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III.

Herr Krabbe hatte umhergeschickt und seine Freunde, oder richtiger gesagt, die seiner Frau, einladen lassen, um seinem Gast Unterhaltung zu verschaffen und dabei gleich zu zeigen, welchen ausgewählten Umgang er hatte: die berühmte Malerin, den von allen gesuchten Norweger, den gelehrten Dozenten, die reiche Erbin, Fräulein Suhr, und die geistvolle Studentin, Fräulein Nerman – die hervorragendsten Personen der ganzen Badegesellschaft.

»Ja,« sagte er schmunzelnd zu seinem Geschäftsfreund, »im Verkehr mit solchen gelehrten Leuten fühlt sich meine Frau am wohlsten.«

»O ja,« erwiderte dieser mit naiver Ueberzeugung von Annas grausamer Gelehrsamkeit, eine Vorstellung, die Herr Krabbe vollkommen teilte, »gleich und gleich gesellt sich gern.«

Die Gesellschaft hatte auf der Terrasse vor der Villa Platz genommen. Herr Krabbe und sein Geschäftsfreund tranken Taddy und suchten so viel als möglich von der gelehrten Unterhaltung zu gewinnen.

Falk und der Dozent waren wie gewöhnlich schon am Theetisch in dem kleinen Speisesaal in Disput mit einander geraten, aber Falk brauchte Platz, besonders wenn er disputirte. Er war zu groß für die in kleinem Stil erbaute Villa und machte, wenn er lebhaft wurde, so viel Gestikulationen, daß es aussah, als würde er in der nächsten Minute alles umstoßen und Annas kleine, zierliche Puppenmöbel zerbrechen. Er verzog sich deshalb bald hinaus auf die Veranda, wo er größeren Spielraum hatte, und der Dozent folgte ihm bescheiden, aber immer weiter disputirend. Bald jedoch wurde es ihm auch hier zu eng und die beiden Herren standen nun mitten auf dem Sandweg vor dem Hause.

Der Dozent bildete mit seinem vorgebeugten Oberkörper, während der untere Teil zusammen gekrümmt war, eine etwas komische Figur neben der Hünengestalt seines Gegners, der bereit schien, seinen schmächtigen Widersacher zu zerbrechen, als er, mit geballter Faust herumfuchtelnd, ausrief: »Aber, Herr Dozent, das ist ja eine unmännliche Ansicht, die Sie da vertreten. Man sollte über eine schlechte Handlung nicht in Zorn geraten!«

»O ja, man kann schon über eine solche Handlung empört sein, man soll aber nicht ihren Urheber deshalb hassen,« erwiderte der Dozent und wich auf die Seite, gerade als der Norweger im Begriff war, seine Hand auf die Schulter des Dozenten niederfallen zu lassen. »Den Haß kann man nie verteidigen.«

»Im Gegenteil, Gott weiß, daß es recht ist, zu hassen und in Zorn zu geraten. Im Haß des Schlechten liegt eine befreiende und stützende Macht.«

Nelly Nerman und Evelina Suhr kamen in dem Augenblick Arm in Arm auf dem Sandweg her gegangen, und Nelly mischte sich in die Unterhaltung, um dem Dozenten beizustehen.

»Zu hassen und in Zorn zu geraten, verrät Mangel an historischem Sinn,« sagte sie mit ihrer schüchternen Miene. »Wenn man weiß, daß nichts ohne Voraussetzung existirt und ein Charakter notwendig so werden mußte, wie die Umstände ihn machten, wie kann man da so unlogisch sein, in Zorn zu geraten.«

»Ja, das möchte ich doch nicht ganz unterschreiben,« sagte der Dozent mit einer kleinen, hastigen Drehung seines Körpers, so daß er gerade vor Nelly zu stehen kam. »Ganz gewiß wirken die Verhältnisse sehr bedeutend auf die Entwicklung eines Charakters ein, deshalb aber zu sagen, ein Charakter wäre ganz und gar das Produkt dieser Verhältnisse, hieße das Selbstbestimmungsrecht des Menschen verneinen, und das ist eine sehr gefährliche Lehre.«

