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XXI.

Ulla hatte mehrere Stunden fest geschlafen, diesen wohlthuenden, genußreichen Schlaf, der einer starken und ungewohnten Körperbewegung in freier Luft zu folgen pflegt. Plötzlich erwachte sie mit einem leichten Frösteln und sah sich in der fremden Umgebung um.

Das erste, worauf ihr Blick fiel, war das Schaffell, was sie am Abend vorher etwas ängstlich beiseite geschoben hatte, aus Respekt vor etwaigen Bewohnern, jetzt aber herauf bis über die Schultern zog, als sie die morgenfrische Kühle der Fjällluft fühlte, die durch die offen gebliebene Thüre zu ihren Füßen hereindrang.

Ueber ihrem großen, breiten Bett war ein niedriges Fenster mit kleinen grünlichen Scheiben. Sie blickte hinaus und sah Falk über ein kleines Schöpffäßchen voll Wasser, das er sich auf eine Bank gesetzt hatte, gebückt stehen und sein Gesicht mit dem eisklaren Wasser bespülen.

Ulla lächelte über diese primitive Art von Toilettemachen, wie sie überhaupt Neigung fühlte, über alles zu lächeln an diesem wunderbaren, klaren, kalten Morgen mit der Fjällluft in der niedrigen Schlafkammer. Ihr liebevoller, verliebter Blick wurde unwiderstehlich von der männlichen Gestalt da draußen angezogen, die nun, aufrecht da stehend, die Hand schützend vor die Augen hielt und offenbar nach einem Wildbret ausspähte, was sein scharfes Auge entdeckt hatte.

Er wandte ihrem Fenster den Rücken zu, ohne daran zu denken, ob sie wach wäre, und das freute sie fast, gerade das – sie fühlte die Fülle ihrer Liebe dadurch um so überwältigender – eine Liebe, die nichts forderte, sondern Reichtum und Glück der ganzen Welt in sich trug. Sie fühlte, daß sie niemals große Ansprüche an ihn machen würde. Nicht er sollte sie glücklich machen – ihr Glück lag ganz allein in ihr selbst und niemand konnte es ihr rauben.

Das Glück zu lieben! Endlich so ganz und voll zu lieben, daß keine Rückkehr mehr möglich, daß jeder Zweifel ausgeschlossen war.

Und dabei die völlige Unabhängigkeit von allem und allen! Aeußere Verhältnisse, Entsagung und Aufopferung alles dessen, was ihr bisher teuer war – an alles dieses dachte sie nicht mehr. Auch nicht mehr daran, ob er sie ebenso sehr liebte wie sie ihn, ob er im stande sein würde, ihr seinen Lebensberuf zu opfern, wie sie es jetzt für ihn thun wollte.

Und als sie die elastische, jugendliche männliche Gestalt so stehen sah, wie sie sich dunkel und kraftvoll abzeichnete gegen die helle, klare Luft in der tiefen Einsamkeit des Felsengebirges und fühlte, wie sie jede Linie dieser Gestalt liebte, da bildete sie sich ein, daß sie ihn lieben müßte, auch wenn er sich nicht das geringste aus ihr machte, ja sogar, wenn sie ihn jetzt auf dem wellenförmigen Boden fortgehen und verschwinden sähe, um nie wieder zu ihr zurück zu kehren, und daß sie glücklich sein würde in dem Bewußtsein, einen Menschen auf der Welt zu wissen, den sie so wie ihn lieben konnte.

Sie erschrak, als sie bemerkte, daß jemand im Zimmer war. Der Kaffeekessel hing an einem eisernen Haken über dem Feuer auf dem offenen Herd und Margit stand davor und paßte auf. Sie sah so schmuck und so sauber aus in ihrem einfachen, dicht anliegenden schwarzen Kleid aus selbst gewebtem Stoff, dem weißen Hemd, das oben am Halse heraus sah und den langen blonden Flechten, die ihr auf dem Rücken herab hingen. Ulla bemerkte die etwas komische Würde in ihrer Haltung, einen leicht gekräuselten Zug um ihren Mund und das Grübchen in ihrer einen Wange.

