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XII.

Seit jener berüchtigten Nacht, in der sich Frau Krabbe das Leben hatte nehmen wollen, war etwas über eine Woche vergangen. Anna schien seitdem vollständig verändert zu sein. Sie verbrachte ihre Tage in Gesellschaft von Frau Möller und zeigte sich nur einmal unter Menschen, als sie mit ihrer neuen Freundin nach dem Marktflecken Utschär zu einer frommen Zusammenkunft ging, das Gesangbuch in der Hand, die Augen niedergeschlagen und das Gesicht mit einem schwarzen Seidengazeschleier verhüllt.

Frau Möller erzählte allen, daß Gott ein großes Wunder an ihr gethan hätte. Ihr Sinnen und Trachten hatte sich von der Welt völlig abgewendet; sie dachte nur noch daran, Verzeihung für ihre Sünden zu erlangen und in der Heiligung fortzuschreiten. Sie hatte sich entschlossen, sich zur Krankenpflegerin, wofür sie ganz besondere Beanlagung zeigte, auszubilden, und wollte sich nach ihrer Rückkehr nach Stockholm zum Eintritt in eine Diakonissenanstalt melden.

Falk ging verschiedenemale an der Krabbeschen Villa vorbei und sah Anna auf der Veranda sitzen und vor sich hinstarren, ohne daß sie ihn zu bemerken schien.

Die dunkle, schlangenartige Gestalt mit den strengen Blicken unter den scharf gezeichneten Augenbrauen – er konnte sie nicht sehen, ohne einen Stich im Herzen zu fühlen. Er konnte die Unruhe nicht los werden, daß ihre Liebe zu ihm aufrichtig gewesen sein möchte und er ihr eine tiefe Herzenswunde geschlagen hätte. Vergebens hatte er gehofft, sie würde mit einem andern anfangen zu kokettiren, was ihm die größte Beruhigung gewesen sein würde. Diese Zurückgezogenheit dagegen, dieser grübelnde Blick beunruhigte und peinigte ihn und machte es ihm unmöglich, die ganze Geschichte zu vergessen, wie er doch so sehr gewünscht hätte.

Anna wußte es recht gut und das war ihre Rache. Obgleich nichts weniger als scharfsinnig, war sie doch äußerst klug, wenn es galt, die sicherste Art heraus zu finden, um die Phantasie eines Mannes zu beschäftigen.

Falk versuchte ein paarmal, sie zu grüßen, aber sie that immer, als ob sie ihn nicht sähe, obgleich sie sein Kommen schon von weitem bemerkte und ihre ganze Stellung auf ihn berechnete.

Eveline Suhr und Nelly Nerman hatten Herrn Krabbe überredet, mit ihnen, dem Dozenten und ein paar Anstandsdamen nach einer Insel zu segeln, die weit draußen im Meer lag und sowohl wegen ihrer schönen, eigentümlich geformten Klippen und der großartigen Brandung, als auch wegen eines Aufsehen erregenden Schiffbruchs, der im Frühjahr dort stattgefunden hatte, berühmt war.

Als Falk hörte, daß Ulla Lust hatte, auch bei der Partie zu sein, schlug er vor, in zwei Booten hinzusegeln und bat, Ulla und Eglantine in seinem fahren zu dürfen. Ettys Augen leuchteten bei diesem Vorschlag auf, verdüsterten sich aber schnell wieder. Ludwig war ja mit – beide konnten sie die Mutter nicht verlassen.

Sie standen in der Nähe von Krabbes Villa, als sie hierüber sprachen. Anna hatte in einer Ecke zusammengekauert gesessen, so daß sie sie nicht gesehen hatten. Jetzt ging sie auf Eglantine zu, legte ihre Hand auf deren Schulter und sagte ihr etwas mit den Lippen, das diese rührend kindlichen Züge von neuem aufleuchten ließ. Etty fiel ihr um den Hals, küßte sie wieder und immer wieder und stieß mit ihrer eintönigen, klagenden Weise hervor: »O, wie gut ist Frau Krabbe – wie gut – wie gut ist sie!«

Anna und Ulla hatten sich seit jenem Auftritt noch nicht wieder gesehen. Ulla näherte sich ihr etwas zögernd, während Falk in gemessener Entfernung stehen blieb.

