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XIX.

Ulla saß in einer Art behaglicher Spannung im Coupé, während sich der Zug von Christiania immer mehr Stockholm näherte. Sie hatte in dem Sommer hin gewollt, als sie Falk so unvermutet nach Norwegen folgte, nun waren es vierzehn Jahre her, seit sie als kaum erwachsenes Mädchen das letztemal dort gewesen war. Ihre Mutter, eine geborene Stockholmerin, liebte ihre Vaterstadt ganz besonders innig, obgleich sie schon viele Jahre im Auslande gelebt hatte, und reiste fast jeden Sommer dahin.

Es gehörte zu Ullas frühesten und lebhaftesten Erinnerungen, dieses Imcoupésitzen und mit klopfendem Herzen etwas erwarten, das sie gelernt hatte, als das beste auf Erden anzusehen. Wie oft war sie nicht beim Morgengrauen in Södermanland aufgewacht, als der Zug zwischen den vielen Seen hindurch eilte, und jedesmal hatte sie an die kleinen Verse denken müssen, welche die Mutter für ihr Töchterchen improvisirt hatte, als sie das erstemal nach ihrer Verheiratung ihr Vaterland wieder sah. Ihre Mutter war jahrelang im Süden gewesen, hatte die größten Naturschönheiten von Europa gesehen, und doch erinnerte sich die Tochter nicht, sie je so ergriffen gesehen zu haben, wie damals, als sie Södermanland mit seinen Seen und Wäldern wiedersah. Ulla wußte noch genau, welchen Eindruck das auf sie gemacht, und wie sie damals zum erstenmal eine Ahnung davon bekommen hatte, was Heimatsliebe war.

Da liegt mein Land so schweigend,
So schön im Morgenduft,
Nur trillernd steigt die Lerche
Empor in blauer Luft.

Der Seen dunkle Fluten,
Der Wälder düstrer Kranz,
Sieh aus der Nacht sie treten
Im Nebel-Elfentanz.

Ein wunderbares Beben
Durchzittert meine Brust;
Mein Land, wie ich dich liebe,
Ich hab' es kaum gewußt.

Ulla sagte Falk das kleine Gedicht her. Es war ihr jahrelang nicht eingefallen. Nun kam es plötzlich, sie wußte nicht woher, und flüsterte ihr seine Worte und seinen Rhythmus in das Ohr. Es war, als ob Seen und Wälder es für sie aufbewahrt hätten, von damals her, als sie das letztemal hier gewesen war.

Sie fragte sich selbst, ob sie wirklich anders für das Vaterland ihrer Eltern fühlte als für irgend ein anderes Land, wo sie lange gelebt hatte. Sie hielt sich für eine vollständige Kosmopolitin, und doch konnte sie nach langem Wegsein niemals die schwedische Sprache hören oder eine schwedische Landschaft sehen, ohne daß sich etwas Inniges, Weiches in ihr regte. War das nur der Widerklang von der Heimatsliebe ihrer Mutter, oder war doch etwas in ihrem eigenen Ich, im tiefsten Innern, schwedisch?

Der letzte Tunnel vor Stockholm!

Wie gut erinnerte sie sich seiner! Mit welcher atemlosen Spannung hatte sie jedesmal auf den Ausgang gewartet! Der Mälarsee, der Strom, die Brücke, das alte Haus bei Munkbron, das den Großeltern gehört hatte, wo sie als Kind so oft am Fenster gestanden und mit verwunderten und neugierigen Blicken die beiden verschiedenen Lichter oben zwischen den Hügeln von Söder betrachtet hatte, und wo die Mutter, als sie das letztemal hier gewesen waren, ihre Augen für immer schloß! Wie vertraut war ihr noch alles!

Das Haus war verkauft und in fremde Hände übergegangen. Alle Bande waren zerrissen; sie hatte sich selbst von der Zusammengehörigkeit mit Schweden ausgeschlossen. Ihre Kinder würden, wenn sie einmal zum Besuch hieher kämen, als Fremdlinge kommen. Keine Saite ihres Herzens würde vibriren, mit neugierigen, kalten Touristenaugen würden sie da sitzen, wenn der Zug aus dem Tunnel käme und den Mälaren betrachten, die Inseln, die Hügel von Söder, den Strom, die Brücken!