»Ich denke mir, er, Falk, wird ganz verhungert sein,« sagte Margit, als sie sah, daß Ulla munter war. »Er ist schon schrecklich lange auf. Soll ich ihn bitten, zum Kaffee herein zu kommen?«

»Warte noch, ich will erst aufstehen, wenn Du die Thüre zugemacht hast.«

»Ach, Du kannst ruhig liegen bleiben und Deinen Kaffee im Bett trinken,« sagte Margit. »Dann frierst Du nicht so, wenn Du aufstehst.«

Sie ging zur Thür hinaus und rief Falk: »Du, Falk, willst Du jetzt hereinkommen? Und Du auch, Gunnar?«

Ulla erschrak, als sie noch einen fremden Mann einladen hörte und gleich darauf einen jungen Bauer von etwa neunzehn, zwanzig Jahren vor Falk herein treten sah.

»Es ist nur ein Bekannter von unten,« sagte Margit. »Er ist auf kurze Zeit herauf gekommen und ebenso verhungert, siehst Du.«

Gunnar schien es nicht im mindesten aufzufallen, eine fremde Dame in dem Bett zu sehen, wo er sehr oft Fremde beherbergt fand und wo er selbst mit Margits Brüdern zu übernachten pflegte, wenn sie mit Nahrungsmitteln oder einer Bestellung von zu Hause zu ihr herauf kamen.

Ulla überwand ihre augenblickliche Verlegenheit rasch. Da sie ihren Morgenrock an behalten hatte, konnte sie sich sehen lassen, wie sie war, und entschied sich deshalb für das Aufstehen. Sie steckte ihr Haar in einen Knoten auf, aber ein Wirrwarr kleiner Löckchen stahl sich daraus hervor und fiel herab über Stirn, Ohren und Nacken.

Falk betrachtete sie aus der Entfernung, während sie die Füße in ihre kleinen roten Seidenpantöffelchen steckte und das Fell von sich warf. Noch niemals hatte er sie so schön gesehen als in diesem Augenblick: das Antlitz vom Schlaf leicht gerötet, Stirn und Augen von seelenvoller Klarheit strahlend und um die Lippen einen Zug inniger Weichheit.

Sie sprang munter herab auf die Diele und erklärte, sie wollte sich nur etwas Waschwasser in dem kleinen Schöpffäßchen holen, was sie eben Falk hätte gebrauchen sehen und dann gleich wieder herein kommen, um Kaffee mit zu trinken. Falk folgte ihr. In seinem Wesen war seit gestern eine auffallende Veränderung vor sich gegangen; es hatte jetzt etwas Siegesgewisses, jubelnd Fröhliches. Er umschlang sie mit seinen Armen, als sie hinaus auf die Treppe kamen, und küßte sie auf Haar, Stirne und Wangen, ohne sich um ihren Widerstand zu kümmern, und als sie ihm lachend befahl, sie in Frieden zu lassen, damit sie ihre Morgentoilette machen könnte, nahm er ihre Hände, tauchte sie in das eiskalte Quellwasser und rieb sie an einander mit knabenhafter Ausgelassenheit. Sie schrie auf, protestirte und erklärte, das Wasser wäre so kalt, daß sie sich an den Händen erkälten würde, und bat ihn, doch zu sehen, wie rot sie würden, da nahm er sie heraus und küßte sie wieder warm, obgleich sie versuchte, ihn auf den Mund zu schlagen, um los zu kommen.

