Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Vierzigstes Kapitel

Rein und tiefblau, wie er nur in den Mittsommertagen ist, wölbte sich der Morgenhimmel über dem alten winkeligen Vaihingen. Die Sonne brannte schon in den ersten Morgenstunden und verkündigte einen heißen Tag. Auf dem Marktplatz vor dem Rathause stand die Menge dicht gedrängt, in gedankenloser Neugier ein trauriges Schauspiel erwartend, das ihr Ersatz für die geistigen Bedürfnisse bieten sollte, die sie durch die sonntägliche Predigt und durch die spärlichen bürgerlichen Vorkommnisse nicht zureichend befriedigt fühlte. Sie konnte nicht nach ihrer Weise hin und her wogen, denn es waren ihrer zu viele, die in festgekeilter Masse geduldig ausharren mußten und nach den Rathausfenstern emporsahen. Endlich glaubte man an den Fenstern eine Bewegung wahrzunehmen, und die Bewegung teilte sich alsbald der Menge mit, die nach der Türe des Rathauses drängte. Ein Bürger, der den Zuschauern im Saale droben vorausgeeilt war, stürzte heraus. »Es wird gleich angehen«, antwortete er auf die Fragen der vordersten, die ihn bestürmten. »Gott sei Dank, daß unsere Obrigkeit so schlau war, dieses gefährlichen Räubers und Einbrechers habhaft zu werden – vor dem lang genug fast ganz Schwaben gezittert hat. Nun endlich wird er aufs Rad kommen, der elendige Spitzbube, und seine Weiber werden auch ein würdiges End nehmen – die eine, die Zigeunerin, die vermaledeite, wird den Tod durch den Strang finden, und die andere, die blonde Ebersbacherin, wird, wie sich's gebührt, wieder mal ins Zuchthaus gesteckt werden. Aber dieser Sonnenwirt – ich sag's euch – das ist ein Kerl... Ihr hättet ihn sehen sollen, wie man ihm das Todesurteil vorgelesen hat. Alles hat gezittert, das ganze Gericht ist erblaßt, nur er ist allein ruhig und unerschrocken dagestanden, und wie's im Urteil geheißen hat: der Erzböswicht!, hat er mit lauter Stimme und lächelnd gesagt: ›Der bin ich gewesen!‹«

Eine noch stärkere Bewegung kam unter die Menge, welche das Geräusch der Kommenden aus dem Innern des Rathauses vernahm. Sie wich zurück, denn die ersten, die herauskamen, waren Gerichtsdiener, die sie barsch und grob auf die Seite trieben. Auf diese folgte, von Wachen umgeben, gefesselt und gebunden, der arme Sünder, der aber nicht wie ein solcher aussah. Sein Gang war ruhig, wie der eines Bürgers, der seinen Geschäften nachgeht, seine Haltung aufrecht, aber nicht gezwungen, und nur die Blässe seines Angesichts und der eigentümliche Glanz seiner Augen verrieten, daß etwas in ihm vorging, wovon die Menschenmenge, die ihn neugierig betrachtete, nach ihrer Art kaum eine Ahnung haben mochte. Fest und kühn blickte er in die Augen der Kopf an Kopf geschichteten Menschen, durch deren Reihen er den letzten düstern Weg zur Freiheit gehen sollte. Er blieb stehen, um seine Schicksalsgenossen zu erwarten.

Wiederum machte sich ein Geräusch von der inneren Rathaustreppe vernehmlich, und die Blicke der Menschen ließen von ihm ab, um über die neue Beute, die für die Schaulust kommen sollte, herzufallen. Es dauerte lange, und die Ungeduld wuchs immer stärker an. Endlich drängte sich etwas heraus, und zugleich gab sich die Ursache zu erkennen, die das Schauspiel so lange verzögert hatte. Es war die Zigeunerin, die um ihr Leben kämpfte. Obgleich ihre Hände gebunden waren, so stieß sie doch die Schergen einmal über das andere zurück, suchte in das Rathaus zurückzukommen, als ob dieses ihr Schutz gewähren könnte, und noch unter der Türe stemmte sie sich mit den Ellenbogen an den Pfosten an. Sie wurde aber immer wieder ergriffen und endlich herausgebracht.