»Du willst bei meiner Tante bleiben, so lange wir fort sind?« sagte sie. »Das ist sehr freundlich von Dir, und Du verstehst sie so gut.«

»Für mich ist es leicht, den zu verstehen, der leidet,« sagte Anna und warf einen haßerfüllten Blick auf Ulla.

Frau Rosenhane pflegte Anna sehr gern um sich zu haben. Sie war so still, bewegte sich so leicht und leise, war äußerst aufmerksam und hatte ein ungewöhnliches Handgeschick in allem, was sie that.

Als daher Eglantine mit Annas Vorschlag kam, erhielt sie von ihrer Mutter ohne Schwierigkeit die Einwilligung zu der beabsichtigten Fahrt.

Frau Möller, die gehört hatte, daß die Bewohner der Insel halbe Heiden wären, weil sie fast nie in die Kirche kämen, die so weit entfernt auf dem Festland lag, daß ihre Kinder oft drei, vier Jahre alt würden, ehe sie getauft werden konnten, beschloß, einige fromme Schriften dort zu verbreiten und womöglich einen kleinen Vortrag zu halten, deshalb ließ sie sich leicht überreden, als Anstandsdame in dem Boot von Herrn Krabbe mitzufahren. Ulla erklärte, Anstandsdame für sich und Etty sein zu können.

Man bereitete sich auf die Möglichkeit vor, über Nacht wegbleiben zu müssen, weil die Insel sehr weit draußen lag und man besonders günstigen Wind brauchte, um an einem Tage hin und zurückkommen zu können. Es wurden umständliche Vorbereitungen getroffen, Eßvorräte für wenigstens acht Tage eingepackt und Decken, Reisetaschen und Tücher ins Unendliche mitgenommen. Falk wies alle Körbe von anderen zurück. Er wollte selbst Wirt sein und Ulla und Eglantine zeigen, wie gut er verstände, an Bord seines Bootes in der kleinen Küche selbst eine schmackhafte Mahlzeit zu bereiten. Er war so stolz auf sein Boot wie eine Mutter auf ihr Kind, und es machte ihm die größte Freude, dessen Vollkommenheit zeigen zu können. So besorgte er seine Ausrüstung unabhängig von der übrigen Gesellschaft und erklärte sie trotz ihres geringeren Umfanges für vollständiger und zweckmäßiger als die der anderen.

Von den Damen in Krabbes Boot hatte jede einen Eßkorb mitgenommen, und doch hatte bald die eine, bald die andere irgend etwas vergessen, wie sich in der letzten Minute herausstellte. Falk hatte alles allein gepackt und sah nun mit äußerst selbstzufriedenem Lächeln dem Wirrwarr im andern Boote zu.

»Dort herrscht das Prinzip der Selbstregierung,« sagte er munter, »bei mir dagegen Absolutismus.«

»Ich denke, Sie sind ein Gegner des Absolutismus,« erwiderte ihm Ulla.

»Nur nicht – in meinem Boot. Das ist das einzige Reich in der Welt, wo ich das Prinzip des Absolutismus völlig durchgeführt sehen will.«

