Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Während der Invalide so die einzelnen Einwendungen, die ihm gemacht wurden, niederschlug, hörte er nicht, wie das Murmeln und Murren um ihn her immer stärker wurde. »Von was für einem Ausbund ist denn da die Red?« rief der Müllerknecht erbittert, »man sollt meinen, das wär ein Muster, nach dem sich ein jedes richten müßt, und wenn man nach dem Namen fragt, so ist's ein Mörder, der seinem Nebenmenschen ohne weiteres das Messer in Arm sticht!«

»Das ist auch ein wüster Streich gewesen«, sagte der Invalide, der sich nicht irremachen ließ, »aber mit'm Zuchthaus ist er doch, mein ich, hart genug abbüßt worden. Zum Messer greifen freilich nicht alle, denn da gehört schon ein wenig mehr Mut dazu, aber mit'm Prügel oder mit'm Stuhlfuß ist jeder gleich bei der Hand, wenn der Wortwechsel hitzig wird und es fällt ihm nichts Gescheit's mehr ein, und da schlagen sie einander so über die Köpf, daß man sich nicht wundern darf, daß es so viel dumme Leut gibt. Streit und Certat muß sein in der Welt, sonst ist's langweilig, aber wohl wär's besser, die Menschen täten witzig miteinander fertig werden statt spitzig, einander tupfen statt stechen, striegeln statt prügeln, mit dem Kamm lausen statt mit dem Kolben. Wenn aber einer tut, was alle tun, und tut's mein'thalb ein wenig ärger, so sollt man ihn doch nicht um 'n ganzen Stock höher henken, wie wenn er was ganz Besonders getan hätt.«

»Es scheint, da muß sich die Obrigkeit verantworten!« warf der Fischer bissig dazwischen.

»Ich hab mein jährliches Gratial vom Haus Östreich«, sagte der Invalide stolz, »die Obrigkeit kann mir nichts geben und nichts nehmen. Ich sag nichts wider sie, aber ich red, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«

»Ja, für'n wild's Tier, das dem Flecken täglich mit Mord und Brand droht hat!« schrie der Müller, der den Wein zu spüren begann.

»Um dieser Reden willen hätt ich auch wieder 'n Stecken für ihn in Bereitschaft«, sagte der Invalide, der nach langer Krankheit wieder einmal ausgegangen war und sich hinter dem Glase so behaglich fühlte, daß er aufgelegt war, seine Meinung standhaft gegen Feind und Freund durchzufechten. »Und zwar tät ich ihn darum züchtigen, weil er mit solchen Reden sich selber am meisten schad't. Aber er hat sich nicht schlecht dagegen verantwortet schon vor sechs Jahr, wie der Schütz einmal aus'm Verhör erzählt hat. ›Reden denn die andern französisch?‹ hat er gesagt. Und das ist die Wahrheit. Wo man hinhört, wie die Leut voneinander reden, so hört man: ›Den Kerl mach ich kalt, ich hau ihm 'n Flügel vom Leib, hin muß er sein, nicht lebendig soll er mir vom Platz kommen‹, aber: ›die ganz Familie muß mir ausgerottet sein, es soll keiner übrigbleiben, der an die Wand pißt‹, mit Respekt zu melden, wie's in der Bibel heißt. Ist's denn viel ärger, wenn einer droht, er zünd den Flecken an, daß den Leuten die Häuser überm Kopf abbrennen, und das Kind im Mutterleib dürf ihm nicht davonkommen? Ist nicht ein Geschwätz so dumm wie das ander, und ist aus'm einen mehr worden als aus'm andern? Was hat er denn getan, frag ich.«

Das Murren war allmählich zum Geschrei gestiegen, und einige Stimmen riefen bereits: »Schmeißet ihn naus!«

