Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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»Geh mir weg mit dem Oberamt!« murrte er. »Das eine Mal hören sie einen an, und das andere Mal jagen sie einen fort, sonderlich wenn man oft kommt. Was du gedacht und gesagt hast, das hab ich getan; 's ist just so weit, wie der Weg vom Weib zum Mann. Um Geld und Geldswert ist mir's weniger zu tun gewesen, als um dem hartherzigen Pfaffen zu zeigen, daß ich mehr kann als er, und daß er keine Stunde in seinem eigenen Hause sicher ist, wenn ich's nicht haben will. Er mag seine Türen und Läden so fest verschließen, als er will, Angst soll er vor mir haben, so lang er lebt, und wenn's mich einmal gelüstet, so schieß ich ihn von seiner Kanzel runter wie den Vogel vom Ast. Ich hab ihm noch ein paar Hostien mitgenommen, bloß um ihm zu zeigen, was ich auf sein Handwerk halte, wenn's einer um des bloßen Gewinns willen treibt.«

»Ich weiß ja wohl«, sagte sie, immer ihn zu besänftigen bemüht, »daß das alles ist, was man dir aus der ganzen traurigen Zeit vorwerfen kann. Du hast leben müssen wie der Vogel aufm Zweig, nur mit dem Unterschied, daß der Vogel leicht sein Futter findet, und ich möcht wohl auch sehen, wie viel sich in so einer Lag ehrlich durchschlügen, ohne sich am Eigentum des Nächsten zu vergreifen. Denn das bißle Gewildschießen mit dem Krämerchristle kann dir kein Mensch als ein Verbrechen andichten, und 's ist ja auch nicht rauskommen. Der einzig Streich mit dem Pfarrer hat dir den Hals brochen. Aber daß mein Bruder dabei gegen dich mitgeholfen haben soll, das will mir nicht ein. So viel denkt mir allerdings noch, daß er dazumal just in Ebersbach gewesen ist. Weißt, er hat sich ja gleich vom Zuchthaus aus unters Militär anwerben lassen und ist nicht mehr heimgekommen, bis unser Vater gestorben ist – ach Gott, wenn ich an den Tag denk! – und vor drei Jahr, um die Zeit, wo man dich gesetzt hat, ist er wieder im Urlaub dagewesen.«

»Komm«, sagte er, »du wirst doch nicht im Freien über Nacht bleiben wollen. Ich weiß auf unserem Weg einen kleinen Weiler, wo wir sicher sein werden. Wenn die Leut noch auf sind, so müssen sie uns ein Nachtquartier geben, wir sind ja Mann und Weib, und wenn sie schlafen, so weiß ich auch zu helfen.«

Sie verließen die harte, unebene Straße und schlugen einen gemächlichen Waldpfad ein, auf welchem sie in der bisherigen Weise sich umschlingend nebeneinander gehen konnten. »Wie mein Vater am anderen Morgen dem Pfarrer seine Sachen wieder geschickt hat«, fuhr er fort, »da hab ich gleich gemerkt, daß Mohren ist – ja so, das lautet böhmisch für dich – ich will eben sagen, ich hab gemerkt, daß Feuer im Dach ist, daß das Ding Lärm macht, hab mir also den Kopf nicht lang zerbrochen, sondern hab ihn zwischen die Füß genommen und mich in der ›Sonne‹ verborgen, bis ich etwas Luft hätt, um durchzukommen. Das war ein Rennen und Laufen den ganzen Tag, ich hab alles von meinem Versteck aus angehört und mich nicht gerührt. Möglich ist's, daß die Frau Sonnenwirtin in ihrem witzigen Hirn draufkommen ist, hinter den alten Fässern und dem Rumpelzeug im hundertjährigen Staub könnt was Lebendiges stecken, aber gradaus ist sie mir nicht zu Leib gegangen, das ist überhaupt ihr Genie nicht. Gegen die Nacht, während ich eben denk, jetzt könnt ich bald entschlüpfen, hör ich an meinem Versteck herumtappen, klopfen und Frieder! rufen. An der Stimm erkenn ich deinen Hannes, geb aber nicht gleich Antwort. Drauf fährt er fort, ich solle mich doch nicht so verstellen, er sei mit etlichen Kameraden im Urlaub da, sie haben von meinem Malheur gehört und meinen's gut mit mir, ich solle nur herfürkommen, sie wollen mich in die Mitte nehmen und mir durchhelfen; auch hab er mir von dir etwas Nötiges auszurichten. Was hätt ich ihm nicht trauen sollen? Mir ist's im Schlaf nicht eingefallen, daß er mir von früher her etwas nachträgt, was mich gar nicht einmal betrifft. Wie ich aber gutsmuts heraussteige, so fassen mich die Soldaten und schreien: »Arretiert!« Ich hätt mich vor denen pappeten Herrgöttern mit ihren Krautmessern und ihren gemalten Schnurrbärten nicht geforchten, ich hätt's mit allen aufgenommen, aber ich stand dir da, ganz steif und starr über die Verräterei, wenn man mich gestochen hätt, ich hätt kein Blut geben, und so bin ich regungslos von ihnen gefangen und gebunden worden. Wenn sie also behauptet haben, es hab einen Kampf und ein Getümmel gekostet, so haben sie schmählich gelogen, um ihre Heldentat desto größer zu machen.«

