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XVI.

Es sollte eine große Versammlung auf Jökelheim abgehalten werden, zu der alle Freunde der Volkshochschulensache eingeladen worden waren. Diese Zusammenkünfte waren für die Schule stets die größten Ereignisse des Jahres, und die ganze Gegend lebte wochenlang nur dafür. Die alte Frau Falk war niemals glücklicher als in diesen Tagen, wenn sie das ganze Haus voll Gäste hatte und auch der große Saal, der an den gewöhnlichen Eßsaal stieß, voll Bänke und Tische stand. Nicht nur die, welche im Hause logirten, sondern noch eine große Zahl der übrigen Teilnehmer aßen an den drei Versammlungstagen mit da, und obgleich die Speisen ebenso einfach wie sonst waren, hatte man doch seit Wochen auf dem Hofe geschlachtet und gebacken, um so viele Münder satt zu machen.

Für Margit waren diese Vorbereitungen eine nützliche Abwechslung in ihrem in letzter Zeit zu unthätigen Leben. Sie war von Natur arbeitsam und tüchtig, liebte die Hausarbeit und hatte keine Zeit mehr, mit Etty Geheimnisse auszutauschen. Jetzt interessirte sie sich weit mehr für Würstestopfen und Teigeinmengen als für den verschwundenen Maler oder den treuen Gunnar, der in Amerika für ihr zukünftiges Heim arbeitete.

Birk und seine junge blonde Frau waren die ersten, welche anlangten. Sie waren eingeladen, bei Falks zu wohnen, und Ulla, die eine gewisse Freundschaft für die junge Frau empfand, widmete sich ihr besonders viel. Im übrigen fühlte sie sich in dem Kreis, der sich nun bei ihnen versammelte, ziemlich fremd. Alle waren gegenseitig so vertraut, verrieten eine so überströmende Liebesfülle für einander, wahrend in der Art, wie sie Ulla behandelten, eine gewisse mitleidige Freundlichkeit lag, so daß sich diese etwas kühl berührt fühlte. Sie merkte deutlich, daß es alle beklagten, keine Gläubige in ihr zu finden, wie sie selbst es waren, und daß sie es nicht verschmähen würden, bei passender Gelegenheit zu versuchen, sie für ihren Glauben zu gewinnen, ohne doch zudringlich zu sein.

Weder Falk noch seine Mutter hatten das jemals gethan. Sie waren äußerst optimistisch in ihrem Glauben und so fest überzeugt, daß alle früher oder später zur Erkenntnis der Wahrheit kommen würden, daß sie sich nicht über Ullas entgegengesetzten Standpunkt beunruhigten. Außerdem wußten sie auch, daß sie bei ihrer oppositionellen Natur nicht durch beabsichtigte Einwirkung zu gewinnen wäre, man mußte sie in Frieden lassen und auf Gott vertrauen, er würde sein Werk, wenn auch langsam und in der Stille, doch durchführen. Doch setzte die alte Frau Falk große Hoffnungen auf diese Zusammenkunft, denn der Geist herzlicher Brüderlichkeit und warmer, religiöser Hingabe, welcher durch diese Versammlung wehte, pflegte gewöhnlich viele Erweckungen zur Folge zu haben.

Obgleich niemand etwas gesagt hatte, empfand das Ulla doch, wie gesagt, gewissermaßen durch die Luft, und das machte sie nur noch zurückhaltender und verschlossener. Sie fühlte sich während dieser Tage unglücklich, vereinsamt und überflüssig. Die Verehrung und Bewunderung, welche Falk hier umgab, stimmte sie nicht freundlich gegen ihn, steigerte ihre Kritik und machte, daß sie das Unrecht, das er ihr zugefügt hatte, nur um so stärker empfand.

Als er auf der Rednertribüne stand, in dem mit Flaggen und Grün geschmückten und von feiertäglich gekleideten Menschen angefüllten Saal, als aller Augen voll Bewunderung an ihm hingen, viele weinten, als seine Worte warm und begeistert klangen, während er von der Macht der Liebe sprach und von dem Bruderkreis, der dermaleinst, wenn alle Menschen die Wahrheit gefunden hätten, sich Hand in Hand um die ganze Erde ziehen würde, da war nur eine im Saal, die ungerührt blieb, und der diese Worte hohl und leer erschienen – und diese eine war seine Frau. Wie litt sie selbst darunter! Sie sagte sich, daß sie ungerecht gegen ihn wäre, daß er wohl einmal fehlen könnte, daß aber sein Leben, im großen und ganzen genommen, vollständig mit seiner Lehre übereinstimmte, und daß sie doch keine selbstlosere, edlere Natur kenne. Aber alles half nichts, sie konnte sich nicht für das erwärmen, was ihn in diesem Fall erwärmte, sie fühlte sich ausgeschlossen von dem, was seine Seele ganz erfüllte, und deshalb lag in ihrer Kritik ein gutes Teil eifersüchtiger Bitterkeit.