Jetzt erhob Evelina ihre tiefe Predigerstimme und sagte pathetisch: »Es wäre in Wahrheit zu traurig, wenn ein frei geborener, von Gottes Gnade erschaffener Mensch von etwas so untergeordnetem, wie die äußeren Verhältnisse es sind, abhängig sein sollte.«

»Herrgott, gibt es heutzutage noch Menschen, die an einen freien Willen glauben,« wurde jetzt eine neckende, halblaute Stimme hörbar. Ulla hatte sich auf einem Gartenstuhl bequem niedergelassen, die Füße weit ausgestreckt, den Kopf an die Stuhllehne zurückgelehnt, einen bunten Sonnenschirm von rotem Atlas mit gemalten Blumen im Nacken, zum Schutz gegen die Abendsonne, die gerade einige Strahlen zwischen den Säulen der Veranda hindurch warf.

Die Streitenden wendeten sich um.

»Ah, Sie sind es,« sagte Falk, »Sie haben es sich ja recht bequem gemacht.«

»Ja, ich habe es gut,« sagte sie scherzend in demselben scherzhaften, leichten Ton. »Das ist der einzige bequeme Stuhl im ganzen Hause. Wenn aber jemand glaubt, es hinge von meinem freien Willen ab, ihn einem andern abzutreten, so täuscht er sich. Ich werde von einer inneren Naturnotwendigkeit getrieben, mir immer die besten Plätze auszusuchen. Aber es hat geradezu keinen Sinn, wie Anna nur auf einer Holztreppe zu sitzen und unverwandt auf die See hinaus zu sehen.«

Anna, die, auf der untersten Verandastufe sitzend, das Kinn in die Hand gestützt hatte, zuckte zusammen. Ihre Gedanken waren nicht so weit draußen auf der See wie ihre Blicke. Ebensowenig aber waren sie bei dem, ihrer Ansicht nach höchst uninteressanten Gespräch.

»Werden Sie morgen auch arbeiten?« fragte Falk Ulla.

»Wer weiß,« erwiderte diese. »Wie kann ich wissen, was ich morgen thun werde? Kann ein Mensch die Zukunft voraussagen? Glauben Sie, ich hätte Sehergabe und könnte prophezeien?«

»Ach, Fräulein, Sie treiben alles auf die Spitze. Ich kann mir unmöglich vorstellen, daß ein Mensch, der schon so viel geleistet hat wie Sie, nicht an die Macht des Willens glauben sollte.«

»Nein, wissen Sie, Sie sind wirklich einmal ein wahrhaft naiver Mensch. Sie sprechen von Hassen und in Zorn geraten und nun auch noch vom Willen. Ich arbeite oft recht viel, das ist wahr. Aber das geschieht nicht deshalb, weil ich will, ebensowenig wie ich Künstlerin infolge eines Willensaktes geworden bin. Als ich, vier, fünf Jahre alt, zu allen Geschichten, die ich kannte, Illustrationen zeichnete, that ich das nicht, weil ich Künstlerin werden wollte.«

»Was nützt es, paradoxe Behauptungen aufzustellen,« rief Falk erregt und sprang herauf in die Veranda, »damit stoßen Sie den freien Willen nicht um, mein Fräulein. Es ist die herrlichste Gabe der Menschheit.«

»Eine interessante, äußerst lehrreiche Unterhaltung,« sagte Herr Krabbe und stützte sich mit dem Ellenbogen auf den Tisch, während er versuchte, mit seinen kleinen, grauen, verschwollenen Augen tiefsinnig drein zu blicken. »Ja, sehen Sie, wenn man unter gelehrten Leuten ist!« Dabei schlug er seinem Geschäftsfreund auf das Knie, daß es knallte, und beide lachten zufrieden und bewundernd.

»Ich glaube auch an die Macht des Willens,« sagte Anna leise, fast nur zu sich selbst, und die Art, wie sie die Lippen zusammen preßte, deutete auf einen Entschluß.

