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X.

Den andern Tag ging Ulla früh zu Frau Rosenhane, um zu hören, wie es ihr nach dem gestrigen Auftritt ging. Zu ihrer Verwunderung sah sie Falk vor dem Hause den Rollstuhl hin und her fahren und Etty freudestrahlend nebenher gehen.

»Nein, jetzt brennt die Sonne doch zu sehr; es ist besser, wenn ich nun hinein gehe,« ertönte eine klagende Stimme vom Rollstuhl.

»Dann fahren wir in den Schatten,« antwortete Falk munter. »Sie dürfen noch nicht hinein, beste Frau, die Luft thut Ihnen gut.«

»Aber im Schatten ist es zu kalt,« fiel die Kranke ängstlich ein, Ulla nur flüchtig begrüßend, weil sie völlig davon in Anspruch genommen war, die Einwirkung der Luft auf ihr Befinden zu beobachten. Sie war wochenlang nicht heraus gekommen und hatte sich nur durch Falk zu diesem Wagnis verleiten lassen.

»Dann nehmen wir etwas mehr um,« sagte er mit unermüdlicher Geduld und hing ihr noch einen Shawl um.

»Ach nein, das wird mir zu schwer.« Ihr Ton war ebenso ängstlich wie gewöhnlich, aber sie hatte doch einen milden Ausdruck im Gesicht, den Ulla noch nicht bei ihr gesehen hatte.

»Nein, daß Sie sich zum Krankenwärter hergeben würden, wäre doch das letzte, was ich Ihnen zugetraut hätte,« sagte Ulla lächelnd.

»Warum? Das paßt für mich, der ich stark bin, doch viel besser als zum Beispiel für Ihre zarte, schmächtige Cousine. Es war ja nicht möglich, Frau Rosenhane an die Luft zu bringen, weil der Rollstuhl und sie selbst mit über die Schwelle gehoben werden mußten.«

»Aber das hat doch der Fischer, der unten wohnt, gethan.«

»Ja, wie ich höre, verträgt Frau Rosenhane den Geruch nicht,« sagte Falk. »Sie hat es nicht sagen wollen, daß das der Grund war, weshalb sie so lange nicht heraus gewollt hat.«

»Wie haben Sie dann das erfahren?«

»Ja, Ihre Tante hat gewiß auch gefunden, daß ich schrecklich zudringlich war,« sagte er lächelnd, während er jedem Stein auf dem Wege vorsichtig auswich. »Aber ich fragte und fragte, denn ich merkte gleich, daß es einen besondern Grund haben mußte, und auf diese Weise bekam ich es heraus.«

»Ja, denke nur, Ulla, wie gut Herr Falk ist! Er hat versprochen, jeden Tag heraus zu kommen und mich mitsamt dem Stuhl heraus zu tragen. – Aber schieben Sie nicht so stark, um alles in der Welt, ich bekomme sonst die schrecklichste Gehirnerschütterung.«

»Dann schieben wir etwas langsamer,« sagte er gutmütig.

»Du hättest Herrn Falk sehen sollen, wie er Mama heraus trug! Etwas Rührenderes kann man sich nicht denken,« wandte sich Etty, die an der andern Seite des Stuhles ging, zu Ulla.

»Ja, Herr Falk hat eine praktische Art, die Religion der Liebe zu predigen,« sagte Ulla und bog sich zur Kranken nieder, während sie mit der Hand über ihre Kissen strich. »Er bringt einen dahin, daß man sich vor sich selbst schämen muß.«

»Ach, Schnack, Fräulein, den Stuhl können Sie doch nicht heraustragen, wenn Sie auch noch so stark wären.«

»Aber, liebe Ulla, warum bringst Du nun die Kissen in Unordnung, nachdem sie Herr Falk so schön gelegt hatte.«

Ulla zog ihre Hand zurück und ließ die Arme mit komisch verzweifelter Geberde niedersinken.

»Da sehen Sie, wozu ich tauge,« rief sie und ihre Augen füllten sich mit Thränen, während sie zu lächeln versuchte.

»Aber jetzt möchte ich doch wieder hinein,« sagte Frau Rosenhane.

»Ja, vielleicht ist es für heute genug. Das nächstemal bleiben Sie dann etwas länger draußen,« entgegnete Falk, nahm sie in die Arme und trug sie hinein. Er machte es so leicht und heiter und doch dabei so vorsichtig, daß die Kranke zu keiner Klage Ursache hatte, sondern ihm im Gegenteil zulächelte. In wenigen Augenblicken war alles wieder in Ordnung, der Stuhl auf seinem alten Platz im Zimmer, zu liegender Stellung herunter geschraubt und die Gardine vor das Fenster gezogen. Die Kranke sollte nun eine Weile ruhen.

