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XIV.

Als nun alles in Betreff des Nachtquartiers verabredet und in Ordnung gebracht worden war, beschloß man, draußen etwas herum zu klettern und den berühmten Aussichtsberg zu besteigen. Jeder ging leise hinaus, um Falk nicht zu wecken. Nur Ulla zögerte noch; es überkam sie das unwiderstehliche, heiße Verlangen, dieses niedergebeugte Haupt zu küssen. Sie konnte es nicht überwinden. Sie sah sich um – sie war allein. Da schlich sie auf den Fußspitzen hin, beugte sich nieder und küßte das feuchte Haar. Im nächsten Augenblick war sie draußen, ohne daß er etwas gemerkt hatte.

Die Hand noch auf der Thürklinke, blieb sie stehen und horchte. Ihr Herz klopfte laut und der Atem stockte ihr fast, obgleich sie nur ein paar Schritte gesprungen war.

»Wenn er es gemerkt hätte – ja, dann wäre er in einer Sekunde hier, schlänge seine Arme um mich und hielte mich zurück, aber das will ich nicht. Ich will mich nicht binden, ich habe kein Recht dazu – ich kann nicht …«

Sie sprang den Hügel hinauf, als würde sie verfolgt, und erreichte die anderen, die auf sie warteten, als sie sie kommen sahen, weil sie glaubten, sie eilte so, um sie zu erreichen.

Wieder wandte sie sich um und blieb eine Weile lauschend stehen.

Nein, er hatte nichts gemerkt. War es nicht eigentlich merkwürdig, daß er nicht auch im Schlaf ihre Berührung ahnte und fühlte? Liebte er sie wirklich? Heute hatte es nicht den Anschein.

Und doch war es am besten so; ihre Wege konnten niemals zusammen gehen. Morgen würden sie gemeinsam nach Utschär zurück segeln, um sich bald darauf wieder zu trennen; sie wollte noch einen Besuch in Stockholm machen und dann nach Rom zurück. Sie war zu Ende, diese kurze Sommergeschichte, ihr Kuß war ein Abschiedskuß gewesen, das ganze ein schöner Traum, weiter nichts.

Ein schöner Traum! Schöner als irgend ein anderer, den sie geträumt hatte. Aber doch nur ein Traum.

Sie ging, in tiefes Schweigen versunken, und wußte kaum, daß sie in Gesellschaft anderer war. Allmälich kam sie ganz von ihnen ab, geriet auf einen schmalen Fußweg, der durch Waldesdickicht führte, und legte sich in die Heide, die Hände unter dem Kopfe.

Als die anderen merkten, daß sie Ulla verloren hatten, fingen sie an zu rufen und zu johlen. Sie hörte es, aber es fiel ihr nicht ein, zu antworten, obgleich sie wußte, daß es ihr galt. Es war ihr zu Sinnen wie einem, der im Schlaf seinen Namen rufen hört, er weiß, was der Ruf bedeutet, und denkt dennoch, es ginge ihn nichts an.

Der Dozent und Nelly wanderten an der Spitze der Gesellschaft. Sie waren den anderen oft weit voraus, die sich mit Blumenpflücken und Beerensuchen oder beim Betrachten der schönen Aussichtspunkte aufhielten, während die beiden immer weiter gingen, unaufhörlich sprachen und an nichts weiter dachten, als einander interessant zu sein.

Nelly freilich blieb manchmal stehen und sah sich etwas unruhig nach den anderen um, denn wenn sie sich auch am liebsten mit dem Dozenten allein unterhielt, so hätte sie trotzdem gern immer eine schützende Wache hinter sich gehabt – denn niemand sollte sagen können, daß ein Mädchen, das studirte, sich irgend etwas zu schulden kommen ließ, was gegen den guten Ton verstieß.

Der Dozent sprach von seinen Studien und gab Nelly gute Ratschläge für die ihrigen.

»Ja, Fräulein, wenn ich Sie nur manchmal in Upsala sehen könnte, würde es mir eine große Freude sein, Ihre Studien mehr in allen Einzelheiten leiten zu können,« sagte er.