Herr Krabbe brach in schallendes Gelächter aus.

»Ja, das will ich wohl glauben. Hehehe! Das glaub' ich schon! Hier ist eine, die wollen kann, das muß ich sagen,« rief er mit lebhafter Handbewegung. »O, meine Frau ist ein Weib mit Energie. Wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kriegt es selbst der T....l nicht wieder heraus.«

Unten auf dem Sandweg hatte sich der Dozent mit Nelly in neue durch die vorangegangene Unterhaltung veranlaßte Streitfragen verwickelt. Der Dozent sprach von der Heiligkeit eines gegebenen Versprechens und Nelly behauptete, ein Versprechen dürfte deshalb nicht als bindend angesehen werden, weil man nicht Herr über solche Verhältnisse wäre, die man, als man das Versprechen gab, nicht voraussehen konnte.

»Zum Beispiel ein Ehegelübde,« zwitscherte sie. »Wie kann ein Mensch so unvernünftig sein, ein Ehegelübde abzulegen. Zu geloben, einander das ganze Leben zu lieben, wie kann man das, wie kann man wissen, ob man im stande ist, das zu halten?«

Anna war aufmerksam geworden.

»Was Nelly da behauptet, scheint mir sehr wahr zu sein,« sagte sie. »Man sollte gar nicht ein solches Gelübde ablegen dürfen.«

»Sie wollen also die Ehe abschaffen,« fiel hier Evelina tief verletzt ein. »Eine Gesellschaft ohne Ehe! Ja, ich wenigstens möchte da nicht leben.«

»Die Ehe abschaffen, das habe ich niemals behauptet,« sagte Anna, die immer unsicher wurde, wenn die Rede auf allgemeine Fragen kam. »Ich meine nur, daß die Ehe – daß das Gelübde – man müßte das Recht haben –«

»Einander betrügen zu dürfen,« fiel hier eine gutmütige Stimme mit so herzlichem und anhaltendem Lachen ein, daß man deutlich merkte, welches Vergnügen der Geschäftsfreund von Herrn Krabbe, der den ganzen Abend bis jetzt geschwiegen hatte, an seinem kleinen Einwurf selbst empfand.

»Nein, sich zu trennen,« sagte Falk, und Anna glaubte, er sähe sie dabei an. »Lassen Sie uns nur die größtmögliche Freiheit in Bezug auf Scheidungen zu erreichen suchen, damit die widerwärtigen, unschönen Verhältnisse aufhören, in denen jetzt so viele schmachten und darin untergehen.«

»Aber es gibt viele Frauen, die – ich meine, es geht nicht immer, sich scheiden zu lassen,« wagte Anna nach einigem Zögern einzuwenden. »Es gibt doch viele, die dann nichts zu leben hätten.«

»Das ist nicht Ihre eigene Ueberzeugung, Frau Krabbe,« rief Falk und wendete sich zu ihr. »Sie können unmöglich sagen wollen, eine Frau sollte sich von ihrem Mann erhalten lassen, während sie ihn hintergeht oder gar einen andern liebt?«

»Oho, Bruder Falk, ich muß mir doch ausbitten, meiner Frau nicht mit solchen Insinuationen zu kommen. Was! Was!« Er schlug Falk freundschaftlich auf die Schulter, und sein Geschäftsfreund, der die Wirkung seiner vorherigen Keckheit noch immer nicht ganz überwunden hatte und still vor sich hinlächelnd dasaß, stimmte in sein laut schallendes Gelächter ein.

»Und was soll sie dann thun?« fragte Anna Falk mit leiser Stimme.