Ludwig und Nelly waren auf dem Perron. Sie waren seit vorigem Sommer verheiratet und hatten trotz Nellys Prinzipien schon eine kleine Tochter. Aber Nelly war noch ganz die Alte mit ihrer schüchternen Miene, ihrer zarten Mädchengestalt und ihren bestimmten Ansichten.

Sie nahm eifrig teil am öffentlichen Leben, so weit es eine Frau kann, saß in der Direktion der Vereine »Eigentumsrecht der verheirateten Frau«, »Lesesalon«, »Freunde der Handarbeit«, »Verein der Nähterinnen« und noch mehreren anderen und erzählte Ulla das alles auf dem Wege bis zum Hotel. Und nun – das war der größte Triumph für die Frauenfrage – war sie zum Mitglied des Vorstandes gewählt worden, der die Vorbereitungen für die große Kunstausstellung, die sogenannte »Ausstellung der Emigranten«, zu besorgen hatte.

Ludwig war älter geworden, hatte einen Vollbart und sah männlicher aus. Seine frühere Schüchternheit war fast gänzlich verschwunden. Die Liebe und Bewunderung seiner Gattin, das Gefühl, der Mann einer ausgezeichneten Frau und ein Familienversorger zu sein, verliehen ihm eine Sicherheit, die ihm früher fehlte.

Etty hatte mitreisen sollen, um ihre Geschwister zu besuchen. Aber sie bekam kurz vorher eine starke Lungenblutung und mußte eine Zeit lang still zu Bett liegen. Jetzt war sie wieder auf und behauptete nach wie vor, vollkommen gesund zu sein, wurde indessen von der alten Frau Falk, die sie zwang, sich ruhig zu halten, streng bewacht.

Ulla teilte Ludwig und Nelly ihren Plan mit, Etty nächsten Winter mit nach Italien nehmen zu wollen, um zu versuchen, ob die Luft des Südens ihren Lungen gut thun würde. Ludwig warf Nelly einen bekümmerten Blick zu und äußerte etwas, daß sie natürlich gern thun würden, was in ihren Kräften stände, daß aber die Reise wohl sehr teuer werden würde.

Ulla erwiderte fröhlich, daß sie sich deshalb nicht beunruhigen möchten, sie hoffte durch ihre beiden neuen Gemälde viel Geld zu verdienen. Da bemerkte sie bei Nelly ein verlegenes Augenzwinkern, das Zweifel an der Verwirklichung ihrer Hoffnung auszudrücken schien. Sie fragte, ob ihre Gemälde angekommen wären, ob Nelly sie gesehen hätte, und ob sie einen guten Platz erhalten hätten, bekam aber kurze, ausweichende Antworten. Sie merkte, daß Nelly die ganze Ausstellung an ihren fünf Fingern herzählen konnte und von den Urteilen der Künstler und Kritiker über die Gemälde vollgestopft war. Und es wurde ihr klar, daß ihre eigenen vor diesem Gericht keinen Beifall gefunden hatten.

Während der nächsten Tage traf sie verschiedene Maler und erkannte aus deren ausweichenden Reden immer klarer, daß man sich in ihr getäuscht fühlte. Sie verschob ihren Besuch der Ausstellung bis zu dem Tage der Eröffnung. Und sie bebte davor, ihre Gemälde unter den anderen zu sehen und gezwungen zu sein, sie selbst zu verurteilen.

Sie war fast krank vor Angst, als sie das erstemal hin ging und machte sich erst um vier Uhr auf den Weg, in der Hoffnung, die meisten Besucher würden dann weg sein. Aber es standen doch noch Gruppen da und dort und besonders sah sie in der vordersten Ecke des Saales, wo, wie sie nach Nellys Beschreibung wußte, ihre Bilder hingen, noch viele Menschen. Ja, Ulla Rosenhane war ja einer der berühmtesten Namen der Ausstellung.

Ihre Augen streiften an den Wänden hin, während sie vorwärts ging, und berauschten sich an der Fülle von Sonnenlicht und Luft und weitem Raum – die Lichtstärke dieser jungen Schule machte einen überwältigenden Eindruck auf sie, und ehe sie noch bis zu ihren eigenen Gemälden gekommen war, wüßte sie, daß sie in dieser Umgebung verurteilt waren. Sie, die mehr wie alle anderen die Gabe hatte, Luft und Licht wieder zu geben, sie – hier repräsentirt durch diese schwerfälligen, farblosen Stücke! Der kräftige, einfache Realismus, den diese Motive forderten, war nicht für sie.