»Ich bin nicht mehr der verschüchterte Jagdhund, den Du nach Belieben anlocktest und wieder von Dir fort jagtest,« sagte er. »Jetzt sollst Du mich nicht noch einmal von Dir stoßen, darauf kannst Du Dich verlassen.«

»Nein, ich sehe, daß Du bedeutend kühner geworden bist,« sagte sie lachend. »Aber bilde Dir nur nicht ein, daß Du jemals mit mir machen kannst, was Du willst.«

Ihr Blick jedoch widersprach diesen Worten; er hatte nicht mehr den ruhigen, beobachtenden, unpersönlichen Ausdruck, der eine so abkühlende Wirkung auf Falk auszuüben pflegte, und ihre Haltung war nicht mehr so vornehm unnahbar. Es lag etwas Zärtliches und Ergebenes in ihren Augen und etwas Schmeichelndes in ihren Bewegungen, was sie jünger und kindlicher als sonst erscheinen ließ – weniger Weltdame und mehr Weib.

Als sie wieder hinein kamen, war Gunnar schon beim Kaffeetrinken; deshalb wartete Falk, bis er fertig war, denn es gab nur zwei Tassen. Ulla und Margit tranken abwechselnd aus der andern, während Margit Ulla unverwandt mit neugierigen und doch vorsichtigen Blicken betrachtete, als wollte sie sich nicht merken lassen, wie sehr sie sich für sie interessirte.

»Die hier soll wohl Deine Frau werden?« sagte sie plötzlich zu Falk.

»Da ratest Du nicht so verkehrt, Margit,« sagte Falk lachend.

Margit trank ihren Kaffee aus und schenkte von neuem ein.

»Wann wollt ihr denn Hochzeit machen?« fragte sie weiter.

»Sobald alles mit Aufgebot und Sonstigem in Ordnung ist.«

»An Aufgebot und dergleichen habe ich nicht gedacht,« sagte Ulla. »Ich verabscheue alle solche Zeremonien.«

»Jetzt darfst Du nicht mehr unvernünftig sein,« fuhr er auf; aber sie unterbrach ihn.

»Ja, ich weiß ja, daß das sein muß,« rief sie aus. »Ich begreife natürlich, daß ich in Deiner Volkshochschule nicht mit Dir leben kann, ohne mit Dir gesetzlich getraut zu sein. Und obgleich ich in alle Ewigkeit dagegen protestiren werde, daß unsere Liebe irgend eine Sanktionirung von seiten des Staates oder der Kirche nötig hätte – denn es gibt keine so heilige Handlung, daß nicht das Gefühl, das uns vereinigt, noch heiliger wäre – so sehe ich doch vollkommen ein, daß wir nicht in einem geordneten Gemeinwesen leben können, ohne uns diesen Formen zu unterwerfen.«

»Für mich sind es nicht nur Formen,« erwiderte er. »Für mich liegt auch etwas Schönes und Heiliges in dem äußerlichen, gesetzlichen Band, das unsere Verbindung zu etwas mehr als zu einer bloßen Stimmung macht. Und obgleich ich weiß, daß kein Gelübde stärker binden kann als die Liebe selbst, sage ich gleichwohl: Für mich wird es ein großer und feierlicher Augenblick sein, wenn der Segen der Kirche über unseren Bund gesprochen wird.«

Sie lächelte über das, was sie seine Kindlichkeit nannte; aber es störte sie nicht in ihrer jetzigen Stimmung, zu sehen, wie verschieden sie über solche Dinge dachten. Er konnte doch nichts sagen oder thun, wodurch er ihr den inneren Reichtum hätte rauben können, den sie in ihrer Liebe zu ihm gefunden hatte, und es war ihr gleichgiltig und unwesentlich, in welcher Form ihr Bund vor der Welt geschlossen würde.

»Willst Du nicht jetzt gehen?« fragte er.