Es war verabredet worden, um neun Uhr abzufahren, aber in der letzten Minute entstanden allerlei Bedenken, ob man wirklich heute wagen sollte, sich hinaus zu begeben, da das Wetter ziemlich unsicher und unruhig und fast zu windig für eine Vergnügungsfahrt schien. Auf der andern Seite freilich war es diesen Sommer fast immer so, und überdies der Gedanke, nun zu Hause zu bleiben, nachdem man alle Vorbereitungen getroffen hatte, ziemlich langweilig. Eigentlich waren es der Dozent, Fräulein Suhr und Frau Möller, die ihre Bedenken hatten. Letztere fand, daß es Gott versuchen hieße, bei so gefährlichem Wetter eine Vergnügungstour zu unternehmen, und der Dozent und Eveline stimmten bei. Nelly, die Utschär in wenigen Tagen verlassen mußte und deshalb eine letzte Gelegenheit in dieser Fahrt sah, mit dem Dozenten noch einmal ordentlich zusammen sein und Vorteil aus dem interessanten Gedankenaustausch mit ihm ziehen zu können, bestand darauf, daß die Fahrt unternommen würde, und Eglantine erklärte mit dem Mut eines unerfahrenen Kindes, daß sie sich nichts mehr wünschte, als ein kleines Abenteuer zu erleben. Ulla war auch für die Partie. So lange sie am Land war, fürchtete sie sich nie vor der See – und da beide Bootsführer, Krabbe und Falk, die sich gerade auf eine frische Tour und Gelegenheit freuten, die Segelstärke ihrer Boote zu zeigen, unbedingt für die Fahrt stimmten, wurde sie schließlich unternommen.

Bei der Abfahrt waren viele Badegäste an der Landungsbrücke versammelt, und man trug den Abreisenden scherzende Grüße an den Neck und seine Töchter auf, und sie möchten sich ordentlich umsehen in den Diamanthallen der Meerestiefe, damit sie sie mit der Anschaulichkeit eines Augenzeugen dann beschreiben könnten.

Während auf beiden Booten »Herr Kapitän, die Maschine in Gang gesetzt!« angestimmt wurde, glitten sie endlich aus dem Hafen hinaus, unterdessen die an der Landungsbrücke Versammelten eifrig mit den Taschentüchern winkten. Die Segel blähten sich rasch, die Boote wurden auf die Seite geworfen, und fort eilten sie mit einer solchen Geschwindigkeit, daß sie bald aus dem Gesichtskreis der Zurückbleibenden verschwunden waren.

Eglantine hatte aufrecht gestanden und mit ihrem Taschentuche gewinkt, so lange nur noch ein Schimmer von der Brücke zu sehen war; sie jubelte laut und lachte und schwenkte das Tuch so heftig, daß sie fast das Gleichgewicht verlor, und Ulla ihren Arm um ihre Taille legen mußte, um sie zu stützen, sie aber trotzdem nicht bewegen konnte, sich hinzusetzen.

Plötzlich wurde sie sonderbar bleich, sank auf die Bank nieder und lehnte ihren Kopf an Ullas Schulter.

»Ach, Ulla,« sagte sie mit einem Ausdruck von Angst, »es ist so merkwürdig. Wir kehren nicht alle wieder zurück.«

»Was sagst Du? Was hast Du nun wieder einmal für Phantasien?« sagte Ulla und streichelte sie.

»Ich sah es ganz deutlich – sah uns zurückkehren, aber einer fehlte – ich weiß nicht, wer es war, ich weiß nur, daß wir bloß sieben waren, die wieder nach Hause kamen. Wie viele sind wir jetzt?« fragte sie und schlug die Augen auf.

Unwillkürlich rechnete sowohl Falk wie Ulla die Insassen des andern Bootes her.

»Krabbe, der Dozent, Frau Möller, Fräulein Nerman und Fräulein Suhr – fünf – und wir drei – acht zusammen.«

»Und sieben kommen nur wieder zurück,« rief Eglantine und ihre Stimme klang wie der Schrei des Seevogels, den man oft vor dem Sturm hört.

»Sie hat öfters Ahnungen und Gesichte,« sagte Ulla zu Falk, während sie Eglantine an sich drückte und ihre Stirne streichelte. »Aber das hat nichts zu sagen.«

Eglantine war der Bewegung von Ullas Lippen gefolgt und hatte ihre Worte verstanden.

»Ja, das bedeutet immer etwas. Es kommt nicht immer genau so, wie ich es gesagt habe, aber etwas passirt immer! Es ist ganz sicher, ganz sicher, daß etwas passirt.«

Ulla konnte eine leichte Verstimmung infolge dieser Scene nicht ganz wieder überwinden. Sie hatte schon merkwürdige Geschichten über die Gesichte der Taubstummen gehört, und ihre Phantasie war durch deren plötzliche Leichenblässe, den stieren, angsterfüllten Blick und den eigentümlich klagenden Ton ihrer ungeschulten Stimme aufgeregt worden.