Sie fühlte das blitzschnell – sie war verurteilt. Die Künstlerin Ulla Rosenhane lebte im Süden – nur im Süden.

Wie hatte sie sich noch eben einbilden können, im Herzen schwedisch zu sein! Nicht die Spur schwedisch war sie – ein Kind des Südens war sie und nur für die südliche Sonne war ihr Auge geschaffen. In den grauen Wintertagen des Nordens sah sie nichts, keine Beleuchtung, kein Leben. Die Luft wurde zur einfachen grauen Mauer, die Figuren standen platt und angeklebt an den Wänden, wie hatte sie so blind sein können, das nicht zu sehen!

Sie eilte aus der Ausstellung fort mit dem Gefühl der Scham, wie sie es in ihrem ganzen Leben noch nicht hatte kennen lernen. Die Angst trieb sie fort, es möchte sie jemand erkennen; man würde nach ihr hinsehen und die Achseln über sie zucken. Sie hatte Falk verloren, dachte aber auch gar nicht an ihn, sondern ging direkt in das Hotel und schloß sich in ihr Zimmer ein, nachdem sie Ordre gegeben hatte, keinen Besuch zu ihr zu lassen. Sie befand sich in einem furchtbaren, inneren Aufruhr. Ihr Künstlerinstinkt war mit der Gewalt einer furchtbaren Leidenschaft in ihr erwacht. Wie sie bisher mehrere Jahre lang alles ihrer Liebe geopfert hatte, so war sie nun bereit, alle Schranken zu durchbrechen und mit kaltem Blute über die Trümmer ihres persönlichen Glückes hinweg zu schreiten, um das wieder zu gewinnen, was sie als Künstlerin verloren hatte.

Sie saß auf dem Sofa und starrte vor sich hin, während sie ihre Ehe überdachte und versuchte, sich noch einmal alles zu vergegenwärtigen, was sie ihr während dieser Jahre Schönes und Liebes gebracht hatte. In diesem Augenblick stand sie dem allen vollkommen kaltblütig und kritisch gegenüber. War es wirklich wert gewesen, daß sie dafür ihr Talent geopfert hatte? Nicht eine einzige Saite ihres Innern klang jetzt von diesen Erinnerungen wieder, die sie mit einer Art Haß herauf beschwor und zu ihnen sagte: »Kommt und versucht euer Schlimmstes. Ihr habt keine Macht mehr über mich. Alles das ist vorbei und kann nicht wieder erwachen.«

Sie wiederholte sich gleichsam zur Selbstprüfung, was sie sich während dieser Jahre so unendlich oft gesagt hatte, daß ja nur das persönliche Gefühlsleben, das Bündnis der Herzen dem Leben seinen Wert verliehe, daß Erfolg, Auszeichnung, Bewunderung der Welt nur täuschende Irrlichter, keine wärmende Flamme wären und keinen Wert an und für sich, sondern nur in dem Maße hätten, wie sie denen, die wir lieben, Freude bereiteten. Umsonst! Jetzt wurde sie nur von einem Gefühl, nur von einem Trieb beherrscht. Wertlos oder nicht – sie wollte und mußte einen neuen Sieg in der Kunst erringen. Und wenn ihr auch eine Trennung wie diese das Leben kosten sollte, wenn sie auch einen einzigen Triumph mit lebenslangen Leiden erkaufen müßte, sie wollte diesen Triumph.

Falk kam jetzt nach Hause und sie sprang vom Sofa auf und ging ihm mit glühendem Gesicht entgegen.

»Ich reise nach Rom!« sagte sie. »Ich gehe mit Fräulein Hartmann, die nächste Woche abreist. Ich habe keinen einzigen ruhigen, frohen Tag mehr, ehe ich nicht mein großes Gemälde vollendet habe.«

Er erbleichte und zog die Augenbrauen zusammen. Dann machte er die Thür hastig zu und ging zu ihr hin.