»Ja, das wäre sehr gut. Aber leider kann ich gar keinen Besuch annehmen, weil es meine Tante, bei der ich wohne, nicht liebt. Sie sagt immer, daß ein junges Mädchen, das studirt, äußerst vorsichtig sein muß, damit absolut nichts über sie gesagt werden kann.«

»Ja, das ist natürlich sehr richtig,« stimmte der Dozent bei. »Ich weiß aber nicht, wie es gehen wird, wenn ich Ihre Gesellschaft wieder gänzlich entbehren soll, nachdem ich mich so sehr daran gewöhnt habe. Der Gedankenaustausch mit Ihnen ist mir wirklich ein solches Bedürfnis geworden …«

»Ach ja, mir geht es ebenso,« sagte Nelly und schlug die Augen nieder.

»Ist das wirklich wahr? Ja, aber dann – sollten Sie wirklich … wäre es möglich, daß ich hoffen dürfte … nein, an ein solches Glück kann ich nicht glauben …«

»Daß ich Dein werden wollte!« vollendete Nelly mit ihrer allerverschüchtertsten Miene.

»Daß Du mein bist!« rief er aus und warf einen raschen Blick hinter sich, um zu sehen, ob sie auch aus der Sehweite der anderen wären. Da er wußte, daß es bei einer solchen Gelegenheit passend war, sich einander zu umarmen, legte er seinen Arm schüchtern um ihre Taille und küßte sie mit einer gewissen Feierlichkeit auf das Ohr, als nähme er damit sein rechtmäßiges Eigentum für alle Zeiten in Besitz.

»Dachtest Du, ich hielte nichts von Dir? Sahst Du es nicht?« fragte sie.

»Ja,« sagte er mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, »ich dachte es wirklich. Von dem Augenblick an, als es mir klar wurde, daß ich Dich liebte, wußte ich auch, daß ich Dich gewinnen würde. Ein Mann gewinnt durch seine Liebe auch die der Frau, das heißt, wenn er ihrer nicht gar zu unwürdig ist,« fügte er mit etwas schüchternem Lächeln hinzu.

»Und doch wolltest Du Dich von mir trennen, ohne ein Wort gesagt zu haben?«

»Ja, ich fand, daß ich nicht das Recht hätte, Dich an meine unsichere Zukunft zu binden. Meine Einnahmen sind sehr klein, und meine Mutter braucht so viel Hilfe, als ich nur einigermaßen entbehren kann – und ich weiß nicht, wann ich genug verdienen werde, um heiraten zu können. Wenn Du mich aber wirklich so liebst, daß Du auf mich warten willst – als Verlobte haben wir doch viel mehr Gelegenheit, zusammen zu kommen.«

»Lange Verlobungen liebe ich nicht,« sagte Nelly, »die streiten gegen meine Prinzipien. Aber« – Ullas hingeworfene Aeußerung über den Studienkameraden hatte ihr keine Ruhe gelassen – »aber wenn wir uns trauen ließen und eine Studentenwohnung für zwei nähmen, jeder für sich selbst sorgte – alles wie vorher blieb – nur daß wir das Recht hätten, so viel wir wollten zusammen zu sein …«

Der Dozent erschrak nicht wenig über diesen Vorschlag, von dem er nicht recht wußte, ob er ihn richtig verstanden hätte.

»Ich weiß nicht genau, wie Du Dir das denkst,« sagte er. »Wenn Du eine Ehe meinst, sozusagen nur zum Schein, so weiß ich nicht, ob das recht wäre; das würde gegen die Idee der Ehe streiten, aber das verstehst Du noch nicht,« fügte er in sanft beschützendem Ton hinzu, als wenn er ein älterer, erfahrener Mann gewesen wäre, der zu seiner kleinen, kindlichen Braut spricht, während sie ebenso alt wie er und viel weniger naiv war, im Gegenteil gewohnt, an allen möglichen Versammlungen teilzunehmen, und die schwierigsten Fragen unbefangen mit zu erörtern.

»Daß einem jungen Mädchen so etwas möglich scheinen kann, begreife ich, für einen Mann aber …« er richtete sich auf und schien drei Zoll höher, als er das sagte: Für einen Mann.

Er hatte bisher das reinste Leben geführt und war von Natur keusch wie ein junges Mädchen. Er hätte besser wie jeder andere Nellys Ideal einer geistigen Ehe durchführen können, da sich aber sein ganzes Gedanken- und Gefühlsleben nach dem Buchstaben des Gesetzes entwickelt hatte und diesen Stempel trug, waren ihm die bürgerlichen Institutionen der Ausdruck heiliger Wahrheiten. Die Ehen waren um der Kinder willen da, folglich war es unmoralisch, eine Ehe einzugehen, in der Kinder nicht mit in Berechnung gezogen wurden. Jahrelang dagegen verlobt zu sein, war ein allgemein angenommener Brauch geworden und deshalb vollkommen zulässig.