»Großer Gott!« rief sie jammervoll, »also mein eigener leiblicher Bruder hat dich ans Messer geliefert, und ich hab kein Wort davon gewußt! Es ist mir nur lieb, daß er jetzt weit weg in Garnison liegt. Und an mir willst du's nicht auslassen, daß mein Bruder so eine Schlechtigkeit an dir begangen hat?«

»Wär ich sonst so weit her zu dir kommen?«

Sie gab ihm ihre Dankbarkeit durch warme Liebkosungen zu erkennen. »Aber gelt«, sagte sie, »ich hab auch nicht lang gefragt, wie ich dich gesehen hab? Du hast nur sagen dürfen: Geh mit! und gleich bin ich gangen.«

»Auf Hohentwiel«, fuhr er fort, »hab ich keine gute Zeit gehabt. Harte, schwere Arbeit und liederliche Kost tagaus, tagein, immer das nämliche Leben zwei Jahre lang, und dazu die Aussicht, daß es in alle Ewigkeit so bleiben soll. Da kann einem der Spaß vergehen. Ich hab aber den Mut nicht sinken lassen, und gleich ein paar Wochen nach meinem Eintritt hab ich mich zu salvieren versucht. Das ist aber nicht so leicht wie im Zuchthaus, von wo mir's ein Kinderspiel war, dich ein paarmal zu besuchen. Sie haben mich zum Festungsbau gebracht, denn an ihrer unüberwindlichen und unübersteiglichen Festung, wie sie's heißen, bauen sie beständig fort, wie am Turm zu Babel, um sie immer noch unüberwindlicher und unübersteiglicher zu machen. Wenn ich eine Armee gegen sie zu führen hätte, ich wollt ihnen im Nest sitzen, eh sie's merkten, denn ich weiß, wo ihr berühmtes Kleinod schadhaft ist. Das erstemal ist mir's aber schlecht geraten, da hab ich noch im Bubenunverstand und im Desperationsfieber gehandelt, bin nur grad mitten in die Freiheit hineingesprungen, wo sie am breitesten und aber auch am tiefsten war, von einer großen Höhe herunter, aber dann auch keinen Schritt weiter mehr. Die Wachen haben gleich nach mir geschossen, aber von obenher trifft man nicht so geschwind, und das Schießen war unnötig, denn ich blieb ganz ruhig liegen, weil ich den Fuß gebrochen hatte. Nachdem ich geheilt war, mußte ich wieder arbeiten, und bei Nacht sperrten sie mich allein in einen Käfig, wo ich von lauter Quadern umgeben war. Nun war ich schon so gewitzigt, um zu wissen, daß das Verzweifeln zu gar nichts hilft, fraß also allen Grimm und allen Jammer um dich und allen Durst nach Befreiung in mich hinein, Tag und Nacht, und hielt mich still, als ob ich ganz zufrieden wär und hätte die Welt vergessen. Geduld, sagt das Sprichwort, Geduld überwindet Sauerkraut; aber freilich, man darf dabei nicht müßig gehen. Zum Glück hatte ich schon im Ludwigsburger Zuchthaus einige Brocken von der jenischen Sprache aufgeschnappt, und die konnte ich auf Hohentwiel fürtrefflich brauchen.«

»Jenisch?« unterbrach sie ihn. »Was ist denn das?«

»Paß auf!« sagte er. »Die Kochem scheften grandig in Käfer Märtine, schaberen bei der Ratte in Kitteren, fegen Schrenden, Klaminen und Hansel, holchen auf Gschock, tschoren Sore, zopfen Kies aus Rande, kasperen Gasche, achlen und schwächen toff mit nickligen Schicksen, josten im Flach um Jack, schmusen und schmollen, aber listig holchen Riescher, zopfen sie krank, kistig schupfen sie Schiebes, wenn sie aber in der Leke scheften und ihre Massematte maker werden, bestieben sie Makes Makoles, holchen kistig kapore, werden talcht, an die Nelle geschniert, gekibeset oder getelleret.«