Am dritten Tag der Zusammenkunft, als nur noch ein kleinerer Kreis versammelt war, und die gerührte Stimmung, welche auf dem Ganzen geruht, den Höhepunkt erreicht hatte, schlug Birk vor, man sollte, ehe die Scheidestunde schlüge, das heilige Abendmahl nehmen. Der Umstand, daß ein solches privates Abendmahl gesetzlich verboten war, bedeutete für diesen Kreis nichts, der in erster Linie für geistige Freiheit und für das Recht kämpfte, seine Religion so ausüben zu dürfen, wie sie es für recht hielten. Keiner unter ihnen schreckte vor den möglichen gesetzlichen Folgen zurück, die es nach sich ziehen könnte, wenn sie, der Mahnung ihres Herzens folgend, durch eine Handlung sich zu stärken suchten, deren Heiligkeit für sie niemals von der Form abhing, unter welcher sie geschah.

Ulla ging hinaus in ihr Zimmer, als sie hörte, daß dieser Vorschlag gemacht wurde. Und Etty, welche Falk fragte, ob sie teilnehmen wollte, zog sich erschreckt zurück.

»Ich bin nicht vorbereitet,« sagte sie. »Ach Gott, ich möchte es so gern, aber ich wage es nicht.«

Falk kam herein zu Ulla und sagte mit aufgeregter Stimme, daß es von ihr abhinge, ob er teilnehmen könnte.

»Von mir!« rief sie verwundert. »Du willst damit doch nicht sagen, daß ich mit dabei sein sollte –«

»Nein, Geliebte, das würde mir niemals einfallen, obgleich der Tag, wo das geschähe, der glücklichste meines Lebens sein würde; aber davon ist jetzt keine Rede, gerade um Deiner Ehrlichkeit willen in diesen Dingen stelle ich Dich tausendmal höher als manche der anderen, die nur ihres Mannes wegen teilnimmt, oder weil sie keine persönliche Ueberzeugung hat – nein, deshalb wollte ich nicht mit Dir sprechen, nur um meiner selbst willen. Ich habe Dich gekränkt, und Du hast mir noch nicht vergeben. Und mit diesem Bewußtsein kann ich nicht am Liebesmahl teilnehmen.«

»Ich dachte, Du glaubtest Dich in Deinem Recht,« sagte Ulla in etwas abweisendem, nervösem Ton. Es war ihr peinlich, an das Vergangene zu rühren.

»Ja, ich glaubte recht zu haben. Als ich aber sah, wie tief ich Dich gekränkt hatte, fing ich an, mich selbst zu fragen, ob es nicht doch eine Täuschung, ob es wirklich nur Empörung über Lewis Leichtsinn und Margits Treulosigkeit war, was mich so außer mir brachte, und so bin ich nun zu der Selbsterkenntnis gekommen, daß es auch ein gut Teil Eifersucht war …«

»Eifersucht?«

»Ja, denn ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, daß Lewi in Dich verliebt wäre, und konnte ihn deshalb nicht leiden. Ach, Du weißt nicht, was ich die ganzen Wochen über im Hospital gelitten habe, bei dem Gedanken an Dein trauliches Beisammensein mit Lewi – fast nicht zum Ertragen –«

Er trat an ihren Schreibtisch und fing an, in ihren Papieren zu kramen.

»Wenn Du es wünschest, schreibe ich jetzt eine Entschuldigung an Lewi –«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte er sich hin und schrieb; dann reichte er ihr den Brief hin, der ein offenes und herzliches Eingeständnis seines Unrechtes enthielt und das Bedauern darüber, daß ein Freund seiner Frau auf so unbehagliche Art ihr Haus verlassen hätte. Er schloß mit dem Wunsche, Lewi möchte sie trotzdem noch einmal besuchen und ihm Gelegenheit geben, zu zeigen, wie aufrichtig er seine Uebereilung bereue.

Ulla dankte ihm mit einem Blick und reichte ihm die Hand, welche er fest hielt, während er sich über ihre Schulter beugte und ihr Haar küßte.

»Und nun bitte ich um Deine Verzeihung, die Du mir noch nicht gegeben hast.«

Sie drehte sich auf ihrem Stuhle um, so daß sie ihm voll in das Gesicht sah, umschlang seinen Nacken und drückte ihr Gesicht an seinen Hals.

