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XIII.

Die Damen servirten das mitgebrachte Mittagessen auf der kleinen Wiese eines zwischen Felsen liegenden Grundes. Dann machten sie ein Feuer von dürrem Reisig, um die fertige Kartoffelgrütze zu wärmen. Alle waren hungrig und blaß nach der langen, stark schaukelnden Fahrt – alle, außer Etty, die Blumen pflückte und Beeren suchte, während sich die anderen mit Butterbroten und Porter stärkten und auf das Kochen der Kartoffeln und die Rückkehr der Herren warteten.

Die Stimmung war im ganzen etwas matt und schläfrig und man fing an, ungeduldig über das lange Ausbleiben der Herren zu werden.

Endlich erschien der Dozent. Er erzählte, daß draußen starker Sturm wäre und er das Schwimmen deshalb aufgegeben hätte.

»Und die anderen?« fragte Ulla.

»Ja, Herr Krabbe fand auch, daß es viel zu stürmisch wäre, so daß er in die Bucht ging. Aber Falk stürzte sich natürlich direkt von den Klippen in das Meer und schwamm so recht den Wogen entgegen.«

»Natürlich,« rief Nelly unwillig. »Ich kann nicht begreifen, wie ein Mensch für diese Art Uebermut Sympathie haben kann. Und an solchem Tage mit vollen Segeln zu fahren! Herr Krabbe fand es sehr gewagt und unvernünftig – und er ist kein Feigling –; er sagte zwar, wenn er allein gewesen wäre, würde er es ebenso gemacht haben, aber in Gesellschaft von Damen hätte man, seiner Ansicht nach, nicht das Recht dazu. Wir wurden aber auch nicht einmal feucht, während ihr Boot beständig Wasser schöpfte. So viel Rücksicht kann man wirklich von einem Herrn fordern, der mit Damen segelt, daß er sie nicht der Befriedigung der Eitelkeit, zuerst anzukommen, opfert und deshalb jeder Gefahr trotzt.«

»Baten Sie ihn nicht, Segel einzuziehen?« fragte Eveline Ulla.

»Ja, das heißt, ich schlug es vor.«

»Und er schlug es ab? Schöne Ritterlichkeit,« fiel Nelly ein. »Ebenso glaube ich, daß er auch, wenn wir alle zusammen ihn gebeten hätten, jetzt nicht hinaus auf das offene Meer zu schwimmen, es doch gethan haben würde. – Glauben Sie nicht?« fragte sie Ulla.

»Ja, das glaube ich fast, und doch ist er nichts weniger als selbstsüchtig, davon habe ich viele Beweise.«

»Aber unerhört trotzig und übermütig. Es gibt nichts auf der Welt, was ihn umstimmen könnte, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat,« sagte Nelly.

»So muß ein Mann sein,« sagte Eveline.

»Nein, weißt Du, diese altmodische Männlichkeit zu bewundern, darüber sind wir doch hinausgewachsen,« rief Nelly, während ihr die Worte vor Aerger fast im Halse stecken blieben. »Wie kann man von so etwas geradezu Aufreizendem hören, einem solchen Eigensinn, solcher Rücksichtslosigkeit gegen andere und dann hintreten und sagen: ›So muß ein Mann sein!‹«

»Trotzdem verstehe ich es,« sagte Ulla, »daß man sich von der Aengstlichkeit anderer nicht abhalten läßt, wenn man einen Sport liebt und im allgemeinen an kühne und waghalsige Unternehmungen gewöhnt ist. Man glaubt nicht an die Gefahr und hält die anderen für albern und dumm. Ich für meinen Teil würde ebenso wenig auf den Gedanken kommen, Falk vom Schwimmen abhalten zu wollen, wenn er es sich einmal vorgenommen hätte, wie ich nicht seinem Wunsche willfahren würde, wenn er mich bäte, das Malen lieber sein zu lassen, weil die giftigen Farben meiner Gesundheit schaden könnten. Jeden seiner Natur folgen lassen – das bleibt doch das Beste. Und ich muß sagen, daß ich physischen Mut entschieden anziehend finde.«

»Es beweist nur, auf welcher tiefen Stufe der Zivilisation wir noch immer stehen,« fiel Nelly ein, »wenn wir eine solche Bewunderung für den physischen Mut haben. Moralischer Mut, das ist etwas anderes, und doch erweckt der selten Bewunderung. Dieser rohe physische Mut aber, der nur auf starken Nerven beruht – nicht wahr, Herr Dozent?«