»Das will ich Ihnen sagen,« erwiderte er ihr, setzte sich neben sie auf die Treppenstufe und beugte sich zu ihr hin. »Eine Frau, die einen andern Mann liebt, als den, mit welchem sie verheiratet ist, muß, wenn sie arm ist, sich irgend eine Stelle suchen, als Lehrerin, in einem Geschäft, als Dienstmädchen, welche Arbeit es auch sei, womit sie ihr Brot auf ehrliche Weise verdienen kann – aber sich von ihrem Mann versorgen lassen, in dem Luxus zu leben, den seine Arbeit ihr verschaffen kann, während sie ihr Herz einem andern schenkt, das darf sie nie und nimmer thun.«

Anna fuhr zusammen bei diesen Worten. War das die Ausschlag gebende Antwort, auf die sie gewartet hatte? War es ein Wink für sie, daß sie sich erst frei machen und allein dastehen müßte – war es das, das allein, was ihn zurück hielt?

Sie ging hinab an die Brücke und setzte sich dort auf eine Bank. Da es nichts Ungewöhnliches war, daß sie sich auf diese Art von der Gesellschaft zurückzog, ließ man sie in Ruhe. Ihr grades Profil mit dem schwarzen, starken, glatten Haar und der geschmeidigen, schlangenartigen Figur in dem eng anliegenden, schwarzen Kleid hob sich scharf und fast hart von dem hellen, farblosen Abendhimmel ab, während sie unbeweglich dasaß, versunken in ihre verzehrenden Träume.

Wie konnte er so ungereimte Ideen haben! Sein Brot verdienen – als Dienende hinausgehen, hatte er gesagt. Das war ja reine Verrücktheit, so etwas thut man doch nicht. Hatte man je von einem Menschen gehört, daß er so etwas gethan hätte? Aber – ein heimliches Liebesverhältnis, das hatten viele schon gehabt.

Sie versank in Träume. Sie liebten einander, er kam in der Nacht draußen vor ihre Veranda, ihr Mann war auf dem Fischfang – am Morgen kam Ulla vorbei, grüßte sie, rief ihr etwas zu. Ullas kluge, beobachtende Augen – sie haßte diese Augen – betrachteten sie mit Verwunderung, sie bemerkten den Schimmer von Glück, der über ihrem ganzen Wesen ausgebreitet lag.

Und Ulla mit all ihren Gaben und Talenten sah mit Bitterkeit und Neid auf sie, die nichts weiter besaß, als das eine, was Ulla bewußt oder unbewußt, wahrscheinlich unbewußt, aber das blieb sich gleich, eben im Begriff war, ihr zu rauben.

Oben auf der Veranda war die Unterhaltung lebhafter denn je. Man sprach von Falks Wirksamkeit als Lehrer einer Volksschule.

»Und diese Wirksamkeit befriedigt Sie wirklich,« sagte Ulla. »Sie fühlen niemals den Wunsch, intelligentere und entwickeltere Schüler zu haben, denen Sie ein höheres Maß von Kenntnissen bieten könnten? Ich sollte meinen, daß Sie mit Ihrer Gelehrsamkeit vielmehr zu einem Universitätslehrer passen müßten.«

»Ich danke dafür,« fuhr er auf. »Um Beamte auszubilden! Um diese armen, vertrockneten Gehirne, die nur ein Ziel im Leben kennen – sich Brot zu verschaffen – fürs Examen vorzubereiten! Nein, nie und nimmermehr. Da haben meine Bauernburschen und Mädchen eine andere Frische! Die kommen in die Schule mit einem solchen Drang, solchen Verlangen nach Wissen, daß es geradezu rührend ist. Nur liegt das alles bei ihnen noch so verschlossen, daß es ihnen menschlich schwer wird, es zu Tage zu fördern. Aber welche Freude auch für den Lehrer, diesen harten Erdboden allmählich zu bearbeiten, Samen hinein zu streuen und dann das Aufsprießen der jungen Saat zu beobachten, so recht mit vollem Herzen und Verständnis zu pflegen und zu warten; ja, Sie sollten meine Mutter sehen, wie rührend glücklich die ist, wenn sie das erste Aufkeimen geistigen Lebens bei dem einen oder andern bemerkt, wie liebevoll sie es versteht, immer das beste heraus zu finden –«

»Ist es wahr, daß Ihre Mutter immer in Bauerntracht geht?« fragte Fräulein Suhr.

