

Nein, welche Stimmung! Wie herrlich war es doch, daheim zu sein!

Sie saß keine Minute ruhig im Boot, bald war sie auf der einen, bald auf der andern Seite, bald stand sie aufrecht und hielt sich am Mast fest, bald lag sie wieder zusammengekrümmt auf dem Boden des Bootes.

Wie schön war der Fjord mit dem öden, einsamen, bewaldeten Strand rings umher!

Wie merkwürdig hell der Himmel und doch ohne Farbe!

Wie frisch, keck, trotzig, ungeberdig das Wasser mit seinen kleinen, kurzen, spitzigen Wogen und seinem perlenden Schaum! Und wie weich und feucht und schmeichelnd die Luft. Wie der Wind liebkosend über die Wellen strich, wie mit liebenden Händen sie streichelnd, und wie er mit dem Haar spielte und dann und wann frisches, salziges Wasser neckend an den Nacken spritzte. – Es hatte etwas Anreizendes und Verlockendes; das Wasser zog sie wie mit magischer Gewalt zu sich, sie sehnte sich darnach, die feuchte Kühle zu berühren, aber es genügte ihr nicht, nur die Hände hinein zu tauchen, da warf sie plötzlich ihren Hut ab und bog den Kopf rückwärts in das Wasser, so daß das Haar aufging und auf den Wellen schwamm.

Wie behaglich das war! Wie plätscherte das frische Salzwasser in ihrem Nacken! Hu, jetzt kam ein Schwall – nein, das war zu viel, es rann ihr den Rücken hinab, wie eine kleine Quelle rieselt, die sich Bahn brechen will.

Sie erhob sich mit einem Ruck und war blaß geworden.

»Aber, Fräulein, Sie können ja hineinfallen,« hatte Falk gerufen, aber sie hatte es nicht gehört.

»Nein, ich bin ja albern,« sagte sie.

Sie sah halb schüchtern zu ihm hin, während sie ihr Haar ausschüttelte und wieder aufsteckte. Sie fürchtete sich beinahe. Was waren das für Mächte, die plötzlich Gewalt über sie bekommen hatten!

Falk schien auch aufgeregt zu sein.

»Das ist eine wunderbare Nacht,« sagte er. »Man kommt auf wilde Gedanken. Es ist, als müßte man weiter und immer weiter segeln, nicht wahr? Als müßte es ein Land geben, wo freiere, schönere und gesündere Verhältnisse herrschen, als in dem alten, bekannten.«

»Ja, wie heißt es in der Romanze von dem Land,« fiel Ulla ein, »›gesucht, geahnt und nie gekannt‹.«

Sie saß jetzt ganz nahe bei ihm im Achter des Bootes. Er ergriff ihre Hand und sie ließ sie ihm. So saßen sie lange still, fast unbewußt in dieser vertraulichen Stellung; hingezogen zu einander durch ihre gemeinsame Stimmung, die diese Annäherung gewissermaßen natürlich und selbstverständlich machte. Keines sprach. Beide versanken in eine Art träumerischer Ekstase und wußten nicht, wie lange sie so gesessen hatten, als sie durch einen plötzlichen Windstoß aufgeschreckt wurden, der das Boot fast umgeworfen hätte. Es war unruhig in den Schären geworden und der Steuermann hatte nicht genügend acht gehabt.

Ulla war zu Mute, als ob sie erwachte; sie strich ihr Haar aus der Stirn, drückte das noch im Nacken feuchte aus und setzte den Hut auf, wobei sie mit der Hand ihr Gesicht berührte; da merkte sie, daß diese brennend heiß war, weil er sie so lange festgehalten hatte, und daß sie das Handgelenk kaum bewegen konnte durch das lange Ruhen in ein und derselben Stellung.

Diese Bemerkung brachte ihr die Wirklichkeit erst zum vollen Bewußtsein. Sie fühlte das Blut in die Wangen steigen, mehr und mehr, je klarer ihr alles wurde, bis eine glühende Röte sie bedeckte und sie verlegen machte.

Und in demselben Augenblick war auch ihre Stimmung verflogen. Sie saßen wieder fremd einander gegenüber. Er war ein junger Mann, sie eine junge Dame, sie mußte demnach eigentlich eine Art abwehrender Stellung ihm gegenüber einnehmen. Was sollte er sonst wohl von ihrer noch eben bewiesenen Vertraulichkeit denken?

Dieser Gedanke hatte plötzlich etwas Unschönes in ihr Verhältnis hineingebracht. Sie weilten nicht mehr im Lande der Sagen und Lieder, wo die Liebe etwas so Natürliches ist wie der Gesang der Wogen und das Rauschen der Wälder. Sie lebten wieder in einer konventionellen, prosaischen, kalten Welt, in der nicht die Liebe herrschte, nein, wo man verführte oder verführt wurde, das nannte man fallen, – oder wo man freite oder sich freien ließ und man einen eigenen Herd gründete – das nannte man achtbar.

Das Wasser hatte keine Melodien, die Luft keine Liebkosungen mehr. Grau und kahl lagen die Klippen da, spärlich der Wald, den der Wind peitschte; die Nachtluft war kühl, es wehte stark und schwere Regentropfen fielen nieder. Es war Zeit nach Hause zu fahren, Zeit zu schlafen.

Sie wendeten um und waren bei dem günstigen Wind bald zurück. Auf der Rückfahrt wechselten sie nur wenige Worte über Wetter und Zeit und schieden auf der Brücke mit einem fremden Händedruck.

Er erbot sich, sie nach Hause zu begleiten, aber dann hätte sie warten müssen, bis er das Boot angelegt und das Segel befestigt hätte, und das wollte sie nicht; darum eilte sie von der Brücke weg. Ein Stückchen weiter oben auf dem Weg sah sie zwei dunkle Gestalten auf sich zukommen. Sie erschrak, sah aber bald, daß es ein junger Fischer war, der mit seinem Mädchen ging, den Arm um ihren Nacken gelegt. Sie erkannte das Mädchen; es war die Tochter des Lotsen, des Hauswirts von Frau Rosenhane. Diese erschrak und kam auf Ulla zu in der offenbaren Absicht, sie zu bitten, doch ihren Eltern nichts zu erzählen, aber Ulla kam ihr zuvor.

»Geht nur,« sagte sie. »Schwärmt und seid glücklich! Das ist kein Unrecht.«

Sie gingen fröhlich weiter und Ulla sah, als sie sich noch einmal nach ihnen umwendete, wie sich die Hand des Mädchens wieder in die seine schmiegte und sein Arm um ihre Schulter glitt.

»Die sind glücklich,« dachte sie. »Die haben noch ihre Unmittelbarkeit. Die lieben sich ohne Verlobung und Heirat. Wir verderben uns alles mit der Reflexion und mit der Konvenienz und sind nicht mehr im stande, auch nur eine einzige Freude im Leben einfach und ganz zu genießen.



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