»Ja, ich stimme vollständig in jeder Beziehung mit Fräulein Nerman überein,« sagte der Dozent in einem Ton, dem man seine Freude anhörte, einmal vollkommen einer Meinung mit jemand sein zu können, ohne die Kehrseite der Sache sehen zu müssen. »Mir scheint es doch, daß in unserer Zeit das Vernünftige und Zweckmäßige höher geschätzt werden sollte als dieser instinktive Trotz, der sogenannte Mut.«

»Ach, Vernunft, Vernunft!« rief Ulla in offenbar streitlustiger und nervös aufgeregter Stimmung. »Ich kümmere mich mehr um das, was schön, als um das, was vernünftig ist. Ich weiß zum Beispiel keinen vernünftigen Grund, warum ich eine schöne Gestalt bewundere. Fräulein Nerman würde sagen, es ist kein moralisches Verdienst, eine schöne Gestalt zu haben; das hindert mich aber nicht, eine solche vielen sogenannten moralischen Eigenschaften vorzuziehen. Ebenso weiß ich nicht, warum ich nicht physischen Mut bewundern sollte, besonders wenn er sich in einer Richtung bethätigt, die der Menschheit nichts schadet.«

Nelly sah den Dozenten an, in der Hoffnung, er würde antworten. Sie fühlte, daß Ullas Auslassung einen ziemlich tief stehenden Standpunkt und ein wenig entwickeltes Denkvermögen verriet, aber sie fand nicht gleich die richtigen Worte, ihre Sophismen zu widerlegen. Der Dozent ergriff das Wort und begann: »Es ist allerdings wahr, daß auf der einen Seite –«

Aber weiter kam er nicht, denn Herr Krabbe erschien jetzt auf der Felsenhöhe und Ulla eilte lebhaft auf ihn zu.

»Wo ist Falk?« fragte sie.

»Weiß der Teufel,« antwortete Krabbe. »Er ist ein solcher Galgenvogel, daß man wirklich böse werden kann. Ich badete an einer andern Stelle als er, und wie ich wieder hin an die Klippen komme, von wo er sich hinabgestürzt hat, sehe ich keine Spur mehr von ihm, aber seine Sachen lagen noch da. Als ich ihn zuletzt sah, unmittelbar, ehe ich selbst anfing zu schwimmen, war er schon in des Teufels Gewalt weit draußen auf offenem Meere.«

»Aber da muß man doch ausgehen, um ihn zu suchen,« rief Ulla angstvoll, während sie vor innerer Aufregung zu zittern anfing.

»Ach, das ist nicht nötig – es wird sich schon aufklären. Auf eine solche Verrücktheit –«

»Aber er kann ja einen Krampfanfall bekommen haben.«

»Ja, das versteht sich, aber dann handelt es sich auch nur um einen Augenblick.«

»Aber wie können Sie so da stehen und so sprechen?« sagte Ulla außer sich. »Nimm ein Boot, Ludwig!« rief sie dem Dozenten zu. »Eile Dich – komm – ihr müßt augenblicklich mit einem Boot hinaus –«

Etty hatte blitzschnell begriffen, um was es sich handelte. Alle wandten sich nach der Bootsbrücke und während Krabbe und der Dozent mit einem Boote abstießen, sprang Etty mit hinein. Krabbe wollte es verhindern und faßte sie um die Taille, um sie auf die Brücke hinauf zu heben, aber sie widersetzte sich.

»Ich kann steuern,« sagte sie. »Und niemand sieht ihn so leicht wie ich. Ich fühle es, wo er ist.«

»Lassen Sie sie mit, sie hat wirklich ein merkwürdiges Ahnungsvermögen,« versicherte der Dozent. »Und niemand hat bessere Augen wie sie.«

Sie ruderten nun in der Richtung, wo Krabbe ihn hatte schwimmen sehen. Die Wogen vor ihnen schäumten auf und der Dozent war kein starker Ruderer, deshalb arbeiteten sie sich nur langsam vorwärts. Etty saß in vollkommener Ruhe und Selbstbeherrschung am Steuer, aber alles Leben schien sich in ihren Augen konzentrirt zu haben, die weit geöffnet über die große, unbegrenzte Wasserfläche starrten, welche sich vor ihnen ausbreitete, ohne daß man auch nur den Schimmer eines Felsens hätte sehen können.

Das Boot fing an, nach den Klippen an der rechten Seite hinzutreiben; die Kräfte des Dozenten vermochten es nicht gegen Strom und Wellen vorwärts zu bringen.