Aber Falk versuchte den Eindruck wegzuscherzen, und Eglantine wurde allmälich ruhiger und erklärte schließlich lachend, daß es vielleicht gar kein Unglück wäre, was einträte, sondern nur ein kleines, lustiges Abenteuer.

Beide Boote fuhren gleichmäßig rasch, bis sie um die Felsenspitze bogen, welche die Meeresbucht von Utschär von der großen Seestraße trennt. Hier merkten sie erst, was Wind heißt, und Herr Krabbe ließ sich von seinen ängstlichen Damen überreden, ein paar Segel einzuziehen.

Ulla fragte Falk, ob er es nicht auch thun wollte.

»Nein, davon kann keine Rede sein,« erwiderte Falk. »Es ist ja das schönste Wetter.«

Aber Falk war im ganzen Skärgarden allgemein als äußerst wagehalsiger Segler bekannt, und vorsichtige Fischer pflegten über seine abenteuerlichen Fahrten die Köpfe zu schütteln.

Er hatte schon auf seinem kleinen Boot die unglaublichsten Reisen gemacht, war aber auch schon mehr als einmal damit umgekippt.

Ulla, die in seinen Augen gern mutig erscheinen wollte, weil sie wußte, daß er kaum etwas mehr verachtete als Feigheit, konnte doch, aufgeregt wie sie durch Eglantines Ahnung war, ein Gefühl von Unbehagen nicht unterdrücken, als sie sah, wie rasch sich ihr Boot von dem andern entfernte, und wie die großen Segel fast das Wasser berührten, wenn ein Windstoß hineinfuhr.

»Fürchten Sie sich?« fragte Falk, als er sie so ängstlich dasitzen und mit den Händen am Schiffsrand sich anhalten sah, wenn sich das Boot auf die andere Seite legte. »Das hatte ich nicht von Ihnen erwartet, Fräulein Rosenhane.«

»Nein, ängstlich bin ich nicht,« sagte sie mit zugeschnürter Kehle. »Ich möchte nur wissen, ob es nicht unvernünftig ist, da doch Herr Krabbe Segel eingezogen hat.«

»Von selbst hätte er das niemals gethan, seine Damen werden ängstlich geworden sein.«

»Wenn aber Ihre Damen ängstlich werden, ziehen Sie da ein?« fragte Ulla lächelnd. »Wenn ich Sie jetzt bäte – ich thue es nicht, ich frage nur, wenn – würden Sie es da nicht thun?«

»Nein,« antwortete er.

»Das muß ich sagen, Sie sind ein schöner Kavalier.«

»Nein, Kavalier bin ich nicht genug. Aber ich thäte so gern alles, worum Sie mich bitten, Fräulein, wenn es nur nichts Ungereimtes ist.«

»Wenn Sie mich leichenblaß vor Angst hier sitzen sähen –«

»Trotzdem nicht,« sagte er. »Da würde ich Sie dahin zu bringen suchen, selbst einzusehen, daß Ihre Angst unvernünftig ist, aber ihr nachgeben – nein. Es ist lächerlich, bei solchem Wetter wie heute mit eingezogenen Segeln zu fahren.«

»Ja, so denken Sie. Aber hat man nicht die Pflicht, auch auf die Wünsche anderer Rücksicht zu nehmen? Denken Sie daran, wie nachgiebig Sie gegen die Launen meiner Tante waren.«

»Ja, weil sie krank ist. Uebrigens glaube ich selbst, daß das die härteste Probe wäre, die meiner Geduld auferlegt werden könnte, wenn ich Ihre Tante an Bord haben und Segel einziehen müßte, um keinen Nervenanfall hervor zu rufen. Können Sie nicht mit fühlen, wie herrlich es ist, zu segeln, wenn es so in die Segel stürmt? Und sehen Sie nicht, wie kläglich sich Krabbes Boot mit dem kleinen Segel, was er aufgezogen hat, vorwärts arbeitet? Es ist ein Unterschied wie zwischen einem Arbeitspferd und einem feurigen Reithengst.«

Ein ungewöhnlich starker Windstoß fuhr jetzt so plötzlich und heftig in die Segel, daß das Boot ganz auf die Seite geworfen wurde und Wasser schöpfte.