»Christine!« rief Friedrich, dem bei dem jammerwürdigen Anblick das Herz blutete, obgleich er Anlaß genug hatte, jetzt nur noch an sich selbst zu denken: »Christine, klammere dich nicht so fest an diese schnöde Welt! Wende dein Herz dem Himmel zu, der dir allein noch helfen kann!«

Sie fuhr zurück und sah ihn mit einem Blicke an, für den es nur dann eine Vergleichung gäbe, wenn irgendwo in der Welt, wie im menschlichen Herzen, wo die unmittelbarsten Gegensätze nebeneinander wohnen, glühendes Eis zu finden wäre. »Verräter!« sagte sie, »finde du dich mit deinem Himmel ab, wie du dich mit der Welt abgefunden hast. Ich hab dich geliebt und alles für dich getan, und das ist nun mein Lohn! Wenn ich's nur gewiß wüßte, ob du in den Himmel oder in die Hölle kommst! Sieh mich nicht so an mit deinen Augen – ich wär schwach genug, dir zu folgen, aber ich kann es nicht! Du bist müde, Liebster, du hast dein Leben gelebt. Ich bin noch fähig, die Freuden dieser Welt zu genießen – ich lasse sie mir nicht schnöde entreißen.« Und noch einmal raffte sich die schwarze Christine empor, um mit der Wut einer Tigerin, die ihre Freiheit und ihr Leben nicht freiwillig hergibt, eine Kraftanstrengung zu machen.

»Fort!« befahl der Oberamtmann, während man ihm sein Pferd vorführte, hinter welchem die städtischen Richter in ihren schwarzen Mänteln, vom Zwange ihrer Amtswürde befreit, geschwind vorüberschlüpften, um auf dem Hauptschauplatz vor der Stadt noch zu rechter Zeit den ihnen vorbehaltenen Standort einzunehmen.

Die Henker griffen kräftig zu und eröffneten den Zug mit ihr. Sie warf noch einen Blick auf ihren Todesgefährten und wurde mehr geschleppt und getragen als davongeführt.

»Bitterer Kelch, geh vorüber!« sagte Friedrich, in den Boden starrend.

»Geliebter!« rief eine sanfte Stimme neben ihm.

Er blickte auf und sah die blonde Christine, die den Zug beschließen sollte. Die ganze Liebe seiner Jugend wallte in seinem Herzen auf.

»Meine Christine!« rief er, »hast du mir auch gewiß verziehen?«

»Von ganzem Herzen und von ganzer Seel«, antwortete sie, »und ich hoff gewiß, daß wir einmal in einer schöneren Welt wieder zusammenkommen, wo uns nichts mehr trennen wird. Sag mir auch noch einmal, daß du mir verzeihst.«

»Soll ich dir verzeihen, daß du mich lieb gehabt hast? Was hab ich dir denn außer Kleinigkeiten zu verzeihen? Die sind alle längst vergeben.«

»Kannst noch etwas von der Welt hören?«

»Von unseren Kindern?«

»Ja. Die beiden jüngsten nimmt die Magdalene, die deinem Vater Haus gehalten hat, in ihren neuen Eh'stand mit. Sie heiratet den Müller, weißt, den Georg. Sie haben ja beide früher ein Aug aufeinander gehabt, aber es hat nicht sein mögen, und keinem von beiden ist's gut gangen in der Eh. Jetzt sind sie beide frei. Den Friederle haben sie auch nehmen wollen, aber dein Vater gibt ihn nicht her. Er sagt, er sei so einsam in seinem Alter und es sei so ein aufgeweckter Bub.«