»Du reisest – jetzt!« rief er aus. »Und wie lange willst Du weg bleiben?«

»Ein Jahr – wenigstens.«

»Und es kostet Dich nichts, ein so kleines Kind, wie unseren Ingjald, zu verlassen? Es scheint Dir nicht besser, noch so lange zu warten, bis er etwas größer ist und wir alle zusammen reisen können?«

»Ich kann nicht warten!« rief sie. »Verstehst Du das nicht, hast Du nicht gesehen, wie sich meine Bilder unter den anderen ausnahmen? Soll ich hier im Lande bleiben und meine Zeit noch ein paar Jahre vergeuden, um nachher ein neues und schlimmeres Fiasko zu machen? Soll ich nichts unternehmen und dabei fühlen, wie mein Talent zu Grunde geht, wie alle mich bedauern und schließlich vergessen, daß ich zu etwas getaugt habe?«

»Aus Dir spricht jetzt verletzte Eitelkeit, und wegen eines so wenig stichhaltigen Grundes wolltest Du Deine Kinder opfern?«

»So wenig stichhaltenden Grundes!« rief sie. »Das sagst Du, weil Du nichts davon verstehst – weil niemand versteht, was es heißt, in seiner Kunst zurückgehen. Andere können denken, daß das wenig wäre – Du würdest mir vielleicht eher glauben, wenn ich sagte, weil die Kunst mein Beruf ist, halte ich es für eine Pflicht, auf ihrer Höhe zu bleiben, aber das wäre nicht wahr, das wären nur schöne Worte. Die Wahrheit ist, ich kann es nicht ertragen, rückwärts zu gehen, es bringt mich in Verzweiflung – ich habe für nichts auf der Welt mehr Sinn, als etwas zu erreichen, koste es mich, was es wolle!«

Sie regte sich an ihren eigenen Worten immer mehr auf, bis sie schließlich in Schluchzen ausbrach.

Falk betrachtete sie mit Kummer und Unwillen. Wohl mochte sie sich als seine Frau nicht auf derselben Höhe als Künstlerin erhalten können, aber wenn sie wählen mußte, mochte die Entsagung noch so schwer sein, wie konnte sie da zweifeln, hatte sie nicht schon längst gewählt – unwiderruflich? War es möglich, daß ihr Künstlername, die Befriedigung ihrer Eitelkeit für sie mehr wären, als die heiligsten Bande des Herzens?

Er nahm seinen Hut, ging hinaus und trieb sich eine Stunde lang auf den Straßen umher. Als er nach Hause kam, war sie weg und kehrte erst spät wieder zurück. Er hatte sie den ganzen Abend mit wachsender Ungeduld und Angst erwartet. Was sollte das bedeuten, daß sie so ihrer Wege ging, ohne ihn mit einem einzigen Wort wissen zu lassen, wo sie war? Vergebens war er bei Ludwig und Nelly gewesen, hatte in verschiedenen Hotels nach der Malerin, Fräulein Hartmann, gefragt, ohne erfahren zu können, wo sie wohnte. Als er zum drittenmal nach Hause kam, fand er Ulla endlich da. Die Unruhe über ihr Verbleiben und der Aerger über die Art und Weise, wie sie ihn so völlig im Unklaren darüber gelassen, hatten ihn in einen aufgeregten Zustand versetzt, so daß er in heftigem Tone rief:

»Wo bist Du gewesen? Wie kannst Du mich so behandeln! Ich kann doch wenigstens verlangen zu erfahren, wohin Du gehst, wenn Du den ganzen Abend weg bleibst.«

Ulla sah ihn mit einem Blick an, der ihn zu warnen schien, nicht zu weit zu gehen.

»Ich war bei Fräulein Hartmann,« sagte sie in kaltem, abweisendem Ton. »Sie reist nächste Woche, und ich glaube, mir die Gelegenheit einer Reisegesellschaft nicht entgehen lassen zu dürfen.«

Das Blut stieg ihm nach dem Kopf bei dieser kaltblütigen Erklärung und seine Augen flammten, während er losbrach:

»Wenn Du glaubst, das zu dürfen, so beweist das nur, daß Du augenblicklich nicht mehr weißt, was Deine Pflicht ist. Und da bin ich es, der Dich an das, was Du mußt und sollst, zu erinnern hat. Das aber ist, bei Deinen Kindern zu bleiben, die Deine mütterliche Liebe und Sorgfalt noch nicht entbehren können.«

»Mutterliebe läßt sich ebenso wenig erzwingen, wie irgend eine andere Liebe,« sagte sie mit fester Stimme und sah ihm in die Augen.

Sein Zorn verschwand vor diesem Blick und bei diesem Ton.

