Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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»Die Art gefällt mir erst noch«, bemerkte er. »Würd im Zuchthaus immer väterlich und mütterlich regiert, so daß das Haus seinen Namen verdiente und die Leute darin zur Zucht gebracht würden, so wär's das beste, sie auf unbestimmte Zeit hineinzutun, bis der Zuchtvater oder die Zuchtmutter sie wieder freisprechen würden, und bekäm das vielleicht manchem gut, der jetzt andere zum Zuchthaus verdammt. Und dann möcht' man einen, der nicht gut tut, meinetwegen auf lebenslänglich drin lassen; nur weiß ich keinen Menschen, dem ich ein solches Urteil anvertrauen möchte, als höchstens meinem seligen Waisenpfarrer.«

»Wie ich wieder aus'm Zuchthaus kommen bin«, fuhr Christine fort, »hab ich gehört, du seiest dagewesen, aber seiest wieder fort in die weit Welt. In der ›Sonn‹ hat man nicht davon geschnauft, wo du bist. Ich hab selber einmal angefragt, da hat mir die Sonnenwirtin ein Stückle Brot hingelegt und hat gesagt, du seiest ganz verschollen und 's tät für mich und alle das best sein, du bliebest's auch. Ich hab das Brot liegenlassen und bin fort. Mein Jerg ist grad dazumal nicht zu Haus gewesen, und mein Mutter hat mich nicht behalten wollen, weil ich ihr eine unnütze Brotesserin sei, wiewohl sie eigentlich uns ihr Brot verdankt, denn sie ißt's eben mit unseren Kindern, die man ihr in Verpflegung geben hat.«

»Aus dem Heiligen?«

»Nein, so spendabel ist der Heilig nicht. Da hat's geheißen: ›Herr Sonnenwirt, Er ist ein reicher Mann, und die Kommun kann da nicht eintreten, also zahlt Er das Kostgeld für Seine Enkel.‹«

»Ist wahr, er hat mir einmal geklagt, die Kinder kosten ihn so viel Geld und deswegen könne er das Geld zur Auswanderung nicht so geschwind aufbringen.«

»Solang mein Jerg dagewesen ist, hat's den Kindern an nichts gefehlt, seit der aber mehr und mehr fort ist, hat man anders für sie sorgen müssen. Wie nun mein Mutter mir hat zu verstehen geben, daß ich ihr überlästig sei, hab ich meine Kinder mit tausend Schmerzen küßt und hab das Herz in beide Händ genommen und bin nach Denzlingen gangen zur Schulmeisterin. Die ist zum Glück grad in der größten Verlegenheit gewesen und hat gesagt, ich hätt ihr nicht geschickter kommen können, sie hab eben eine Magd aus'm Dienst gejagt, die ihr gestohlen hab. Drauf hat sie zu ihrem Mann gesagt: ›Sieh, mit der äußerlichen Frömmigkeit sind wir angeführt gewesen, jetzt folg mir und hilf mir's auch einmal mit dem Weltkind da probieren; die ist kein Heilige und hat viel durchgemacht, aber vielleicht wird ihr auch viel verziehen, und ehrlich ist sie auf alle Fäll.‹ Er ist's dann zufrieden gewesen. Ob sie ihm alles von mir gesagt hat, weiß ich nicht, es ist nie zwischen uns die Red davon gewesen, aber ich hab in dem Haus gelebt wie im Paradies. Die Leut sind fromm, nicht bloß mit Morgen- und Abendsegenlesen, sondern reden auch den ganzen Tag von frommen Sachen, wie's eben das Geschäft erlaubt, denn darin versäumen sie nichts; aber – ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll – in ihrem Christentum ist so etwas Gegenwärtig's, das nicht bloß hoch im Himmel droben oder weit fort im jüdischen Land, sondern mitten in Denzlingen drin ist und immer dem heutigen Tag und der jetzigen Stund gilt, ganz anders, als man's sonst in der Kirch und im Leben trifft. Und grad so sind die Pfarrersleute auch, drum halten sie zusammen, wie man's selten bei Pfarrer und Schulmeister find't. Dabei sind sie allweil guter Ding und oft sogar recht lustig und zum Lachen aufgelegt, besonders der Pfarrer macht gern allerlei Späße, und der Schulmeister antwortet ihm drauf, lassen sich auch nichts abgehen, wiewohl sie gar nicht dick tun und ihr Sach reichlich mit der Armut teilen. Aber freilich, sie haben's auch, und wer bei ihnen ist, wird alle Tage satt. Ich hab oft nachts vorm Einschlafen dran denken müssen, wie mir's so gut geht und wo du jetzt auch umirren werdest und ob meine arme Kinderle satt ins Bett gangen seien, denn ich sag dir's ungern, aber 's ist hohe Zeit, daß wir nach ihnen sehen: meiner Mutter ist das Tischtuch lieber als das Hungertuch, sie hat zwar nie viel gehabt, aber je ärmer sie wird, desto schleckiger ist sie; sie verschleckt alles, was sie kann.«