»Und du?«

»Wenn ich's überleb, so soll ich deinem Vater Haus halten, und wenn's der alt Mann nimmer so lang macht, so will mich die Magdalene auch zu sich nehmen.«

»Nun sterb ich gern!« rief er, »nun weiß ich doch dich und die Kinder versorgt. Sag meinem Vater oder tu's ihm zu wissen, ich laß ihn viel tausendmal grüßen und um Gottes willen bitten, er solle dem Buben doch streng sein. Auch den Georg und die Magdalene laß ich grüßen, aber sie sollen darüber wachen, daß der Großvater nicht zu viel in den Buben hineinsieht. Siehst du die vielen Ebersbacher, Christine?« unterbrach er sich. »Sie sind heut herbeigeströmt wie damals zu unserer Proklamation.«

»Und auch ich, auch ich soll zusehen!« rief sie. Sie schlug die freigelassenen Hände vor das Gesicht und begann krampfhaft zu schluchzen.

»Brich mir das Herz nicht vor der Zeit!« gebot er ihr. »Sei stark, Christine, und denke daran, daß die Trübsal zeitlich und die Freude ewig ist.«

Sie nahm die Hände von dem Gesicht und machte eine Bewegung, ihm um den Hals zu fallen. Die Stadtknechte traten dazwischen. Friedrich suchte das Auge des Oberamtmanns, der sich an dem Zeuge seines Pferdes zu schaffen machte, um die flüchtige Zeitspanne dieser letzten Unterredung zu verlängern. Der Oberamtmann verstand den Blick: »Gebt einander die Hände«, sagte er und wendete die Augen, in welchen verräterische Tränen blinkten, nach der andern Seite.

»Und nun vorwärts in Gottes Namen!« rief Friedrich, als es geschehen war.

Auch er sollte den Weg nicht gehend zurücklegen, denn für ihn als einen Hauptverbrecher stand die Schleife bereit. Er legte sich, und der Henker band ihn an. »Nun, der ist barmherzig«, sagte er. »Er hätte mich härter binden können – er erspart mir doch einige Schmerzen. Selig sind die Barmherzigen.«

Der Zug setzte sich in Bewegung über den Marktplatz. Das Opfer des Verbrechens und des Gesetzes blickte mit seinen hellen Augen in die Menge, welche der Zug durchschritt, und lächelte da und dort einem bekannten Gesichte zu. Dann erhob er die Augen und blickte still in den blauen Himmel hinein, bis die zusammentretenden Häuser und die mit Menschen besetzten Fenster der schmalen Straße, in welche der Zug einlenkte, ihn daran verhinderten.

Die Fahrt ging langsam weiter durch die endlos lange Straße, die er in vergeblichem Jagen durchritten hatte, und immer durch Massen von Menschen hindurch, die sich zu beiden Seiten drängten oder aus den Fenstern sahen. Endlich, wie nach Verfluß einer Ewigkeit, war das Tor erreicht. Jetzt sah man die außerhalb im Freien wogenden Menschen, eine zahllose Menge, wie wenn das ganze Herzogtum versammelt wäre, um eine Landesangelegenheit von höchstem Gewichte zu beraten oder beraten zu lassen.

Vor dem Tore stand ein alter Mann, auf seinen Krücken lehnend. Die Tränen flossen ihm in den Stoppelbart, und er sah dem Verurteilten, der eben gegen ihn herankam, in das Gesicht. Auch dieser erblickte ihn jetzt und winkte freundlich mit den Augen. Er hatte seinen Invaliden erkannt, von dem er sich wohl sagen konnte, daß er nicht aus bloßer Neugierde den weiten und für seinen gebrechlichen Körper auch im Fahren beschwerlichen Weg hieher gekommen sei.

»Oh, wo naus, Frieder, wo naus?« rief der Alte traurig.

»Dem Himmel zu!« antwortete Friedrich Schwan mit jener hellen Kommandostimme, die bei so manchem Einbruch erschollen war.


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