»So rudern Sie doch, zum Teufel!« schrie Krabbe, der nun wirklich aufgeregt war und jeden Augenblick dachte, die Leiche auftauchen zu sehen.

»Halt!« rief Etty gleichzeitig.

»Was sagt sie?« fragte Krabbe, der sie nie verstand.

»Sie sagt, wir sollen warten. – Siehst Du etwas?« fragte sie der Docent mit den Lippen.

Sie streckte den Arm mit einer triumphirenden Geberde nach dem Felsenstrand aus, wohin sie getrieben wurden und rief: »Halt, dorthin!«

Die zurückgebliebenen Damen hatten inzwischen die Klippen erklettert, von wo aus Falk in das Wasser gesprungen war, und blickten spähend über die weite Wasserfläche, während sie sich in dem starken Wind an einander festhalten mußten. Der ganze weite Horizont, Himmel und Meer verschmolzen in einander in grauen, düstern Farben; nur die Wellen in der Nähe des Landes brachen sich grün und klar an dem Klippengewirr.

Während der unaufhörlichen Ausrufe, Klagen und Thränen der anderen Damen saß Ulla ein Stück entfernt, kalt und steif, das Kinn in die Hände, die Ellenbogen auf die Kniee gestützt. Sie sah nicht nach der See hinaus, sie war in Gedanken versunken. Sie war überzeugt, daß er tot wäre, daß Ettys Ahnung, nur sieben würden zurückkehren, in schrecklicher Weise in Erfüllung gehen sollte. Sie sah ihn schon im Geist als Leiche unten auf dem schmalen Landstreifen ausgestreckt liegen, die schöne, harmonisch entwickelte Gestalt, an der sich ihr Auge so oft erfreut hatte.

Nein, wie sinnlos, empörend, planlos! Warum mußte sie mit einem Manne zusammentreffen, der gerade ihr so unendlich viel hätte werden können, der erste Mann, der ihr nicht bloß Sympathie, sondern wirkliche Bewunderung eingeflößt hatte, der einzige, den sie hätte lieben können – bloß um ihn auf so grausame, so launenhaft zufällige Art wieder zu verlieren.

Würde sie ihn wirklich haben lieben können? So lieben, daß sie um seinetwillen ihre Freiheit hätte aufgeben, ihre ganze Zukunft an die seine hätte fesseln mögen? Ihm das Recht einräumen, nach ihren heimlichsten Gedanken zu forschen, und ihr ganzes Seelenleben mit ihr teilen zu wollen? Nein, diese innere Unfreiheit, welche die Liebe nach sich zieht, hatte sie immer gefürchtet.

Und außerdem – ihr Künstlerleben aufgeben, um mit ihm unter norwegischen Bauern zu leben!

Nein – sie hatte sich längst gesagt, daß das unmöglich wäre.

Jetzt wurde ihr klar, daß sie doch im stande wäre, alle diese Opfer zu bringen, ja alle, wenn sie nur sein Leben damit zurückkaufen könnte. Alles das, was ihr bis jetzt ihr heiligstes Heiligtum gewesen war, ihre Freiheit sowohl wie ihre Kunst, ihre Person ebenso wie ihre Phantasie, ihre Gedanken und Träume – alles würde sie hingeben ohne Bedingung, ohne Vorbehalt, ihm geben, welchen Tag und welche Stunde er wollte, ohne äußere Legalisation, ohne Garantien, auf die Gefahr ihres Ansehens, ihrer Zukunft hin, alles.

Sie wurde aus ihren Träumen durch die Rufe der anderen Damen geweckt. Erschrocken fuhr sie in die Höhe und sah sie mit entsetztem Ausdruck an, während sie am ganzen Körper zitterte. »Was ist denn – was ist denn?« stieß sie mühsam hervor und riß die Augen mit größter Anstrengung auf, um etwas durch den sonderbaren Nebel, der sie plötzlich umgab, erkennen zu können.

»Sie sehen ihn gewiß,« riefen mehrere der Umstehenden. Die ganze Bevölkerung des kleinen Fischerdorfes hatte sich auf den Klippen versammelt und aller Blicke strengten sich auf das äußerste an, um zu entdecken, was es gab. Sie sahen aber nur, daß das Boot stille hielt und daß sich alle drei Insassen herausbogen, wie um etwas emporzuziehen. War es seine Leiche, die in die Höhe kam?