Etty setzte sich zu ihr, um Wache zu halten, und Falk und Ulla gingen zusammen weg.

»Ist Ihre Mutter kränklich?« fragte Ulla, nachdem sie ein Stück gegangen waren.

»Nein, im Gegenteil, sie ist ungewöhnlich rüstig. Wie kommen Sie darauf?«

»Woher haben Sie denn dieses Geschick, Kranke zu behandeln? Sie sind ja wie die erfahrenste Krankenwärterin.«

»Ach, weit entfernt. Ich bin nur ziemlich praktisch beanlagt, das ist alles. Da ist es so natürlich, eine Handreichung zu thun, wo man kann. Und die arme, kleine Etty dauerte mich so – ich konnte gar nicht wieder vergessen, was Sie mir gestern von ihr erzählt hatten.«

»Das ist wirklich charakteristisch,« sagte Ulla. » Sie konnten es nicht vergessen, deshalb gingen Sie hin und versuchten zu helfen – mir wurde es auch schwer, es zu vergessen, deshalb hielt ich mich so viel als möglich zurück.«

Sie sahen Nelly aus einer kleinen Fischerhütte in der Nähe kommen und dem Hügel zusteuern. Als diese sie bemerkte, änderte sie ihren Kurs und eilte lebhaft auf sie zu.

»Wie geht es?« zwitscherte sie mit ihrer allereingeschüchtertsten Miene. »Haben Sie eine angenehme Segeltour diese Nacht gehabt? Oder ist es vielleicht gar nicht wahr?«

»Ja, gewiß ist es wahr, und wir sind noch gar nicht wieder zurück,« sagte Ulla lachend. »Wir sind bis an die norwegische Küste gesegelt, wir kommen gar nicht wieder, heißt es.«

»Ich konnte es auch kaum glauben, daß es wahr wäre,« sagte Nelly. »Ich habe Sie noch eben verteidigt, ich sagte, daß das unmöglich wäre.«

»Verteidigt – war es denn ein Verbrechen?«

»Ja, ich bin besonders schwierig in diesem Punkt,« sagte Nelly. »Ich finde, daß wir Frauen, die wir etwas andere Wege als die anderen gehen – besonders seitdem ich ernsthaft studire – doppelt vorsichtig sein müssen, auch nur den Hauch eines Schattens auf uns fallen zu lassen; man schadet der Sache, wenn man in seinem persönlichen Auftreten die Konvenienz – oder die Vorurteile, wie man es nun nennen will – vor den Kopf stößt. Dann sagen die Leute: So werden die Frauen, wenn man ihnen mehr Freiheit gewährt.«

»Aber was in aller Welt wollen Sie dann eigentlich, wenn Sie keine größere persönliche Freiheit verlangen,« sagte Ulla. »Das Besitzrecht der verheirateten Frau, das Stimmrecht und was dergleichen mehr ist? Das ist ja alles ganz gut und schön, aber was thue ich damit, wenn ich meine Person nach wie vor in eine Zwangsjacke stecken soll? Nein, was ich vor allem gewinnen will, das ist individuelle Freiheit, das Recht, mich zu kleiden, zu bewegen, zu sprechen und zu handeln wie ich es für gut finde. Und die Schranken, die ich vor allem niederreißen will, das sind die, welche einen natürlichen, freien Verkehr zwischen Männern und Frauen verhindern, alle die Polizeiverordnungen, die uns verbieten wollen, gute Freunde und Kameraden zu sein und als solche zusammen zu verkehren. Wir würden viel mehr gewinnen, wenn uns dieser freie, vertraulich kameradschaftliche Umgang mit den Männern gestattet würde, als durch alle Gesetze vom Eigentumsrecht, Stimmrecht und all dergleichen. Und ich stelle mich nicht hin und warte, bis ein Gesetz erscheint, das uns mit den Männern gleichstellt, sondern ich schaffe mir diese Gleichstellung ganz einfach selbst. Das scheint mir sowohl bequemer wie praktischer zu sein. Ich will Ihnen einen Rat geben, Fräulein Nerman,« fuhr sie scherzend fort, »suchen Sie sich in Upsala einen Studienkameraden. Sie werden sehen, daß es für Sie beide angenehmer und nützlicher sein wird.«

»Einen männlichen Studienkameraden!« rief Nelly.