»Nein,« sagte er mit gebrochener Stimme, »das ist sicher.«

Falk und Ulla sprachen nicht weiter von ihrer Reise, aber Ulla traf ihre Vorbereitungen im stillen und hielt an dem Uebereinkommen mit Fräulein Hartmann fest. Sie suchte sich gewaltsam in der Stimmung zu erhalten, die sie zu diesem Entschluß getrieben hatte, obgleich sie fühlte, wie ihr der Mut dazu mit jedem Tage mehr sank. Aber sie wußte, daß sie sich doch niemals ohne einen gewaltsamen Bruch losreißen konnte. Wenn sie jetzt wieder nachgeben und nach Hause zurückkehren wollte, wäre es nur, um später neue Wunden zu schlagen bei der unabweisbaren Trennung, die doch einmal kommen mußte.

Falks Wortkargheit und verdüsterte Miene quälten sie, und doch wagte sie nicht, ihn durch ein freundliches Wort aufzuheitern, weil sie gerade seine Liebe jetzt am meisten fürchtete. Es war leichter, sich los zu reißen, so lange ihr Verhältnis so gespannt war; hätte er sie mit Liebe und Innigkeit gebeten, von ihrem Plan abzustehen, dann würde sie nicht die Kraft gehabt haben, dabei zu beharren, das wußte sie nur zu wohl.

Unruhe und Aufregung griffen mittlerweile ihr Nervensystem so an, daß sie sich wirklich krank fühlte und während der nächsten Tage meistens zu Hause auf dem Sofa liegen blieb, ohne doch den Arzt haben zu wollen.

Fräulein Hartmann besuchte sie täglich, und Falk ließ sie immer allein zusammen. Die Reise war auf Montag festgesetzt, und Ulla versicherte ihrer zukünftigen Reisegefährtin, daß sie bis dahin wieder frisch sein werde, auf alle Fälle frisch genug, um reisen zu können. Wenn sie nur erst unterwegs wäre, würde sie sich schon wohler fühlen.

Am Sonntag kam Nelly und saß den ganzen Vormittag bei ihr. Sie fand sie sehr elend und ermahnte sie, doch einen Arzt zu fragen.

»Du bist wohl sicher, daß Du nicht etwa –« sagte sie. »Es kann doch nicht – auf diese Weise?«

Ein flammendes Rot überzog Ullas Gesicht. Nelly hatte einen Gedanken ausgesprochen, der während dieser Tage wie ein Alp auf ihr gelegen, ohne daß sie ihn auch nur vor sich selbst in diese Form zu bringen gewagt hatte.

»Nein, das ist unmöglich!« rief sie mit Energie.

»Ja, das glaube ich,« sagte Nelly in vollkommen ruhigem Alltagston. »So verständig wirst Du wohl sein, Dir nicht noch mehr Kinder anzuschaffen. Ich finde schon zwei so rasch auf einander zu viel. Ich will nicht mehr als ein Kind haben, wenigstens für die nächsten Jahre. Später kann es ja sein, daß ich mich noch einmal dazu entschließe, lediglich deshalb, weil ich es nicht für wünschenswert für ein Kind halte, ganz allein aufzuwachsen. Aber mehr als zwei können selbstverständlich niemals in Frage kommen.«

Ulla hörte mit Entsetzen diese deutliche Erklärung.

»Bist Du wirklich im stande – pfui, wie ich das widerwärtig finde, eine solche verstandesmäßige Berechnung bei einem Verhältnis einzuführen, dessen sittliche Schönheit nur im Spontanen, Unüberlegten liegt – nein, das ist verabscheuungswürdig!«

Sie richtete sich auf dem Sofa auf und strich das Haar aus ihrem glühenden Gesicht.

Nelly sah sie groß und verwundert an.

»Das muß ich sagen, ich hätte niemals geglaubt, daß eine entwickelte Frau so kindlich räsonniren könnte – ja, so geradezu unmoralisch, wie Du. Es ist wohl die erste Pflicht denkender Menschen, nicht Wesen auf die Welt zu bringen, die man nicht genügend versorgen kann. Was uns zum Beispiel betrifft, so hätten wir ja gar nicht die Mittel, mehr Kinder groß zu ziehen, so daß es von uns geradezu unverantwortlich wäre – von Dir aber wäre es eben so verkehrt, denn Du hast auch noch anderes zu thun und kannst den Kindern nicht so viel Zeit widmen.«

»Ich will nichts mehr hören,« unterbrach sie Ulla heftig. »Ich sage, es ist verabscheuungswürdig – wenn man nur noch eine Spur von Feinfühligkeit hat –«

»Und ich sage, daß es merkwürdig ist, wie unentwickelt Künstler meistens sind,« fuhr Nelly los und wurde nun ebenfalls rot vor Aerger.