»Nein, guter, bester Herr Falk, jetzt bitte ich für mein Leben,« rief Ulla lachend. »Ich kann nicht schwimmen und bin noch nicht die Spur lebensmüde.«

»Ich rette Sie, wenn wir umkippen,« war seine gelassene Antwort. »Ich kann mit Ihnen bequem bis ans Land schwimmen.«

Eglantine wollte wissen, wovon sie sprächen, ein Teil der Unterhaltung war ihr entgangen, weil sie sich weggewendet hatte.

»Wir sprachen davon, wie Herr Falk mit uns beiden an das Land schwimmen würde, wenn wir umschlügen,« sagte Ulla.

»Ich kann mich selbst retten,« erwiderte Eglantine mit der gewöhnlichen Zuversicht auf ihr Können. »Ich kann schwimmen.«

»Du kleine Närrin, wie weit glaubst Du denn, daß Du kommen würdest bei einer Entfernung wie dieser?« bemerkte Ulla und küßte sie auf die Wange.

»Ach, ich glaube ganz bestimmt, daß ich bis an den Strand kommen würde,« wiederholte sie und maß mit naivem Selbstvertrauen die Entfernung mit den Augen.

»Nein, Fräulein, Sie sind wirklich köstlich,« sagte Falk lachend. »Alles erscheint Ihnen wunderbar einfach und leicht. Es muß geradezu herrlich sein, ein solches Auge für die Perspektive zu haben.«

»Ich bin stark, wenn es auch niemand glauben will,« fiel sie ihm in das Wort und sah auf ihre schmalen, gallertartigen Handgelenke, »und fürchte mich vor nichts.«

Der Wind wurde kälter und Ulla wickelte sich in einen großen Lamashawl ein, aber vergebens versuchte sie, Etty dazu zu bringen, etwas umzuthun.

»Ich friere nicht, ich friere nie,« sagte diese.

Ihr einziges Kleid, das hellgraue Barègekleid, bekam Flecke vom Salzwasser. Es machte ihr aber nichts aus, wie sie versicherte; die ließen sich ganz leicht auswaschen; das Zeug war gar nicht empfindlich.

Es ging dem Kleid wie ihr selbst; es sah zart aus, hatte aber eine unzerstörbare Widerstandskraft. Dieses kleine, zarte, in einem Krankenzimmer aufgewachsene Wesen konnte ohne Beschwerde Nahrung, Ruhe und Wärme entbehren, wenn es sein mußte. Mehrere Nächte hinter einander zu wachen, auf der Diele zu schlafen, mitten im Winter im bloßen Kleide heraus zu laufen, war für sie nichts. Trotz ihres schwachen Körpers, ohne einen einzigen Tag wirklicher Gesundheit gehabt zu haben, erkältete sie sich doch nie und wußte nie, was Müdigkeit war. Ihr Seelenleben war so stark und intensiv, daß es ihr über alle Schwierigkeiten hinweghalf. So wie ihre Augen den erlahmten Gehörsnerv ersetzten, ebenso wurde die fehlende physische Kraft durch ihr um so viel stärkeres Gefühls- und Phantasieleben ausgeglichen.

Sie sah auf alle, welche nicht denselben hohen Standpunkt erreicht hatten und denen es nicht geglückt war, sich von der Herrschaft des Körpers so frei wie sie zu machen, mit einem gewissen liebevollen, weisen Mitleiden herab. Es fiel ihr nicht ein, deshalb selbstgefällig zu sein, daß sie in dieser Richtung hoch über allen anderen stand, denn das war ja nur eine Gabe, die sie von Gott empfangen hatte, nicht ihr eigenes Verdienst, und alle die anderen würden in ihrer Entwicklung schon auch dahin kommen, entweder in dieser oder in einer andern Welt.