»Wohin?«

»Hinunter nach Jökelheim. Wenn wir jetzt gehen, können wir den Abend unten sein.«

»Aber in welcher Eigenschaft sollte ich jetzt mit Dir kommen?« entgegnete sie. »Als Deine Braut vielleicht? Kannst Du das wünschen? Nein, eine Verlobung ist unter allen Umständen etwas verabscheuungswürdig Dummes und für uns zwei nach einer so romantischen Flucht sollte da das Ende eine ganz gewöhnliche Verlobung sein – nein, das wäre doch zu lächerlich.«

»Was aber sollen wir dann machen?« fragte er. »Es dauert doch auf alle Fälle wenigstens einige Wochen, ehe wir uns heiraten können.«

»Dann bleibe ich so lange hier und gebe mich bei Margit in Pension. Das ist viel besser.«

»Und ich soll allein hinunter gehen und soll mich jetzt von Dir trennen?«

»Das thut nichts,« sagte sie rasch. »Du bist doch bei mir, auch wenn Du weit weg gehst. Sieh, mir geht es darin ganz eigentümlich. Mir ist, als ob die äußere Wirklichkeit nicht mehr für mich existirte. Ich empfinde den Unterschied kaum, ob Du bei mir bist oder nicht, ob ich Dich sehe, Dich mit meinen äußeren Sinnen wahrnehme. Ich sehe Dich, höre Dich, fühle Deine Nähe immer gleich voll und reich. Ich besitze Dich so vollständig, daß Dich nichts auf der Welt, keine Entfernung, keine jahrelange Trennung, kein Mißverständnis, nicht einmal Deine eigene Gleichgiltigkeit mir rauben könnte. Siehst Du, ich glaube beinahe, daß es mehr ein Begriff ist, was ich liebe, als eine Form. Ich glaube, daß Du es eigentlich gar nicht bist – vielmehr ist es meine Liebe zu Dir, die ich liebe. Kannst Du das verstehen?«

»Du bist eine wunderliche Kleine,« sagte er und drückte ihren Kopf mit einer heftigen Geberde an sich, als ob er sie fest halten wollte.

Aber bald darauf ging er mit dem Ranzen auf dem Rücken den Weg hinab, während Ulla oben stand und ihm Abschied zuwinkte. Sie hatte ihm versprochen, so lange stehen zu bleiben, als sie noch einen Schimmer von ihm sehen könnte. Aber nun verschwand er unten unter den Bäumen und Ulla legte sich unter ein paar Birken am Wasserfall hin, um zu träumen.

Sie war froh, jetzt allein zu sein, und sie sehnte sich nach Ruhe, um, wie sie selbst glaubte, über die große Wandlung in ihrem Leben nachzudenken. Und doch dachte sie nicht daran – weder an das Vergangene, das hinter ihr lag, noch an das Neue, dem sie entgegen ging. Sie durchlebte in Gedanken nur wieder und immer wieder die Geschichte ihrer Liebe von ihrer ersten Begegnung an und dann weiter ihre ganze Entwicklung – jedes Wort, jeden Blick, der zwischen ihnen gewechselt war. Alles, bis sie zu dem Abend des vergangenen Tages kam – da blieb sie stehen; dann ging sie bis zum Anfang zurück, bis sie sich mit immer wachsender Spannung dem großen Wendepunkt näherte. Dieser selbst stand ihr noch so nah, war noch so neu, so vergeistigt durch die tiefste Innerlichkeit ihrer Empfindung, daß es ihr fast wie eine Entheiligung erschien, ihn wenn auch nur in sich selbst wieder zu durchleben.

Aber allein mit ihren Gedanken mußte sie sein – für seine Liebe hatte sie gewissermaßen noch keinen Platz, nur erst für ihre eigene. War er bei ihr, dann verdunkelte gleichsam seine Liebe die ihre; dann war es, als ob beide Gefühle, ihres und seines, um die Herrschaft stritten und dadurch eine Spaltung hervorriefen, die sie peinigte.

Nun aber, als sie allein war, schien ihre Liebe die ganze Atmosphäre um sie her mit Harmonie und unendlichem Frieden zu erfüllen. Und in ihrem Innern zog dieselbe Stille ein, die sie ringsum umgab – das große, weite, stimmungsvolle Schweigen des Felsengebirges.


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