»Ja, gewiß, und ich auch. Wir wollen nichts wissen von dem Unterschied zwischen Vornehmen und Bauern. Für einen Norweger gibt es keine größere Ehre, als ein guter Bauer zu sein.«

»Leben Sie auch in allem anderen wie ein Bauer?« fragte Ulla in etwas spöttischem Tone. »Essen Sie grobe Speisen, haben Sie schlechte Luft in Ihrem Zimmer, bedienen Sie sich grober Worte, gehen Ihre Gedanken nicht höher als bis zum Balken unter Ihrem Dache?«

»Es ist ja recht amüsant, was Sie da sagen, mein Fräulein,« antwortete Falk aufbrausend. »Aber Sie müssen mir gestatten, Ihnen so viel zu erwidern, daß unsere Thätigkeit doch etwas anderes verdient als Hohn, obgleich wir noch nichts Großes vollbracht haben, von dem viel zu reden wäre, und obgleich es entschieden amüsanter ist, zu studiren, zu malen und was dergleichen mehr ist.«

Ulla unterbrach ihn. »Nein, so meinte ich es ja gar nicht. Ich sehe recht gut ein, wie schön es ist, daß Sie – ich habe gehört, daß Sie eine brillante Carrière hätten machen können, wenn Sie gewollt hätten.«

»Nein, nun wird es immer schlimmer,« rief Falk. »Wenn ich nur diese Art von Komplimenten nicht mehr hören müßte. Was ich thue, ist nicht eine Spur besser als jede andere Thätigkeit. Wofür ich eintrete, ist auch nicht meine Arbeit, sondern das Recht des Volkes auf Aufklärung und menschliche Entwicklung. Und nur dieser überlegene Ton, in dem Sie gerade wie andere glauben sprechen zu dürfen, empört mich.«

»Aber ich habe ja allen möglichen Respekt vor den Bauern,« fiel Ulla ein, bei dem Ausbruch seiner Heftigkeit aus ihrer halb liegenden Stellung in die Höhe fahrend. »Ich meinte nur, ist wirklich das Leben eines norwegischen Bauern derart, daß man es mit Recht als Muster aufstellen könnte.«

»Davon ist ja gar keine Rede! Wir leben nicht so, wie die norwegischen Bauern im allgemeinen leben, sondern so, wie sie unserer Ansicht nach leben sollten, das heißt ordentlich und gesund, aber ärmlich. Wir machen keinen Gebrauch von dem Luxus und der Ueberkultur, den künstlichen Lebensbedingungen, die sich eine kleine Minorität in den Städten verschafft hat, die aber, so wie die Welt nun einmal ist, immer nur einer geringen Anzahl zu gute kommen können. Wir halten es für ein größeres Glück, in denselben Verhältnissen wie die Mehrzahl der Menschen zu leben, anstatt in denen einer kleinen Minderheit von Bevorzugten. Haben Sie dafür wirklich kein Verständnis? Wir finden, daß man so viel mehr geistige Aufgaben im Leben erfüllen kann, als man weniger Zeit zur Erhaltung all des unnützen Luxus zersplittert, den man heutzutage mit Kleidern, Speisen, Möbeln und dergleichen treibt. Und wir glauben, das Vaterland braucht unsere Arbeit für andere Aufgaben. Das müssen Sie verstehen, Fräulein Rosenhane, ja, das müssen Sie –« Er wurde immer wärmer und beugte sich jetzt ganz herab zu ihr, während er, seine Hand auf die Stuhllehne legend, ihr tief in die Augen sah. »Sie sind doch so verständig und vorurteilsfrei.«

»Ich verstehe es auch ganz gut,« sagte Ulla. »Glauben Sie mir, ich bin oft so müde alles dessen, was man Glück und Ueberkultur nennt, daß ich am liebsten in eine arme Fischerhütte am Meer geflohen wäre, um dort wochenlang völlig zurückgezogen leben zu können; o, ich verstehe es nur zu gut!«