»Hör auf, hör auf!« sagte sie. »Da wird's ja einem ganz dumm davon. Das ist rotwelsch, da versteh ich kein einzig's Wort.«

»Wie kannst du denn sagen, es sei rotwelsch, wenn du's nicht verstehst?«

»Grad deswegen! Was man nicht versteht, das heißt man so.«

»Du weißt nicht, daß du ein wahres Wort gesprochen hast, denn rotwelsch und jenisch, das ist die nämliche Zunge.«

»Du mein Heiland!« sagte sie betreten, »das sprechen ja aber nur die –«

»Kochem!« ergänzte er, da sie stockte. »Wenn du willst, kannst du sie auch Jauner, Diebe, Spitzbuben und dergleichen heißen, denn das sind ihre Namen bei den andern Leuten; sie selbst aber nennen sich Kochem. Dies ist die Gesellschaft, in die man mich zu Ludwigsburg und auf Hohentwiel getan hat.«

»Ach Gott, ach Gott!« seufzte sie. »Ich bin doch auch im Zuchthaus gewesen, aber ich hab gottlob keine Gelegenheit gehabt, das Jenische zu erlernen. Ich hab meistens bei einer Aufseherin arbeiten müssen, die mich zu sich genommen hat, und da hab ich, ich kann nicht anders sagen, manches Nützliche gelernt, was ich vorher nicht gewußt hab.«

»Das ist Glückssache«, sagte er. »Früher hat man mich in Ludwigsburg auch etwas apart gehalten, der selige Waisenpfarrer hat's damals nicht anders gelitten; das drittemal aber bin ich unter den großen Trotz gestoßen worden. Wiewohl, es war mein Glück, denn hätt ich nicht Jenisch gelernt, so säß ich heut noch auf Hohentwiel.«

»Was heißt denn das, was du da hergesagt hast?« fragte sie.

»Es ist nur eine Probe«, sagte er, »und bedeutet so viel als: ›Die Kochem sind groß an Mannschaft im Schwabenland, brechen bei Nacht in die Häuser, leeren Stuben, Kammern und Kästen, gehen auf Märkte, rapsen Ware, ziehen Geld aus Taschen, schnellen die Leute, essen und trinken gut mit ihren hübschen, tanzlustigen Weibsbildern (denn daran rühmen sie sich reich zu sein), liegen auf dem Feld ums Feuer, schwatzen und lachen, aber oft kommen Streifer, nehmen sie gefangen, oft machen sie sich davon, wenn sie aber ins Gefängnis geraten und ihre Sachen an Tag kommen, kriegen sie Schläge und Prügel, müssen auch oft sterben, werden gemalefitzt, an den Galgen gehenkt, geköpft und gerädert.‹«

»B'hüt uns Gott!« rief sie, »und solche Reden gehen aus ihrem eigenen Mund?«

»Das sind Dinge, von denen sie täglich reden, um sich recht an den Gedanken zu gewöhnen, gleichwie der Amalekiter König Agag zu Samuel sprach: ›Also muß man des Todes Bitterkeit vertreiben.‹«

»Für'n Amalekiter mag das schon recht sein, aber es sind doch schreckliche, greuliche Ding, und man kann's nicht verantworten, daß man dich so jung mit so Leut zusammengepfercht hat. Ach Frieder, ich bitt dich, laß du sie links ziehen und halt dich nicht zu ihnen.«

»Nein«, sagte er, »ich hab allen Respekt vor ihnen und will mich auch nicht mit ihnen einlassen. Deswegen gehen wir ja außer Landes, wo auch gut Brot essen ist und wo mich keiner von ihnen kennt.«

»Bei der Flucht von Hohentwiel also sind sie deine Kameraden gewesen? Ich kann mir's jetzt schon denken.«