Der Nebel vor Ullas Augen wurde dichter. Sie konnte nichts mehr unterscheiden, ihr Atem stockte und sie hatte ein unbestimmtes Gefühl von physischen Schmerzen; die Gedanken waren formlos und verwirrt.

»Es war nur ein Ruder,« hörte sie die Umstehenden ausrufen. Noch ehe sie das völlig begriffen hatte, hörte sie sagen, daß einer der Herren mit dem Taschentuche winkte.

Unruhige Zweifel entstanden nun unter den Zuschauenden; sollte es heißen, daß ein anderes Boot kommen möchte, daß sie Hilfe brauchten? Oder war es ein Zeichen, daß sie ihn im Wasser entdeckt hatten, daß er noch lebte und sie ihn zu sich heranwinkten.

Nein, es wurde mit solcher Energie gewinkt, es lag etwas so Jubelndes darin, daß offenbar den Zuschauenden damit gesagt werden sollte, er wäre gerettet.

Nach allerlei Ausrufungen der Freude und gegenseitigen Umarmungen wandten sich die übrigen Damen zu Ulla, die sich, ohne ein Wort zu sagen, auf den Felsen niedergesetzt hatte. Ein physisches Unwohlsein hatte sie überfallen, sie war leichenblaß und kalt und hatte ein so plötzliches, heftiges Kopfweh bekommen, als ob sie der Schlag gerührt hätte; dabei sauste und flimmerte es ihr vor Ohren und Augen.

»Müssen wir nicht Gott danken, daß er gerettet ist?« sagte Frau Möller und drückte Ullas Hände.

»Ja, jetzt können wir wirklich froh sein,« sagte Eveline. »Und Fräulein Rosenhane sieht gerade angstvoller denn je aus.«

»Ich kann nicht – es war zu fürchterlich,« schluchzte Ulla auf. Frau Möller drückte liebevoll ihren Kopf an ihre Brust und Ulla überließ sich ein paar Augenblicke dem heftigsten Weinen.

»Merkwürdig,« sagte Nelly halblaut zu Eveline. »So lange die Gefahr am höchsten schien, war sie scheinbar ruhig; nun, wo wir alle froh und glücklich sind –«

»Wie kann man unmittelbar nach so etwas froh und glücklich sein?« fiel Ulla mit von Schluchzen erstickter Stimme ein. »Es war doch, als ob der Tod seinen Schatten über die ganze Natur geworfen hätte.«

Sie versuchte aber doch, ihre Aufregung zu bemeistern, als sie die trockene Verwunderung der anderen bemerkte, strich sich mit dem Taschentuch über die Augen, schob den Hut tief in das Gesicht herein, um ihr verweintes Aussehen möglichst zu verbergen, und stand auf.

»Es kam auch mit von dem merkwürdigen Nebel,« sagte sie wie entschuldigend, »der legte sich einem so auf die Brust.«

»Nebel!« wiederholten mehrere verwunderte Stimmen.

»Ach so, nein, Nebel war es nicht, versteht sich,« sagte sie immer verlegener und von dem Gedanken gepeinigt, daß alle diese Menschen das teuerste Geheimnis ihres Herzens durchschauten. »Es war nur Einbildung von mir. Aber ich habe so starke Kopfschmerzen bekommen.«

»Ich bin sehr böse auf Falk,« sagte Nelly, als sie wieder zu dem kalt gewordenen Kartoffelmus kamen und das verlöschende Feuer neu anfachten. »Wir müssen ihn ganz gehörig ausschelten, wenn er kommt. Bedenken Sie doch den Leichtsinn, sein Leben so zu riskiren, wo er doch die Verantwortung für uns alle hatte. Wenn er nun ertrunken wäre, wie hätten wir dann alle zusammen in Herrn Krabbes kleinem Boot zurückkommen sollen?«

Eveline aber beschäftigte jetzt etwas anderes und sie teilte es Frau Möller flüsternd mit.

»Ich begreife nicht, wie Fräulein Eglantine so gedankenlos sein konnte, mit im Boot hinaus zu fahren,« sagte sie. »Die arme Kleine hat doch keinen Begriff von dem, was sich schickt. Ihre Cousine hätte es nicht zugeben dürfen, finde ich.«

»Ich dachte gleich daran,« sagte Frau Möller, »und warf deshalb meinen großen Shawl in das Boot, als sie eben abstießen. Den können sie um ihn schlagen, wenn sie ihn herausziehen.«

»Ja, aber doch auf jeden Fall –«

Jetzt erschien Etty auf dem nach dem See abfallenden Hügel. Sie sprang mit ausgestreckten Armen auf Ulla zu.