»Es liegt ja auch viel Richtiges und Berechtigtes darin,« sagte der Dozent. »Gleichwohl will es mir scheinen, daß man nicht ohne Grund die Frage aufwirft, ob die, in jeder Hinsicht doch ziemlich oberflächliche Bildung, welche die Schüler in der kurzen Zeit erlangen können –«

»Ach ja, das ist mir alles so wohl bekannt,« unterbrach ihn Falk. »Man findet es besser, das Volk wie ganze Tiere als wie halbe Menschen leben zu lassen. Ihr gelehrten Herren seid so schreckliche Geistesaristokraten, daß ihr meint, es könnte für jeden Bauernburschen, der in die Schule kommt und es nicht wenigstens bis zum Kandidaten der Philosophie bringt, nur geringen Nutzen haben, etwas so Einfaches zu lernen, wie die Geschichte seines Vaterlandes, die Gesetze, nach denen er leben und sich verurteilen lassen soll, die Rechte und Pflichten, die er als Mitbürger einer Gemeinde hat, und wenn er gar noch die Dichter seines Vaterlandes kennen und lieben lernt, und die von Schweden mit, ja, dann sagen sie natürlich, wozu soll das nützen? Wenn er einmal kein Beamter oder Gelehrter werden kann, dann laßt ihn doch so unentwickelt bleiben wie seine Kühe und Ochsen. Warum menschliche Interessen bei einem erwecken, der doch kein Gelehrter wird?«

»Nein, das sagen wir gewiß nicht. Man fürchtet nur, daß das Volk durch das Naschen vom Baume der Erkenntnis den Geschmack für seine tägliche Arbeit verlieren und sich zu gut zur Arbeit mit den Händen halten könnte.«

»Entschuldigen Sie, Herr Dozent, aber wer sind denn diejenigen, welche beständig diesen Einwand vorbringen, diesen tiefen Respekt vor der Hände Arbeit? Das sind solche, die in ihrem ganzen Leben niemals selbst Handarbeiter waren und die solche Arbeit weder verrichten können, noch wollen. Aber ich will Ihnen davon erzählen, ich, der ich selbst jeden Busch in meinem Besitztum gepflanzt und selbst jeden Stein von dem steilen Hügel, auf dem mein Haus steht, weggetragen und gute Erde hingefahren habe, kann von dem erzählen, was ihr beständig im Munde führt, aber nicht glaubt. Denn glaubtet ihr es wirklich, würdet ihr es selbst erproben, und ich kann es selbst aussprechen, in der Arbeit der Hände liegt ein Segen, eine erhaltende Kraft für die Menschheit, deren Wert wir viel zu hoch anschlagen, als daß wir ihn herabsetzen möchten; und was wir die Bauern lehren, ist nicht die Auffassung, daß für den, welcher einige Kenntnisse besitzt, die Arbeit der Hände zu gering wäre, sondern, daß auch derjenige, welcher viele Kenntnisse und große Gelehrsamkeit besitzt, Gutes von seiner Hände Arbeit haben würde.«

»Hätten Sie nicht Lust, hier in dem kleinen Utschär einen Vortrag zu halten, Herr Falk?« fragte Ulla. »Glauben Sie nicht, daß es uns leichtsinnigen und überkultivirten Badegästen ganz nützlich sein würde, etwas Näheres über Ihre Volkshochschulen und Ihre eigenen Ideen im allgemeinen zu hören? Ich verspreche Ihnen, daß Sie wenigstens eine sehr aufmerksame und wirklich interessirte Zuhörerin haben sollen.«

»Ja, wenn ich nur eine Zuhörerin bekomme, dann kann ich zu dieser einen besser auf der Landstraße, auf der See oder irgend wo sonst sprechen. Bekäme ich aber zum Beispiel fünf, dann wäre es schon bequemer, gleich einen Vortrag zu halten. Und ich thäte es sogar sehr gern. Es ist eine Leidenschaft von mir, Vorträge zu halten, das können Sie mir glauben. Ich lasse mich niemals zweimal darum bitten.«

»Das ist ja schön. Also im Kurhaus an einem der nächsten Abende, wie? Wir schlagen große Anzeigen an allen Ecken an. Das mußt Du thun, Ludwig,« wendete sie sich an den Dozenten.