»Mit Hilfe des Jenischen«, fuhr er in seiner Erzählung fort, »brachte ich bald heraus, welche von den Gefangenen die tauglichsten waren und meinem Gefängnis am nächsten lagen. Zum großen Glücke hatte ich zwei Nachbarn, ganze Kerls, mit denen ich den Teufel aus der Hölle schlagen wollte. Uns zu verständigen, das war uns eine Kleinigkeit. Im Vorbeigehen etwas hingemurmelt, oder im Sprechen mit der Schildwacht oder dem Aufseher ein paar jenische Brocken eingestreut und dabei dem eigentlichen Adressaten den Rücken zugekehrt – das ist für einen Kochem so viel wie ein ganzes Buch; aus zwei, drei Worten, die von einem andern fast ohne Mundbewegung an ihn hergesäuselt kommen, studiert er sich alles raus, was er nötig hat. Freilich braucht's auch manchmal längere Verständigungen. Da kommt man denn am besten mit Singen fort. Ein Gesetzlein aus einem Gassenhauer, wenn die Schildwacht gutmütig und selber lustig ist, oder wenn man nicht trauen darf oder gar einander ein langes und breites zu sagen hat, ein Kirchenlied, das hilft einem weit. Wie hab ich's nicht meinem alten Schulmeister gedankt, daß er mir die Choräle so ferm eingetrichtert hat! Die Soldaten haben oft ganz andächtig zugehört, wenn ich ein langes Bußlied nur so halblaut vor mich hin gesumset und dabei den Text zwischen den Zähnen zerdrückt, nur hie und da ein deutsches Wort deutlich herausgehoben hab. Das Undeutliche aber war alles jenisch und für meine beiden Leidensgenossen deutlich genug. Das hat dann dazu dienen müssen, noch eine zweite Sprache miteinander zu verabreden, die unsre Hauptsprache werden mußte. Die Quader nämlich waren viel zu dick, als daß wir uns bei Nacht hätten unterreden können, und daran war uns natürlich am meisten gelegen. Nachdem wir aber ein bequemes Alphabet fertiggebracht hatten, so klopften wir einander ganze Nächte fort, und was wir klopften, das waren lauter Worte und Sätze. Gelt, du mußt lachen? Aber die Klopfsprache war mir damals die liebste in der Welt und hat sich auch viel besser bewährt als die Blutsprache, die du mir einmal im Arm auf die Wanderschaft hast mitgeben wollen. Zu allem andern Glück kam dann noch ein kostbarer Fund, ein Nagel nämlich, der mir eines Tages in die Hände geriet, und dieses kleine Werkzeug hat den Grund zu unserer Freiheit legen müssen.«

»Was bist du für ein Mensch!« rief sie. »Man sollt oft meinen, du seiest mehr als ein Mensch.«

»Du kannst dir denken, wie oft mir da die Finger geblutet haben, und dann hab ich's sehr gefühlt, daß ich ein Mensch bin, und wenn ich ans Freiwerden und an dich und unsere Kinder gedacht hab, da hab ich auch wieder gewußt, daß ich einer bin. Um es kurz zu machen, nach einer vierteljährigen schweren Nachtarbeit, neben den schweren Tagesarbeiten, war ein Loch durch die Mauer glücklich gebrochen, das niemand entdeckte, aber dann dauerte es noch lang, bis alle günstige Umstände zusammentrafen. Was irgend zum Knüpfen und Binden tauglich war, das hatten wir in den zwei Jahren wie die Hamster zusammengescharrt, und das kleinste Flöcklein Hanf war uns nicht zu schlecht gewesen. Keine Seele kann sich eine Vorstellung machen, was das ein Stück Arbeit gewesen ist und welche Attention, Diebesgeschicklichkeit und Spitzbüberei es erfordert hat, nach und nach die nötigen Stricke zusammenzubringen. Das war fast noch mehr als die Arbeit an der Mauer. Viele Stunden lang müßt ich erzählen, wenn ich dir alles ausführlich sagen wollte; aber wer diese Werke und diese Felsen und diesen spitzen Wolkenkegel nicht gesehen hat, dem kann man doch keinen Begriff von den Schwierigkeiten einer solchen Flucht beibringen. Ich würd's auch keinem übelnehmen, wenn er's nicht glaubte; aber die Tatsache steht nichtsdestoweniger fest, denn ich war lebenslänglicher Gefangener und bin nicht freigegeben worden und geh jetzt dennoch hier an deiner Seite durch den freien grünen Wald und hab ihnen den Stolz auf die Unüberwindlichkeit ihrer starken Feste Hohentwiel zuschanden gemacht. Und nun frag dich, wenn ich das zustand gebracht hab, ob ich nicht auch imstand sein müsse, dich und deine Kinder durch Fleiß und Geschick irgendwie durchzuschlagen.«

»Oh, du kannst alles, was du willst«, sagte sie mit schmeichelndem und zugleich neckendem Tone, »bist ein halber Hexenmeister worden, und ich weiß gar nicht, du red'st auch nimmer wie sonst in Ebersbach, dein Reden hat so eine fürnehme Art, und brauchst Ausdrück, wie ich's nie früher an dir gehört hab.«


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