Nellys Schamgefühl verbot ihr, näher auf diese Frage einzugehen. Ebensowenig aber konnte sie ihn überreden, sich mit ihr trauen zu lassen, wenn er nicht wollte. Deshalb zog sie es vor, auf seine Idee einzugehen und sich, obgleich es gegen ihre Grundsätze stritt, einstweilen mit ihm zu verloben.

Während er seinen Arm um ihre Taille legte, gingen sie glücklich, wenn auch stolpernd auf dem steinigen Wege weiter, zumal er sie ganz lose und vorsichtig anfaßte. Zwischendurch blieben sie stehen, um sich zu küssen – denn nun that es nichts mehr, wenn es die übrige Gesellschaft sah; im Gegenteil, jetzt sehnten sie sich darnach, eingeholt zu werden, um ihre große Neuigkeit mitteilen zu können – schon morgen wollten sie Verlobungskarten und Ringe bestellen und noch heute beim Abendessen konnte gern auf ihre Gesundheit angestoßen werden. Nelly brauchte niemand um Einwilligung zu bitten, denn ihre Eltern waren tot und sie war mündig. Aber der Dozent war trotz seiner überströmenden Glückseligkeit in tödlicher Unruhe, was seine Mutter dazu sagen würde. War es keine Verletzung seiner Pflichten ihr und der Schwester gegenüber, hatte er die Mutter nicht immer glauben lassen, daß er Junggeselle bleiben würde, um für sie leben und arbeiten zu können! Er [wand] sich innerlich förmlich bei dem Gedanken an die Scene, die es bei seiner Rückkehr nach Hause geben würde.

Die Mutter würde ihm keine direkten Vorwürfe machen, nur darüber jammern, daß sie ihm zur Last weiter leben müßte. In ihrem krankhaften Mißtrauen würde sie täglich und stündlich eine Abnahme seiner Liebe zu ihr entdecken und es so deuten, als wünsche er ihren Tod, um sich verheiraten zu können. Wie sollte er das auf die Länge ertragen, besonders wenn sie erst wieder in Upsala waren, wo er den ganzen Tag mit Arbeiten überbürdet war, wie schwer waren dann die vielen, die Nerven ruinirenden Auftritte – hier ging es noch an, wo er sich frei bewegen und ausruhen konnte.

Und doch, welche unendliche, jubelnde Glückseligkeit, sich geliebt zu wissen, von einer Zukunft zu träumen, einem eigenen Heim! Trotz seiner theoretischen Ueberzeugung von der Unwiderstehlichkeit des Mannes, wenn er liebt, hatte er in der Tiefe seines Herzens nicht an die Möglichkeit geglaubt, Nellys Gegenliebe gewinnen zu können. Er empfand es schmerzlich bitter, daß oft über ihn und sein linkisches Wesen gelacht wurde; aber die Gewißheit, geliebt zu werden, gab ihm plötzlich ein Selbstvertrauen und eine Sicherheit, daß diese Gefühle von allen, die ihn jetzt bestürmten, vielleicht die angenehmsten und belebendsten waren.

Nelly fühlte sich ebenso glücklich. Noch kein Mann hatte ihr seine Liebe erklärt, und sie war gerade auf dem Punkt gewesen, der ihr allerdings nun als eine Einseitigkeit erschien, die Männer zu verabscheuen, wie es einige ihrer hervorragendsten unverheirateten Freundinnen thaten. Denn ihr Glaube an sittlich reine Männer war nachgerade ins Schwanken geraten, bei dem Dozenten aber war sie ihrer Sache so sicher, daß sie ihn nicht einmal wegen seiner Vergangenheit fragte, was sie doch sonst als Pflicht und Schuldigkeit jedes Mädchens, das sich verheiraten wollte, ansah. Er hatte etwas Weibliches an sich und stieß sie deshalb von Anfang an nicht so ab wie die meisten Männer, besonders die sogenannten männlichen.