»Das muß aufhören«, sagte er. »Heut abend sind die Kinder da, wo sie hingehören: bei uns. Jetzt ist nur noch die Frage, wie ich mich mit meinem Vater auseinandersetzen soll. Seine Antwort hat mich wenig kümmert, ich hab vorher mit dir einig sein wollen. Hättest du jetzt eher Lust, aus deinem Paradies heraus mit mir nach Pennsylvanien zu gehen?«

»In den Mond, wenn's nicht anders sein kann«, erwiderte sie. »Die Hauptsach ist, daß wir beieinander sind, wir und die Kinder, drum hat's mir auch kein Augenblick zweifelt, was ich tun soll. Aber hör, wenn's dein Vetter so gut mit dir meint, wie du sagst, könnten wir denn nicht bei dem ein Plätzle finden, oder tät er uns nicht zu einem verhelfen, daß wir nicht so weit fliegen müssen und unterwegs vielleicht die Flügel verstauchen?«

»Ja sieh«, antwortete er, »der Vetter hat's freilich gut mit mir vor, aber Welt ist überall Welt, er sieht auch aufs Greifbare und fragt nicht danach, ob's Motten und Rost fressen. Darum hätt ich ihm nicht meine ganze Absicht anvertrauen mögen, weil er mir mit einem einzigen Wort dazwischen hätt fahren können. Wenn ich aber mit dir und den Kindern da bin, so kann er auf keinen Fall verlangen, daß ich euch wieder heimschicken soll; und wenn alle Sträng brechen, nun, dann ziehen wir eben weiter, bringen uns im Krieg mit Marketendern fort, oder gehen übers Meer.«

Sie sah ihn zweifelnd an und schwieg, aber der heitere Schimmer von Hoffnung, der ihr Antlitz neu zu beleben begonnen hatte, wich allmählich wieder aus ihm, und jener Zug leidender Geduld und Entsagung, der den Frauen aus dem Volke einen so mitleiderregenden Gesichtsausdruck geben kann, nahm seine alte Stelle ein.

Der Wald öffnete sich, und vor den beiden Wanderern lag die Alb, an deren Fuße sich eine schmale Straße hinzog. »Wollen uns dem Bergsträßle da anvertrauen«, sagte er. Sie taten es, indem sie die Ortschaften, die ihnen in den Weg kamen, auf den durch die Felder führenden Fußpfaden umgingen. Die Sonne begann für einen Herbsttag ungewöhnlich heiß zu brennen, und ihre scheitelrechte Stellung zeigte den Mittag an. »Ich wollt, ich hätt was zu trinken«, seufzte Friedrich, »und wär's auch nur ein Schoppen Most oder Appelwein, wie sie am Main drungen sagen.«

»Und mir tät ein Löffele Warm's noch nöter«, seufzte Christine ebenfalls.

»Gelt, arm's Weible«, sagte er, »dir ist's ungewohnt, mit langem kaltem Magen zu wandern. Da hast Geld, geh du in den Ort da hinein und laß dir eine Suppe geben, kannst mir dann etwas zu trinken und ein Brot dazu herausbringen, das genügt für mich. Das Geld, das ich mir in dem halben Jahr zu Sachsenhausen erspart hab, muß für uns und die Kinder reichen. Ich will mich derweil unter den Baum in Schatten legen.«

»Meinst, es hab kein Gefahr?« fragte sie.