Ulla eilte ihr entgegen und sie fielen einander in die Arme.

»Er ist gerettet – er kommt gleich – er zieht sich nur noch an,« stammelte sie in abgerissenen Lauten hervor. »Denke, wie wunderbar! Meiner Ahnung haben wir es zu verdanken. Ich fühlte die ganze Zeit, daß ihm eine Gefahr drohte, deshalb wußte ich auch gleich, was ich zu thun hatte. Ich bin es, die ihn gerettet hat.«

»Liebe, liebe Etty! Wie war es? Erzähle!«

Eglantine wies mit der Hand auf den Dozenten, der jetzt ebenfalls herankam.

»Es war wirklich schauerlich,« sagte er. »Die Strömung trieb ihn der gefährlichsten Brandung zu. Er war schon ein paarmal auf Felsenriffe aufgeschlagen und übel zugerichtet, als wir, oder richtiger gesagt, Etty ihn entdeckte. An den Felsen in die Höhe zu kommen, war keine Möglichkeit und seine Kräfte reichten nicht mehr aus, gegen den Strom zu schwimmen.«

»Und da nahmen Sie ihn in das Boot auf?« fragte Eveline, noch immer um Ettys Schamhaftigkeit besorgt.

»Nein, es war unmöglich, ihn dazu zu bewegen. Er rief uns zu, es hätte keine Gefahr mit ihm und wir sollten ruhig unserer Wege fahren – er würde schon an das Land kommen. Aber wir verhandelten trotzdem so lange mit ihm weiter, bis wir nahe daran waren, mit unserm Boot an den Riffen zu kentern und unser aller Leben auf das Spiel zu setzen. Da ging er endlich darauf ein, sich an einem Seil, das wir ihm zuwarfen, festzuhalten und hinter unserem Boot her zu schwimmen, bis wir um die Inselspitze herumkamen, wo es geschützter war und seine Kleider lagen. Da rief er uns zu, nach Hause zu fahren und die Mahlzeit zu wärmen, er würde bald nachkommen.«

»Am Land habt ihr ihn aber noch nicht gesehen, als ihr ihn verließt?« fragte Ulla.

»Ja, er erreichte einen kleinen Flecken am Fuße des Felsens,« sagte der Dozent. »Das sahen wir aus der Entfernung – Ettys wegen wollten wir nicht länger in der Nähe warten. Es wird nur für ihn noch das Schlimmste werden, über die Klippen zu klettern, denn er hat sich das Bein ganz gewiß ziemlich stark verletzt. Aber Herr Krabbe ist hin, um ihm zu helfen.«

In diesem Augenblick kam Krabbe, wie es schien, allein.

Ohne nur eine einzige Frage abzuwarten, fing er augenblicklich an, alle, die etwa gemacht werden konnten, zu beantworten.

»Der Teufel mag ihn holen,« sagte er voller Aerger. »Will er die Hilfe, die man ihm freundlich anbietet, nicht annehmen, so mag er bleiben, wo er ist. Ja, gewiß ist er noch unten am Strand. Ja, er kleidet sich an – ja, weiß der T–l, er hat sich verletzt, aber er will es nicht Wort haben – aber meiner Treu, jetzt lasse ich die Suppe nicht länger stehen und kalt werden; nun mag er kommen, wann er will.«

»Das finde ich auch,« sagte Nelly. »Herr Krabbe und der Herr Dozent müssen wirklich nach den Anstrengungen sich stärken.«

Man hatte angefangen zu essen, als Falk auf der Höhe der Felsen erschien, die auf der einen Seite hinab in das Meer, auf der andern in die kleine Thalschlucht abfielen, wo sich die Gesellschaft niedergelassen hatte. Er schien nicht ohne Schwierigkeit zu gehen, blieb oft stehen und faßte mit der Hand nach dem Bein.

Ulla kletterte den Berg hinauf ihm entgegen.

»Stützen Sie sich auf mich!« sagte sie kurz in aufgeregtem Ton.

»Danke sehr, Fräulein, weshalb? Ich kann sehr gut allein gehen.«

Er richtete sich hoch auf und ging einige Schritte, ohne auszuruhen.