Nach dreistündigem Segeln bei günstigem, aber immer stärker werdendem Wind erreichte Falks Boot das Ziel der Fahrt, die eigentümliche Felseninsel am Ende der Skären.

Während sie auf das andere Boot warteten, was ungefähr eine halbe Stunde später ankam, orientirten sie sich etwas über die Verhältnisse des kleinen Fischerdorfes, wo sie gelandet waren. Etwa acht oder neun elende Hütten lagen da und schienen sich an die Klippen, wo es nur einigermaßen ging, förmlich angeklammert zu haben, das Ganze ungeregelt, ärmlich und malerisch. Ein paar Frauen und Kinder kamen heraus und nahmen die Fremden in Augenschein.

»Gibt es hier keine Männer?« fragte Falk und schwang einen Jungen zu dessen großem Entzücken und zum Neid der anderen auf seine Schultern.

»Nein, es ist keiner weiter zu Hause als der alte Vater,« sagte ein zwölfjähriges, flachshaariges Mädchen und sah mit breitem Grinsen den gymnastischen Uebungen ihres kleinen Bruders zu.

»Wo sind denn alle Männer?« fragte Ulla.

»Draußen auf dem Fischfang natürlich,« antwortete das Mädchen, erstaunt über die dumme Frage.

»So! Können acht Fremde wohl hier ein Unterkommen für die Nacht finden, wenn es nötig sein sollte?« fuhr Ulla fort.

»Ach ja, beim alten Vater ist es so groß und fein, daß es dort schon gehen wird.«

Sie wollten eben hingehen, um die Hütte des alten Vaters in Augenschein zu nehmen, als sie das zweite Boot ankommen sahen, und deshalb hinunter an die Brücke eilten, um es zu empfangen.

Die anderen waren offenbar auf Falk etwas ärgerlich, weil er vorausgesegelt war, und begrüßten ihn mit allerlei Sticheleien.

»Das war ja wirklich recht gesellig!«

»War es angenehm, naß zu werden? Wir sind freilich trocken geblieben.«

»Wie tüchtig Ihre Damen sein müssen, Herr Falk, denn diese waren es natürlich, die darauf bestanden, nicht unserem Beispiel zu folgen und kein Segel einzuziehen,« und so weiter.

Aber alle Hiebe prallten an Falks guter Laune ab.

»Wir tanzten und Sie trampelten,« sagte er, »das war der ganze Unterschied. Aber wissen Sie, es ist viel graziöser, zu tanzen als zu trampeln. Nun wollen wir hinaus und schwimmen, was, Krabbe?«

»Ja, während die Damen das Essen zurecht machen. Man wird verteufelt hungrig auf der See,« sagte Krabbe.

»Nein, warum sollen wir den Damen alle Mühe überlassen,« wandte Falk ein. »Die Damen finden wohl auch eine Stelle, wo sie baden können – und dann helfen wir alle zusammen bei der Mahlzeit.«

»Herr Falk hat Angst, wir könnten Unordnung in seine Vorräte bringen,« sagte Ulla. »Ich schlage deshalb vor, wir rühren sie nicht an, so lange er nicht dabei ist. Lieber sind wir erst Ihre Gäste,« wandte sie sich an die Gesellschaft von Herrn Krabbes Boot, »und darnach laden wir Sie in unser Boot ein.«

»Ja, das ist recht,« rief Falk. »Den Abend oder spätestens morgen früh sind wir Wirte. Ich behalte mir nur vor, Koch und Küchenmeister zu sein. Kommen Sie mit?« fragte er den Dozenten.

»Ja, wenn ich wüßte, daß die Wellen draußen nicht gar zu hoch gingen,« sagte der Dozent zögernd.

»Aber das ist ja gerade schön,« rief Falk.

»Ja, ja, wir können ja sehen, wie es ist,« gab der Dozent zu, und alle drei kletterten über die Felsenspitzen, die sie noch vom offenen Meere trennten.



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