Unter Ausdrücken lebhafter Befriedigung über die Aussicht, Falk sprechen zu hören, nahmen die Gäste jetzt Abschied. Man hatte allgemein gehört, daß er ein ausgezeichneter Redner sein solle, und nebenbei war eine kleine Abwechslung in dem einförmigen Badeleben sehr willkommen.

Nur Falk zögerte noch etwas mit dem Weggehen. Sein Gewissen war nicht ganz ruhig in Bezug auf Anna. Als er sie so traumversunken sitzen sah, kam ihm der etwas beunruhigende Gedanke, sie möchte seine Courmacherei ernster genommen haben als er selbst. Er wollte deshalb nicht fortgehen, ohne ihr Gelegenheit gegeben zu haben, ihm noch heute ein Wort allein zu sagen, wenn sie es wollte.

Er setzte sich in der Veranda ihr gerade gegenüber.

»Nun?« sagte sie. Das war ihre gewöhnliche Art, ihn in eine Unterhaltung zu ziehen. Er wartete. Nach einem Weilchen fuhr sie fort:

»Sind Sie nun wirklich verliebt?« Dabei lächelte sie etwas erkünstelt.

»In wen?« fragte er. »Meinen Sie Nelly Nerman oder Evelina Suhr?«

»Oder die, deren Namen zu nennen Sie absichtlich vermeiden,« fiel sie mit ebenso erzwungenem Lächeln ein.

»Fräulein Rosenhane! Ich glaube, das wäre die letzte, in die ich mich verlieben könnte.«

»Wirklich!« Es war, als ob sich Annas strenges Gesicht etwas veränderte und ein Lichtschimmer aus ihren ernsten schwarzen Augen hervorbräche. »Das finde ich merkwürdig. Sie, die doch alles hat, alle möglichen Eigenschaften, Gaben, Talente – alles, was –«

»Alles, was Bewunderung, aber nichts, was Liebe erwecken kann,« fiel er ihr in das Wort.

Das war es ja, was sie selbst gedacht hatte. Sie wurde so siegesgewiß, daß sie zu sagen wagte:

»Und denken Sie, ich hatte im ersten Augenblick, als ich Sie beide zusammen sah, das ganz bestimmte Gefühl, Sie würden sich in einander verlieben. Ich fand, daß Sie ein so passendes Paar sein würden.«

Es war Annas gewöhnliche Taktik, einen Mann, der anfing, sich in sie zu verlieben, wegen jeder Dame, die ihm in den Weg kam, anzureden. Aber diesmal bedrückte der Gedanke wirklich ihr Herz.

Falk brach in helles Lachen aus.

»Nein, wissen Sie was, Frau Krabbe, ein Menschenkenner scheinen Sie nicht zu sein. Ich wüßte kaum jemand auf der Welt, der weniger für mich paßte, als gerade Fräulein Rosenhane. Ich gebe gerne zu, daß sie etwas sehr Einnehmendes in ihrem Wesen hat; ich bin überzeugt, daß ihr schon viele Männer zu Füßen gelegen haben; aber für den, der das schönste in einem Liebesverhältnis nicht darin sieht, daß der Mann zu den Füßen der Frau liegt und sie vergöttert, sondern darin, daß seine Liebe ihr das gibt, was ihr Herz befriedigt, für den kann es nichts Verlockendes haben, eine Frau zu lieben, die etwas so Selbstgewisses und Ueberlegenes hat, die so völlig auf sich selbst beruht und einen solchen inneren Reichtum in ihrer Phantasie besitzt, daß sie nicht das Bedürfnis empfindet, von einem andern etwas zu empfangen. Dieser Künstlerin seine Liebe zu schenken, das würde nur so viel bedeuten, wie einen neuen Luxusgegenstand ihr darzubieten zu all den vielen, die sie schon besitzt, und die ihr, wie sie selbst sagt, oft so überdrüssig werden, daß sie am liebsten in eine arme Hütte flüchtete und sich dort einbildete, sie wäre so arm wie ein armes Fischermädchen.«