»Wozu soll das nützen, so auf Ihre Kraft zu trotzen? Ich sehe ja, wie bleich Sie aussehen – Sie sehen sich selbst nicht mehr ähnlich – Sie sind krank. Sie sind in Lebensgefahr gewesen und Sie haben –«

»Bitte um Verzeihung, Fräulein Rosenhane,« sagte er mit einer gewissen nervösen Gereiztheit. »Wenn ich Hilfe brauche, werde ich es schon sagen. Es fehlt mir nichts und ich muß Sie wirklich bitten, wegen einer solchen Lumperei nicht so viel Aufhebens zu machen.«

Er ging jetzt mit raschen Schritten weiter und als sie an eine Felsenspalte kamen, über die sie springen mußten, wollte er sogar Ulla die Hand geben, um ihr hinüber zu helfen.

»Nein, das geht zu weit,« sagte sie halb scherzend, aber doch wirklich betrübt über seine abweisende Art. »Wollen Sie mich nicht lieber tragen, um zu zeigen, daß Ihnen nichts fehlt?«

»Aber ich versichere Ihnen, es fehlt mir nicht das geringste,« rief er aus.

Als er zu der Gesellschaft kam, wurde er mit einer Flut von Vorwürfen und teilnehmenden Fragen überschüttet. Eine Weile hörte er es mit gereiztem Gesichtsausdruck an, dann fuhr er auf: »Was in aller Welt ist denn nur geschehen? Ihr Gehirn muß durch das lange Warten auf das Essen überreizt worden sein, daß Sie ein solches Wesen um nichts machen. Es thut mir außerordentlich leid, daß Sie nicht gespeist, sondern auf mich gewartet haben, sonst würden Sie mich in einer weit behaglicheren Stimmung empfangen haben. Ich habe eine etwas lange Schwimmtour gemacht, das ist alles!«

Nein, das ging über alle Grenzen. Nicht genug, daß man seinetwegen so viel Angst und Aufregung ausgestanden hatte, jetzt wollte er nicht einmal zum Ersatz für alles gelten lassen, daß man wenigstens ein interessantes Abenteuer erlebt hatte, sondern versuchte in seinem unleidlichen Hochmut das Ganze auf ein Hirngespinnst ihrerseits hinaus zu führen.

Und Etty, die mit Heldenmut allen Gefahren und Anstrengungen getrotzt, die Konvenienz aus den Augen gesetzt hatte, um sein Leben zu retten! Stand sie nicht mit glänzenden Blicken da, ihre ganze Haltung erwartungsvolle Sehnsucht und stilles Verlangen nach einem herzlichen Dank wenigstens für ihre verdienstvolle Handlung.

»Es ist nicht recht von Ihnen,« ergriff jetzt Nelly mit ihrer zwitschernden Stimme das Wort, »die Lebensgefahr, in der Sie geschwebt haben, so forträsonniren zu wollen. Wenn nichts anderes, so ist es doch mindestens recht undankbar denen gegenüber, die mit recht viel Aufopferung und Anstrengung Ihr Leben gerettet haben.«

»Mein Leben gerettet!« fuhr er los; »nein, jetzt fängt es nachgerade an lächerlich zu werden. Es ist unglaublich, welche Phantasien ein leerer Magen verursachen kann. Lassen Sie uns endlich essen, sonst wird es immer toller.«

Die arme Etty stand da, fast in derselben Stellung wie am Abend, als sie ihn zum Tanzen erwartete – die Gestalt etwas vorgebeugt, die Arme erhoben, der Ausdruck erwartungsvoll und glücklich.

Sie hatte die Worte, welche zwischen Falk und Nelly gewechselt worden waren, nicht erfaßt; als er sich aber jetzt ohne einen freundlichen Blick von ihr wegwendete, bekam der Schmerz in ihrem so lebhaft wechselnden Gesicht einen ebenso rührenden Ausdruck wie vorher die strahlende Glückseligkeit. Die Augen verloren ihren Glanz und umflorten sich, der Mund zog sich in kleinen, krampfartigen Zuckungen zusammen. Man setzte sich in sehr gedrückter Stimmung zum Essen. Hatte man sich doch eine kleine Scene etwa wie bei der Wiederkehr des verlorenen Sohnes gedacht, Freudenäußerungen über die glückliche Rettung – allerdings auch einige Verwünschungen, aber doch vorherrschend verzeihende Güte – und den guten Kalbsbraten dazu. Als man ihm aber jetzt mit ausgesuchtem Eifer alle Speisen hinreichte und ihn nötigte, tüchtig zu essen und zu trinken, wies er alles ab und weigerte sich entschieden, eher zu nehmen, als bis die Damen zugelangt hätten.