»Das ist möglich,« sagte Ulla in gereiztem, hochmütigem Ton. »Aber ich will immer noch lieber unentwickelt als schamlos sein.«

»Ich kenne welche, die beides sind,« rief Nelly mit zitternder Stimme und schoß zur Thüre hinaus.

Ulla legte sich nach diesem Auftritt wieder auf das Sofa, konnte aber nicht lange still liegen, sondern sprang auf und ging im Zimmer hin und her.

Hatte Nelly nicht doch recht darin, daß es eines denkenden Menschen unwürdig wäre, Mutter wider seinen eigenen Willen zu werden? Die Entwicklung drängte ja mehr und mehr hin nach dem Reflektirenden, Bewußten – fort von dem Impulsiven, Unmittelbaren. Warum war es so verwerflich, seiner Ueberzeugung gemäß zu handeln, wenn es eine so wichtige Angelegenheit betraf, wie die, ein neues Menschenleben in die Welt zu setzen? Sollte man nicht erwägen, was für einen selbst sowohl wie für das Wesen das beste wäre, das leichtsinnig in das Leben zu setzen man gar nicht das Recht hatte.

Und wenn es jetzt so mit ihr stünde! Aber nein, sie wollte diesen Gedanken nicht ausdenken!

Es war nicht möglich, es wäre zu schrecklich – gerade jetzt, da sie endlich so weit war, sich los zu reißen! Erkältung und Aufregung machten sie krank, und war nur erst der letzte Schritt gethan, und saß sie im Coupé ohne eine Möglichkeit, ihren Entschluß zu ändern, dann würde sie schon wieder frisch werden, jetzt war es die Furcht vor dem Abschied, die Unruhe über den Schritt, den sie im Begriff stand zu thun, die ihr Nervensystem in so erschreckender Weise aufregten und alle die sonderbaren physischen Erscheinungen hervorriefen.

Montag vormittag, nachdem Falk ausgegangen war, stand sie auf und packte ihren Koffer. Als sie ihn aber zurückkommen hörte, warf sie rasch den Deckel zu und steckte einige Sachen weg, die umher gelegen hatten. Sie wußte nicht, warum sie das that, denn sie dachte nicht daran, heimlich abzureisen, aber unwillkürlich schreckte sie feige zurück vor einem klaren, bestimmten Aussprechen ihrer Absichten und hatte nicht den Mut, der Trennung offen in das Auge zu sehen.

Gegen fünf Uhr ging Falk hinunter in den Speisesaal des Hotels, um zu essen, während sich Ulla eine Tasse Fleischbrühe herauf bringen ließ. Die Stunde rückte immer näher, wo sie an den Bahnhof mußte, ohne daß er zurückkam. Eine furchtbare Angst bemächtigte sich ihrer. Sollte sie ohne Abschied fort gehen, oder sollte sie hinunter schicken und fragen lassen, ob er vielleicht unten im Rauchzimmer säße und ihn bitten, herauf zu kommen.

Sie klingelte dem Kellner und bat ihn, nachzusehen, ob Herr Falk vielleicht unten wäre. Während der paar Minuten des Wartens war sie halb bewußtlos, das Herz stand ihr still vor Angst und ihre Kniee wankten so, daß sie sich setzen mußte. Da kam der Bote zurück und meldete, der Herr sei ausgegangen.

Sie atmete erleichtert auf und erhob sich wieder. Da wollte sie ihm schreiben – es war besser so.

Aber ihre Hand zitterte und die Augen standen voll Thränen. Sie konnte selbst nicht sehen, was sie schrieb, und der Brief wurde nur einige Zeilen lang:

»Lebe wohl! Vergiß mich nicht! Und beurteile mich nicht hart! Ich werde Dich ewig lieben.«

Sie versiegelte den Brief und legte ihn auf den Tisch. Aber die Feigheit und der Wunsch des Aufschiebens bemächtigten sich ihrer wieder, und sie nahm ihn und steckte ihn in den offenen Tischkasten.

Darauf klingelte sie dem Kellner, damit er ihren Koffer hinunter schaffen lassen sollte, bereute es aber gleich wieder. Falk konnte ja jeden Augenblick nach Hause kommen. Dann würde er vom Portier hören, daß sie abgereist wäre! Nein, lieber konnten ihr die Sachen nachgeschickt werden. Sie fragte statt dessen noch einmal, ob Herr Falk noch nicht nach Hause gekommen wäre, und bekam wieder einen verneinenden Bescheid. Nun nahm sie ihre kleine Reisetasche in die Hand, den Regenmantel auf den Arm, daß er diese bedeckte und ging an den Bahnhof, der in der Nähe des Hotels lag.