»Sprich nicht mehr davon,« sagte sie. »Ich mag das nicht – es ist mir schrecklich.«

»Wie!« sagte er. »Kann diese Wunde niemals heilen?«

»Das ist es nicht, was ich meine – ich meine, es quält mich, daß Du – ich habe Dir nichts zu verzeihen – nein, still, ich will das Wort nicht hören, es ist, als ob ich mich dessen schämte, viel lieber will ich selbst Dir gegenüber unrecht haben, und ich habe es auch in vielen Fällen – laß uns nicht davon sprechen, uns einander zu verzeihen – nur davon, uns einander lieb zu haben.«

»Dank!« sagte er. »Nun kann ich mich mit Freuden den anderen anschließen.«

»Aber mir kommt das doch sonderbar vor,« sagte Ulla. »Ich kann nicht recht verstehen, wie dieser Abendmahlsgang eine so große Bedeutung für Dich haben kann. Du glaubst doch nicht dasselbe wie die anderen.«

»Es ist für mich auch kein Glaubensartikel – es ist mir einfach nur ein Erinnerungsfest und Liebesmahl, das mich einerseits an Christi Leben und Lehre erinnert und andererseits in nähere Gemeinschaft mit meinen Glaubensgenossen bringt. Ungefähr so, wie Du zum Beispiel glücklich bist, wenn Du das Weihnachtsfest gerade so feiern kannst, wie Deine Eltern es thaten, weil Dir das teuer und eine liebe Erinnerung an sie ist.«

Sie wurden durch ein leises, schüchternes Klopfen an der Thüre unterbrochen. Falk öffnete Frau Birk, die zögernd fragte, ob sie eintreten dürfte. Er ließ sie mit Ulla allein und ging hinunter zu den anderen.

»Wollen Sie nicht bei der Abendmahlsfeier zugegen sein?« fragte Ulla die junge Frau.

»Ja, das ist der Grund, weshalb ich herauf zu Ihnen komme. Ich wollte Sie bitten – aber vielleicht hat Ihr Mann es schon gethan?«

»Was?«

»Daß Sie mit dabei sein möchten – ich meine natürlich nicht mit zum Altar gehen, nur zugegen sein und zuhören, wenn wir unsere schönen Grundvigianischen Lieder singen, damit Sie sehen, wie glücklich wir uns alle fühlen.«

»Nein, das kann ich nicht,« sagte Ulla, »das widerstrebt mir. Es würde mir vorkommen, als wenn ich als Fremdling einer Familienfeier oder dem Zusammentreffen eines liebenden Paares beiwohnte.«

»Wollen Sie dann nicht wenigstens in das anstoßende Zimmer kommen und von da aus dem Gesang zuhören? Ich glaube ganz gewiß, daß wir alle diesen Abend für Sie beten werden.«

In Ullas Gesicht drückte sich Verstimmung aus.

»Es verletzt Sie doch nicht?« fragte Frau Birk schüchtern.

»Nein – aber ich gestehe, daß es mich unangenehm berührt,« antwortete sie.

»Dann verzeihen Sie mir, daß ich davon angefangen habe,« sagte die junge Frau mit Thränen in den Augen und erhob sich. »Aber ich habe eine solche Liebe für Sie, daß ich nicht anders kann, als Sie immer in mein Gebet mit einzuschließen. Erwähnen will ich es aber nie wieder, wenn Sie es nicht mögen.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Freundlichkeit dankbar,« sagte Ulla und hielt ihre Hand einen Augenblick fest.

Man hörte jetzt einen Gesang im untern Saal anstimmen; Ulla stand auf, folgte Frau Birk die Treppe hinunter und ging in das Wohnzimmer, dessen Thüren nach dem großen Saal offen standen. Sie konnte einer gewissen Rührung über die Hingabe dieses kleinen, schüchternen und unbedeutenden Wesens nicht widerstehen.

Etty kam zu ihr herein, und sie saßen beide während des Singens still auf einem kleinen Sofa, Etty Ullas Hand fest haltend, weil sie behauptete, auf diese Weise etwas von dem, was Ullas Ohren hörten, zu vernehmen.

Falks tiefer Bariton und Frau Birks klare, hohe Stimme klangen deutlich aus den übrigen heraus, als sie sangen:

»Des treusten Freundes in der Ferne
Gedenken wir an jedem Tag
Und hoffen, daß mit seinem Frieden
Er wieder zu uns kommen mag;
Denn dein Gedächtnis, Jesu Christ,
Erlöser, unser Segen ist.«



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