»Sind Sie denn nicht vollständig ausgehungert?« fragte Eveline.

»Warum? Nicht mehr als alle anderen.«

»Aber Du zitterst ja am ganzen Körper! Trink wenigstens einen Schluck,« ermahnte Herr Krabbe.

»Ich trinke nie.«

»Sind Sie Absolutist?« fragte Frau Möller, glücklich über diesen Schimmer von Pflichtgefühl bei dem sonst so traurig verwilderten Charakter.

»Ich habe kein Gelübde gethan, denn ich halte nichts von Gelübden, aber ich halte es für richtig, durch das eigene Beispiel dem Volke zu zeigen, daß man starke Getränke entbehren und dabei gesund und kräftig sein kann.«

»Das mag der Fall sein, wenn Du am Land unter dem Volk bist,« sagte Krabbe, »hier aber, zum Kuckuck, brauchst Du wohl kein Beispiel zu statuiren.«

»Um Vergebung, das Volk auf dem Lande ist durchaus nicht am schlimmsten darin. Auch die feinen Herren würden sich bei etwas mehr Enthaltsamkeit besser befinden.«

»Wer von mir sagt, ich tränke zu viel, der ist ein infamer Lügner,« fuhr Krabbe auf. »Ein paar Gläser in guter Gesellschaft werden, zum Teufel, wohl nichts schaden. Trink jetzt, sage ich, jeder kann ja sehen, daß Du halbtot vor Aufregung und Anstrengung bist.«

»Teuerster, Du thust wirklich, als ob ich halb gebrochen wäre,« fuhr Falk von neuem auf. »Halbtot vor Aufregung und Anstrengung – nach einer ganz gewöhnlichen Schwimmtour! Ich bin ja für Ihrer aller guten Willen, mit dem Boot mir zu Hilfe kommen zu wollen, sehr dankbar, aber ich erlaube mir noch einmal zu versichern, daß es ganz unnötig war und daß ich das mir angebotene Seil nur ergriff, damit sie nicht länger mit dem Boot an der gefährlichen Stelle halten sollten.«

»Ja, natürlich,« sagte Nelly. »Herr Falk hat immer recht. Ich habe wenigstens noch niemals Herrn Falk eine Schwäche zugeben hören. Aber was meinen Sie, Eveline, habe ich nicht recht?«

»Sie haben ja aber doch Ihr Bein verletzt,« sagte der Dozent. »Herr Krabbe sagte, es wäre beinahe gebrochen.«

Eine unfreiwillige Grimasse, die Falk in dem Augenblick vor Schmerz zog, das anhaltende Zittern, was er vergeblich zu bemeistern suchte, und seine ungewöhnliche Blässe und Gereiztheit schienen den anderen die deutlichsten Beweise der Richtigkeit von Herrn Krabbes Aussage.

Aber Falk antwortete heftig: »Gebrochen! Bah, ein bißchen verwundet, was morgen wieder gut ist.«

»Wollen Sie nicht wenigstens eine Kompresse darauf legen?« schlug Eveline vor.

»Ach, Fräulein, Sie ritzten sich ja neulich Ihren Lilienfinger an einem Dornenbusch. Warum legten Sie denn nicht gleich eine Kompresse darauf? Warum sind Sie für sich selbst weniger besorgt als für andere? Wollen Sie mir nicht den Gefallen thun, zur Abwechslung einmal von etwas anderem zu sprechen?« fügte er hinzu.

Er hatte sich noch nicht ein einzigesmal an Ulla gewendet und sie noch kein einziges Wort gesprochen, seitdem er zur Gesellschaft zurückgekehrt war. Er fühlte, daß er ihr Schmerz bereitete, konnte es aber noch nicht über sich gewinnen, sich selbst einzugestehen, daß er unrecht hatte. Gewohnt, immer frisch zu sein, mit der ganzen instinktiven Verachtung einer gesunden, kraftvollen Natur physischer Schwäche gegenüber, war es ihm irritirend und unbehaglich, daß man ihn wie einen Patienten behandeln wollte.

Man fing jetzt an zu überlegen, ob man sich auf den Heimweg begeben oder über Nacht bleiben sollte, und ging deshalb an die Landungsbrücke hinab, um dort Wind und Wasser besser beurteilen zu können. Es stürmte aber so stark, daß sogar die kleinere Bucht, die man von hier aus übersehen konnte, in weiß schäumender Bewegung war.

Bei diesem Anblick erschraken die Damen etwas und wurden ängstlich, und der Dozent war sehr zweifelhaft, ob es ratsam wäre, sich hinaus zu wagen – der Damen wegen, natürlich.