Sie hatte sich mit dem Zug geirrt, es war niemand da. Sollte sie sich während des Wartens schon ein Billet kaufen? Das Herz schlug ihr fast hörbar und sie hatte ein eigentümlich zusammenziehendes Gefühl in der Kehle, als sie sich dem Billetschalter näherte.

Wieder bemächtigte sich ihrer die Feigheit. Es wäre das beste, zu warten, sagte sie sich; sie wüßte ja nicht, mit welcher Klasse Fräulein Hartmann reisen wollte.

Sie ging in den Wartesaal und setzte sich hin. Da niemand von ihren Bekannten außer Fräulein Hartmann wußte, daß sie abreisen wollte, war auch keiner da. Nur ein paar auch ihr bekannte Maler kamen, um von dieser Abschied zu nehmen, und Ulla ließ sie in dem Glauben, daß sie aus demselben Grund hier wäre.

Jetzt kam auch die Malerin selbst in Begleitung mehrerer Freunde. Ulla unterhielt sich mit allen auf das lebhafteste – wovon und wie, davon hatte sie selbst keine Ahnung, sie wußte nur, daß sie die ganze Zeit innerlich heftige Schmerzen empfand – ob es aber physische oder psychische waren, das wußte sie nicht.

Als Falk am Nachmittag in das Hotel zurück kam und erfuhr, daß Ulla eben ausgegangen wäre, ergriff ihn eine unruhige Ahnung und er eilte nach dem Bahnhof. Er hatte geglaubt, sie hätte die Reise aufgegeben, weil sie, wie er ja sah, zu krank dazu war, um so mehr, als sie kein Wort wieder davon erwähnt hatte; auch hielt er es für völlig unmöglich, daß sie ohne Abschied abreisen würde, trotzdem kam es ihm höchst eigentümlich vor, daß sie, nachdem sie tagelang gelegen hatte, gerade jetzt gegen Abend ausgegangen war, und er konnte seine unruhigen Gedanken nicht los werden, so ungereimt sie ihm auch selbst erschienen.

Es läutete gerade als er auf den Bahnhof kam und alles strömte hinaus auf den Perron.

Ulla hielt ihre Reisetasche noch immer unter dem Regenmantel verborgen, in dem Augenblick aber, als sie Falk eintreten sah, setzte sie sie mit einer blitzschnellen, unreflektirten Bewegung in eine Ecke, warf ihren Regenmantel darüber und ging mit leeren Händen unter den übrigen hinaus.

»Wo hast Du denn Deine Sachen?« fragte Fräulein Hartmann, als sie an das Coupé kam.

»Ich kann heute nicht reisen,« sagte Ulla. »Ich fühle, daß es unmöglich ist. Ich befinde mich zu schlecht.«

Das Blut brauste ihr nach dem Kopf, und es summte ihr vor den Ohren. Was weiter in den nächsten Minuten geschah, wußte sie nicht. Sie vernahm das Brausen der Lokomotive, sah viele Taschentücher winken und hörte schließlich, wie sie einer der Maler fragte, ob er ihr nicht eine Droschke besorgen sollte. Da merkte sie, daß sie sich, ohne es zu wissen, auf eine Bank gesetzt hatte.

»Nein, ich danke,« sagte sie. »Mein Mann –« sie sah sich um, konnte ihn aber nicht entdecken, »er ist gewiß drin.«

Sie stand auf, nickte mit dem Kopf zum Abschied und ging zurück in den Wartesaal.

Da stand er mit ihrer Reisetasche in der Hand und ihrem Regenmantel auf dem Arm. Sie wagte nicht, ihn anzusehen und sie gingen, ohne ein Wort zu sprechen, den kurzen Weg zusammen nach dem Hotel.

Ihr erster Gedanke, als sie in ihr Zimmer trat, war ihr Brief. Nein, da lag er noch unberührt. Feig ergriff sie diesen Rettungsanker – konnte sie es ihm gegenüber nicht überhaupt ableugnen, daß sie daran gedacht hätte, abzureisen?

Er stand vor ihr und sah sie mit düsterem, fast erloschenem Blick an.

»Und dessen warst Du wirklich fähig?« sagte er dumpf.