Und auch in anderer Beziehung näherte er sich mehr als andere dem Ideal eines Mannes. Sein maßvolles Wesen, seine Gerechtigkeit erschienen ihr, die sie selbst etwas dazu neigte, alles auf die Spitze zu treiben, trotz ihrer großen Aengstlichkeit, ihre Theorien in Thaten umzusetzen, als der Gipfel aller Weisheit. Es war eine solche Erleichterung, die Theorien, die man nicht auszuführen wagt, von einem Standpunkt aus kritisirt zu bekommen, der kein gegnerischer – in welchem Fall man ja genötigt worden wäre, sie bis auf die Spitze zu treiben – sondern der reinster Gerechtigkeit und ruhiger Objektivität war. Nelly fühlte sich somit wie in einen sicheren Hafen eingelaufen, als sie ihre Hand in die des Dozenten legte, und als nun Herr Krabbe, Eveline Suhr und Eglantine ihnen nachkamen, erzählten sie ihnen beide das glückliche Ereignis.

Eglantine, die stets von allem stark und tief ergriffen wurde, weinte und umarmte und küßte Nelly in einem Ausbruch lebhaftester Zärtlichkeit. Sie hatte natürlich alles längst gewußt, nicht daß Ludwig ihr etwas gesagt hätte, aber weil sie alles, was wichtig war, schon im voraus wußte.

Ihre ungewöhnliche Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer zu versetzen, machte, daß sie die Auserwählte ihres Bruders mit seinen Augen ansah und in den Aeußerungen ihrer Zärtlichkeit hingerissener und überströmender als er selbst war. Und doch durchschaute sie gleichzeitig Nellys Natur vollkommen klar und wußte genau, daß in ihrem Gefühlsleben sowohl wie in ihrer Begabung eine Trockenheit vorherrschte, die ihr niemals sympathisch werden konnte.

Aber die Menschen gleichsam mit zwei Augen zu sehen, war Ettys ganz besondere Gabe. Sie selbst empfand diese Doppelnatur, die gleichzeitig die Fehler sah und auch nicht sah, weil sie sie als etwas Untergeordnetes, Zufälliges, ausschließlich Irdisches betrachtete. Nur das Gute war das Wesentliche, das Ewige, und deshalb beurteilte man, ihrer Ansicht nach, auch nur solche Menschen gerecht, die man liebte. Sie sah die Menschen nicht, wie sie hier auf Erden geworden waren, durch die irdische Unvollkommenheit herab gedrückt, sie sah sie nur, wie sie in einer andern Welt, in welcher die Vollkommenheit wohnt, werden würden.

Deshalb konnte sie auch alle Menschen lieben, selbst solche, die ihrer Natur direkt unsympathisch waren. Und deshalb liebte sie jetzt auch Nelly mit der Liebe ihres Bruders. Es genügte ihr, zu wissen, daß sie diejenige war, welcher von nun an seine besten Gefühle gehörten, zu der seine zärtlichsten Gedanken eilten, an deren Seite er den Kampf des Lebens durchkämpfen und für die Ewigkeit geläutert werden sollte. Ob sie auch diejenige Frau war, welche ihm von Ewigkeit her und für die Ewigkeit bestimmt war – sie glaubte nämlich, die Menschen wären paarweis geschaffen, obgleich sie nur selten hier auf Erden ihre andere Hälfte fänden – ob Nelly wirklich die ihrem Bruder voraus Bestimmte war, das wußte sie nicht, denn das weiß man ja so selten hier. Aber um ihr alle Liebe und Hingabe, deren sie fähig war, zu widmen, genügte es ihr vollkommen, zu wissen, daß sie in diesem Leben seine Frau werden sollte.

Nelly hatte Eglantine von Anfang an als eine wenig entwickelte, romantische und gänzlich unmoderne Natur ziemlich gering geachtet. Die aufrichtige Herzlichkeit jedoch, die sich in den Liebkosungen des taubstummen Mädchens aussprach, hatte etwas zu Rührendes, um sie nicht freundlich zu stimmen, und so gingen die beiden Schwägerinnen Arm in Arm eine Weile zusammen, während der Dozent Herrn Krabbe erzählte, wie seine und Nellys Liebe angefangen hätte.

»Anfangs disputirten wir nur. Ja, ich kann fast sagen, wir zankten uns wirklich. Ich war manchmal geradezu böse auf sie und sie auf mich. Es ist doch eigentümlich, zu beobachten, wie die Liebe so oft mit dem Gegenteil anfängt.«

Hiebei lachte er vor innerem Entzücken. Er hatte dasselbe eben auch Eglantine erzählt und wiederholte es gegen jeden der Gesellschaft, denn seine Freude an jeder Einzelheit seiner Liebesgeschichte war so groß, daß er sie sich durch genaue Beschreibung so oft als möglich zu vergegenwärtigen suchte.



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