»Wären wir Herren allein,« äußerte er und machte eine kleine Schwenkung mit dem Körper, »dann thäte es ja nichts. Wir können es ja vertragen, etwas eingeweicht zu werden, aber für die Damen scheint es mir doch gar zu unbehaglich zu sein.«

Ein alter Lotse, der sogenannte alte Vater im Fischerdorfe, war an die Brücke heruntergekommen und hörte die Beratungen.

»Ja, rasch geht es nicht vorwärts, wenn man gegen den Wind kreuzen muß,« sagte er. »Die Herrschaften müssen sich vorbereiten, daß es sich bis tief in die Nacht hinein hinziehen wird, ehe sie heimkommen.«

»Könnten wir denn alle hier Nachtquartier bekommen?«

»Ach ja, wie es eben bei kleinen Leuten ist, natürlich. Betten den Herrschaften anzubieten, würde allerdings zu knapp werden – aber ein Dach über dem Kopf können Sie bekommen und dann legen Sie sich abwechselnd hin. Wenn Sie mit mir gehen wollen, sprechen wir mit meiner Alten.«

Die Hütte des Lotsen war klein und sauber wie ein Puppenhaus. Nur zwei Zimmer, in dem einen ein Bett für ihn und seine Alte und eine Schlafbank. »Da drin könnten drei Damen liegen,« sagte die Frau, die voll des besten Willens und glücklich war, einmal Leute zu haben, mit denen sie schwatzen konnte; der Alte sollte oben auf dem Boden schlafen und sie selbst wollte sich auf die Küchenbank betten.

Das zweite Zimmer war ein kleines Wohnstübchen mit bunten Bildern und Photographien an den Wänden, auf Tisch und Kommode allerlei fremde Gegenstände, die der alte Vater in den Zeiten, als er noch ein junger Matrose war, aus fremden Ländern mitgebracht hatte. Die ziemlich dumpfe Luft war stark mit Geraniumduft untermischt, aber alles sah rein und blank aus.

Hier stand auch ein Sofa und ein Schaukelstuhl, welche die Alte den zwei übrig bleibenden Damen als Schlafplätze anbot. In den Schaukelstuhl konnte man einige Kissen legen, dann würde es schon für das kleine Fräulein – sie meinte Nelly – passen, dahinein zu kriechen, mit einem Schemel unter den Füßen. Und die Herren nähmen wohl mit frischem Heu in der Scheune fürlieb.

Krabbe erklärte, er könne an Bord in seiner Kajüte schlafen, aber der Dozent meinte unschlüssig, vielleicht wäre doch in einer der anderen Hütten Platz – er hätte gehört, daß die Fischer alle fort wären.

»Aber, liebster Herr, Sie können doch nicht deren Platz einnehmen,« wandte die Alte ein und warf einen humoristischen Blick auf die kleine Gestalt. »Die liegen doch, mit Respekt zu sagen, bei ihren Weibern, wenn sie zu Hause sind.«

Der Dozent machte einen kleinen Hopps und eine Schwenkung mit dem Körper.

»Ja, das ist etwas anderes,« sagte er mit verlegenem Lachen. »Da kann ich vielleicht Herrn Falk um ein bescheidenes Plätzchen in seiner Kajüte bitten.«

Falk hatte sich während dieser Verhandlung auf einen Stuhl an der Thüre gesetzt; jetzt wurden alle Blicke durch ein leises Schnarchen dorthin gelenkt. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken – er schlief. Sein trotziger Wille, seine verzweifelten Versuche, sich als gänzlich unberührt von den überstandenen Anstrengungen hinzustellen, waren endlich doch von dem unabweisbaren Bedürfnis der Natur besiegt worden.

Als Ulla das sah, wurde sie plötzlich ganz weich gestimmt. Sie dachte nicht an den Schmerz, den er ihr eben noch zugefügt hatte; sie stand, die anderen völlig vergessend, in seinen Anblick verloren da und betrachtete das niedergesunkene Haupt mit den noch feuchten Haaren und dem weißen Streifen an der Stirn, den das lockige Haar wie ein Kranz umgab – der einzige, weiß gebliebene Teil des Gesichts, das sonnenverbrannt wie das eines Seemans war. Aber trotz des Sonnenverbrannten sah man deutlich, wie blaß er heute war, und öftere Zuckungen verrieten, daß er auch im Schlafe Schmerzen hatte.



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