»Nein, Du siehst ja, daß ich es nicht im stande war,« brach sie hervor.

Das Unwohlsein überfiel sie von neuem so heftig, daß jede weitere Unterredung abgeschnitten wurde. Sie legte sich zu Bett und Falk eilte ohne ihre Einwilligung zum Arzt. Er ließ sie allein mit diesem und erwartete ihn auf der Treppe.

Als er wieder hinauf kam, fand er sie aufrecht im Bette sitzend, das Gesicht von flammender Röte überzogen, um Mund und Augen einen gespannten, gequälten Ausdruck.

Er ging lebhaft auf sie zu und umarmte sie, aber sie stieß ihn heftig von sich und brach in Weinen aus.

»Ich wollte, ich wäre tot,« rief sie. »Meine einzige Hoffnung – mein einziger Trost ist jetzt, daß ich diesmal sterben werde. Es ist zu verzweiflungsvoll, leben zu sollen, um immer wieder dasselbe von neuem durchmachen zu müssen. Wenn ich so fort jedes Jahr ein Kind haben soll, kann ich ja gar kein persönliches Leben mehr leben, meine ganze Jugend geht dahin, mein Talent geht verloren – und dabei gehe ich auch als Mensch verloren. Nein, es gibt keine andere Rettung als den Tod und sterben werde ich gewiß, denn so krank wie diesmal bin ich noch nie gewesen – ach, wie glücklich will ich sein, wenn ich fühle, daß es zu Ende geht.«

Schluchzen erstickte ihre Stimme, und sie warf sich wieder in das Bett zurück.

Er setzte sich auf die Bettkante und ergriff ihre Hände.

»Kann Dir denn meine Liebe nicht einigen Ersatz bieten?« fragte er sie mit bebender Stimme. »Es gab eine Zeit, da sie Dir mehr war als alles andere auf der Welt. Was soll ich thun, damit Du wieder fühlst wie damals? Könnte ich sie verdoppeln, könnte meine Liebe Dich fühlen lassen, welche Glut mich zu verzehren droht, bei dem Gedanken, Dich zu verlieren – ich glaube doch, eine Saite Deines Innern würde davon berührt werden, und Du würdest fühlen, daß alles Glück, das Dir Deine Kunst zu schenken im stande ist, gering ist gegen das Glück, so geliebt zu werden.«

Sie hörte seine warmen, bittenden Worte mit merkwürdiger Gleichgiltigkeit an. Sie wunderte sich selbst, daß ihre Gefühle für ihn so vollständig erstorben sein konnten, wie es ihr jetzt schien.

»Meine Liebe kannst Du nur dadurch wieder gewinnen, daß Du mir meine Freiheit wiedergibst,« sagte sie.

»Dir Deine Freiheit wiedergeben! Inwiefern – auf welche Weise –«

»Ich kann nicht länger Deine Gattin sein,« sagte sie, während sie ihre Hand schlaff in der seinigen liegen ließ und wegsah. »Wir können wie zwei Freunde zusammen leben, aber nicht mehr als Mann und Frau; wir brauchen uns deshalb nicht weniger zu lieben, nur auf andere Weise; wir müssen unser Gefühl zwingen, seine Natur zu verändern.«

»Das ist unmöglich,« rief er aus und stand auf.

»Für mich nicht,« fiel sie ein und sah ihm klar in die Augen.

»Nun gut,« sagte er mit einem eigentümlichen Zucken um die Lippen. »Dann sollst Du auch nicht mehr davon reden, daß Du mich noch liebtest; dann ist alles aus, und Du hättest am besten gethan, gleich abzureisen. Glaubst Du wirklich, daß es möglich wäre,« fuhr er fort, als sie etwas antworten zu wollen schien, »mit den Brosamen fürlieb zu nehmen, die Du mir jetzt gewähren willst, wenn man so geliebt hat wie ich? Kann man sein Gefühl in kleine Stücke zerteilen, berechnen, kontrolliren? Kannst Du es selbst? Nein, niemals, wenn Du mich wirklich liebst. Aber Du liebst mich nicht mehr, das ist der Grund. Und so ist alles zwischen uns aus.«

Er ging ein paar Schritte nach der Thüre hin, zögerte wieder und blieb unschlüssig einige Augenblicke stehen; darauf klingelte er und sagte dem Kellner, er wünsche noch ein Zimmer, wohin seine Sachen gebracht werden sollten.



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