»Ich kenn mich so weit in der Gegend aus«, erwiderte er, »daß der Berg da über uns die Teck ist. Da herum sind wir ja ganz unbekannt. Du siehst aus, wie wenn du aus der Nachbarschaft wärst, und wenn ich in meiner städtischen Tracht zurückbleibe, so fällst du niemand auf.«

Er gab ihr Geld und seine leere Feldflasche und streckte sich bequem unter dem Baum aus, indem er sein dreieckiges Hütchen neben sich legte. In diesem Augenblick kam ein Mann vorüber, der den gleichen Weg mit ihnen zu haben schien. Er blickte das fremde Paar mißtrauisch an und mäßigte seinen Gang, so daß er Christinen, die jetzt auf das Dorf vor ihnen zuschritt, immer auf dem Fuße folgte. Friedrich sah nach, und die Begegnung wollte ihm nicht recht gefallen; doch schien sie auch keine ernste Besorgnis einflößen zu können. Seine Augen begleiteten Christinen, bis sie in dem Dorfe verschwunden war; auch ihren Nachfolger verdeckten jetzt die Häuser. Er legte sich auf den Rücken zurück, sah in das falbe Laub und durch dieses zum blauen Himmel empor. Dabei vergegenwärtigte er sich, wie Christine auf ihre Suppe wartete, wie sie dann dieselbe empfing und wie sie sich endlich mit der gefüllten Flasche auf den Weg machte. Jetzt mußte sie wieder an den äußersten Häusern erscheinen: er sah hin, aber er hatte die Zeit zu kurz gemessen und sich verrechnet. Er legte sich wieder zurück und wartete geduldig; er hatte ja das Warten gelernt; aber endlich deuchte es ihm doch ziemlich lang. Er sah wieder hin: sie kam noch nicht. Nun zählte er bis auf eine bestimmte Zahl, die er sich vornahm, und da er zu schnell gezählt zu haben glaubte, so wiederholte er dieses Geduldspiel ein paarmal, jedoch umsonst. Endlich zählte er ununterbrochen und langsam, wie er meinte, bis auf hundert fort: Christine kam nicht. Jetzt begann es ihm unheimlich zu werden. Er stand auf und ging sachte auf das Dorf zu. Schon war er in die Nähe desselben gelangt, als er eine beträchtliche Menge bewaffneter Mannschaft, welche bei der Unsicherheit der Zeit in jeder Gemeinde schnell auf den Beinen war, herausdringen sah. Die einen waren mit Flinten, die anderen mit Spießen oder Prügeln versehen, und ihre Blicke ließen ihn nicht im Zweifel, wem dieser Ausfall gelte. Während sie sich rasch gegen ihn in Bewegung setzten, entsprang er in das Feld. Sie verteilten sich und suchten ihn einzukreisen, aber seine Schnellfüßigkeit hatte ihn bald in dem Dickicht des Waldes am Teckberge ihrer Verfolgung entzogen. Er schlug sich die Kreuz und Quere durch das Holz, bis er von einer sicheren Stelle auf den Boden, den er hatte räumen müssen, hinunterspähen konnte. Nicht lange, so sah er jenseits des Dorfes Bewaffnete, die ein Weib in der von ihm und Christinen beabsichtigten Richtung in ihrer Mitte führten. Er konnte nicht zweifeln, daß sie es sei, und konnte sich's ausmalen, wie der Mann, dem sie begegnet, die Anzeige gemacht hatte, sie gehöre zu einem verdächtigen Kerl, der sich nicht ins Dorf herein traue. Seinen Namen hatte sie gewiß nicht angegeben, aber ohne Zweifel ihre Heimat, und wurde jetzt bis nach Göppingen von einer Streifmannschaft der anderen übergeben.

Er knirschte, biß sich in die Finger, daß seine Zähne blutige Spuren hinterließen, und blickte anklagend gen Himmel. »Also keine Ruh, keinen Frieden!« rief er, »wiederum hast du mich in die Wüste geworfen!« Dann machte er in Gedanken auch Christinen Vorwürfe, daß sie so ungeschickt gewesen sei, sich fangen zu lassen. Endlich schüttelte er sich unmutig, als ob er alle Gemütsbewegungen, mit welchen er sich vergebens peinigte, zu Boden werfen wollte. Mit einer gewaltsamen Kraft arbeitete er sich durch die Gebirgswälder hindurch, und das Gestrüpp krachte unter seinen Händen und Füßen, bis er endlich, halb erschöpft, abgelegene Pfade einzuschlagen wagte, die ihn in weiten Krümmungen seinem Ziele näher führten.

Der Tag hatte sich tief geneigt, als er auf diesen verborgenen Umwegen, todmüde vor Hunger und Anstrengung, auf einer vorspringenden Höhe herauskam und unter sich in der Breite des Tales die Stadt liegen sah, von wo aus er so oft in die Gefangenschaft gesendet worden war und wo nun auch Christine abermals ihr Schicksal erwarten sollte. Ihr freundlicher Anblick stimmte schlecht zu der Unglücksbedeutung, die sie für ihn und die Genossin seines irren Lebens angenommen hatte.


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