»Ja gewiß, Sie mieten sich zwei Zimmer in einem Hause, gehen zusammen in die Vorlesungen und essen zusammen auswärts. Sie denken, ich scherzte nur. Aber ich habe es selbst einmal so gemacht. Ich wohnte ein halbes Jahr mit einem jungen Maler zusammen. Nur schon, damit die Leute sehen, daß man so etwas thun kann, ohne daß die Welt aus den Angeln geht; das hilft uns besser auf den Weg zur Freiheit als alle Reden und Predigten.«

»Haben Sie wirklich mit einem jungen Maler allein zusammen gewohnt?« fragte Nelly erschrocken.

»Ja gewiß, er war arm; deshalb ließ ich ihn mein Atelier mit benützen und trat ihm auch eins meiner Zimmer ab.«

»Aber – wie konnten Sie dann – wie wurden Sie darauf in den Familien empfangen, mit denen Sie verkehrten?«

»Ich ging nur mit solchen Familien um, die ein zu unbedingtes Vertrauen in mich setzten, als daß sie sich herausgenommen hätten, sich zum Richter über meine Handlungen aufzuwerfen.«

»Aber glaubte man nicht, mißtraute man nicht dem Verhältnis, in welchem Sie zu einander standen?«

»Das ist schon möglich, besonders von solchen, die uns nicht zusammen sahen und nur von unserem Leben erzählen hörten. Aber sie dachten wohl, daß das meine Privatsache wäre. Niemand sah sich für berufen an, über meine Moral zu wachen, sehen Sie. Sie kannten mich gut genug, um zu wissen, daß, in welchem Verhältnis ich auch lebte, es keins war, in dem ich mich selbst erniedrigt hätte.«

Nelly war so erschrocken und geschlagen durch die unerhörte Kühnheit dieser Anschauungsweise, daß sie ihr gewöhnliches Redevermögen verlor. Unwillen, Bewunderung und Neid stritten in ihrem Herzen um die Herrschaft. Ja, beneidenswert war es unbedingt, so etwas zu wagen.

Ihre Gedanken flogen zum Dozenten. Könnte man mit ihm zusammen studiren, in einem Hause mit ihm wohnen? Nicht als seine Geliebte, nein, pfui! Sie war eine reine, keusche Natur; die Liebe hatte nichts Verlockendes für sie; sie war nicht erotisch beanlagt, aber als seine Freundin. Alle ihre Studien mit ihm besprechen, mit ihm zusammen zum Essen in ein Lokal gehen, Versammlungen und Nationalfeste mit ihm gemeinsam besuchen, anstatt wie jetzt bei einer alten Schulmamsell einaccordirt zu sein, allein in alle Versammlungen gehen zu müssen, wo kaum jemand ein Wort mit ihr sprach und gezwungen, nach Hause zu gehen, wenn das Essen anfing und es amüsant wurde.

Und sie hatte es immer wie eine förmliche Gewissenssache betrachtet und war ganz besonders streng darin gewesen, weiblicher als die Weiblichste zu sein, sich genau an die Mode zu halten und alles zu vermeiden, was auffallen konnte. Sie war so überzeugt gewesen, daß dies das einzig Richtige war und nun kam diese Malerin, die eigentlich keine Kenntnisse und kein geschultes Denken aufzuweisen hatte, die niemals Kollegien über Ethik bei Boström gehört oder sich in irgend ein anderes Studium vertieft hatte, und warf ihre Theorien über den Haufen und raubte ihr ihre eigene Sicherheit. Und sie mußte sich selbst eingestehen, daß Ulla trotz ihrer Rücksichtslosigkeit mehr Anziehungskraft für die Männer zu haben schien als viele andere, die bedeutend zurückhaltender und weiblich korrekter in ihrem Wesen waren.

»Aber erlauben Sie, Fräulein Rosenhane,« sagte sie unschlüssig, »wären Sie wirklich im stande, zum Beispiel hier in Utschär, wenn der italienische Maler hier wäre, so mit ihm zusammen zu leben?«

»Hier in Utschär,« sagte Ulla lächelnd, »ja, da muß ich allerdings zugeben, daß hier – vielleicht habe ich doch etwas übertrieben, wenn ich sagte, daß ich völlig unabhängig von meiner Umgebung wäre.«

»Ja, sehen Sie,« fiel Nelly, durch diese Zustimmung ermutigt, ein. »Es ist nicht so leicht, vollkommen selbständig zu sein.«

»In der Theorie ist es ganz leicht,« sagte Ulla lachend. »Wenn es aber die praktische Anwendung gilt, ja, da ist man allerdings nicht konsequent, oder wie, Fräulein Nerman? Ich gebe zu, daß ich vor Utschär ganz gehörigen Respekt habe, deshalb bin ich aber auch so stolz auf meine That diese Nacht, daß ich mich versucht fühle, mich etwas groß damit zu thun.«



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