Anna saß eine Weile schweigend da. Dann sagte sie mit leichtem Lächeln: »Es ist sonderbar mit diesen gelehrten Frauen. Ich glaube, sie bringen es nie weit bei den Herren.«

Als sie merkte, daß diese Aeußerung keinen angenehmen Eindruck auf Falk machte, fügte sie rasch hinzu: »Aber glücklich sind sie in jedem Fall; ich wollte, ich hätte Ullas Talente, dann wäre es leichter für mich, das zu thun, was Sie heute abend sagten.«

»Was?« fragte er.

»Ja – ich meine, das, um sich frei zu machen,« erwiderte sie und stand auf.

Er stand ebenfalls auf, um sich zu verabschieden.

»Nein, ich wollte nicht damit sagen, daß Sie gehen sollten,« wandte sie ein. »Aber es wird etwas kühl. Wollen Sie nicht mit hinein kommen?«

»Danke sehr, es ist spät,« sagte er zögernd und sah nach der Uhr. »Sie werden der Ruhe bedürfen.«

»Der Ruhe,« rief sie. »Was ist das für eine Ruhe! Ich kann nicht schlafen. Wollen Sie mir nicht die Zeit vertreiben helfen und etwas Gesellschaft leisten?«

Sie reichte ihm ihre schmale, heiße Hand und er hielt sie einen Augenblick in der seinen. Das Liebesverlangen, was berauschend von ihr ausströmte, hatte heute abend etwas Verlockenderes für ihn als sonst.

Sie – die andere, mit all ihrer stolzen Ueberlegenheit, hatte nicht so viel Leidenschaft in ihrem ganzen Wesen, wie diese hier in jedem Haar ihres Kopfes.

Es war, als ob die kühle Unnahbarkeit der Malerin ihn zu Anna hintrieb, als wollte er sich an ersterer dadurch rächen, daß er ihr zeigte, solche Frauen, wie sie eine war, liebte ein Mann nicht wirklich. Er wußte, daß das ein lächerlicher Gedanke war, wußte, daß es die Malerin völlig gleichgiltig ließ, in wen er sich verliebte, daß sie von ihrer Höhe herab höchstens mit einem gewissen ruhigen Interesse ihre Beobachtungen machen würde, wenn er Anna vor ihren Augen die Cour machte; und doch, er hatte ein Gefühl, wie wenn Ulla ihn beleidigt hätte und als ob der Schmerz, den sie ihm zugefügt, nur durch die völlige Hingabe der andern geheilt werden könnte.

Da aber beging Anna eine Unvorsichtigkeit. Herr Krabbe und sein Geschäftsfreund, die auf der andern Seite des Hauses gesessen und ihre Cigarren fertig geraucht hatten, kamen herauf in die Veranda und Anna flüsterte Falk zu: »Nehmen Sie jetzt Abschied, sonst werden wir sie nicht wieder los, und dieser Mensch martert mich zu Tode. Aber kommen Sie in einer halben Stunde wieder, damit wir noch etwas spazieren gehen können.«

Dieser Vorschlag brachte in Falks Augen das Schiefe und Demütigende des ganzen Verhältnisses, in das er sich einzulassen im Begriffe stand, blitzschnell in die grellste Beleuchtung. Er sollte sich zu heimlichen Zusammenkünften schleichen und Angst haben, von Herrn Krabbe entdeckt zu werden, und Anna wollte ihn in ein Netz von Lügen und Verstellung verstricken! Seine Ehrlichkeit empörte sich dagegen. Nein, jetzt war es Zeit, sich zurück zu ziehen, ehe er eine Thorheit beging.

Er sagte hastig gute Nacht und eilte fort, ging aber noch lange in der Nähe des Kurhauses, wo er wohnte, auf und ab. Er hatte ihr nicht erwidern können, daß er nicht kommen würde, und der Gedanke beunruhigte ihn, daß sie vergeblich auf ihn wartete.



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