»Redet ihr feiner?« fuhr der Invalide mit erhobener Stimme fort. »Ihr seid auch grob wie ungespalten Holz, aber ihr wisset's nicht, weil ihr euch selber vor eurem eigenen Schreien nicht höret. Ihn aber höret ihr, weil er mit seiner Bärenstimm Manns genug ist, euch alle ins Stroh zu schreien, und weil er noch trotziger und wilder und wüster als ihr reden kann, wenn er verzürnt ist. Das nehmet ihr dann als bare Münz, wiewohl er euch den Flecken noch lang nicht anzünd't hat, aber was Gut's an ihm ist, das wollet ihr nicht für bar gelten lassen.«

Der Invalide blickte ruhig in den jetzt ausbrechenden Sturm, auf nichts als seine Gebrechlichkeit vertrauend, obgleich wenig darauf zu wetten war, ob er mit heiler Haut davonkommen würde: denn nicht nur war das Geschrei gegen ihn zum tobenden Gebrüll geworden, sondern es hatten sich auch Fäuste gegen ihn erhoben, und darunter die beiden derben Schlagwerkzeuge des Müllerknechts, der es durchaus nicht in seinen Kopf bringen konnte, daß man einen Menschen in Schutz nehme, der ihm, seinem Freund und Guttäter, das Messer in den Arm gestoßen hatte.

»Mir scheint's, man muß den Flecken noch besser säubern«, schrie der Fischer, dessen Stimme nur noch in der nächsten Umgebung zu verstehen war. »Wenn ein Fleckenräuber so Freund im Ort selber hat, so ist's kein Wunder, daß er sich bei Tag und Nacht ohne Gefahr hier aufhalten kann.«

»Er ist in der ganzen Zeit nicht ein einzigs Mal bei mir gewesen«, entgegnete der Invalide, der sich gleichfalls nur noch seinem Gegner und den Zunächstsitzenden vernehmlich machen konnte. »Er weiß wohl, daß ich ein alter, hilfloser Mann bin und daß er mich nicht in Verlegenheit bringen will, wiewohl er weiß, daß ich ihm nicht feind bin, das ist auch noch nobel von ihm.«

»Nobel!« schrie der Fischer giftig. »B'hut uns Gott vor Gabelstich, dreimal gibt neun Löcher!«

Der Aufruhr in der Gesellschaft hatte den höchsten Gipfel erreicht, als der Schütz eintrat und durch sein Erscheinen wie ein Wetterableiter wirkte. Nicht der Anblick des Stückes Obrigkeit, sondern sein Aussehen war es, was den Sturm beschwor. Die listig zusammengekniffenen Augen, die blinzelnd auf der rotglühenden Nase hafteten, und die schalkhaft herausgepreßten Lippen verrieten es, daß ihn ein Geheimnis drückte, das neben einem Teil Verlegenheit viel Spaßhaftes enthalten mußte.

»Im Amthaus hat man's seit heut vormittag schon gewußt«, begann der Schütz geheimnisvoll. »Dort ist ein Jubeln und Lachen darüber, daß dem gestrengen Herrn so eine Eul aufgesessen ist.«

»Was ist denn geschehen?« fragte der Müller, dem Schützen sein Glas anbietend, da er dies für das geeignetste Mittel hielt, ihn zum Reden zu bringen.

Der Schütz trank es vergnüglich aus und antwortete dann: »Man darfs eigentlich noch gar nicht sagen, das Oberamt hat's bei Kopfabhauen verboten, denn dort schämen sie sich schwarz.«

Andere folgten dem Beispiel des Müllers, da der Schütz entschlossen schien, seine Neuigkeit so gut als möglich zu verwerten.

»Was ist denn los?« fragte endlich der Fischer den Invaliden.

»Ein Vogel«, antwortete dieser lachend.

Der Schütz sah den Fischer, der seinen Wein an ihm gespart hatte, eine Weile stillschweigend an, gleichsam um die Wirkung seiner Worte vorzubereiten. »Er ist durch!« sagte er dann und griff wieder zu seinem Glase.

Das blasse Gesicht des Fischers, der die Wahrheit bereits geahnt haben mochte, wurde einen Augenblick kreideweiß. Die andern begriffen noch nicht recht, um was es sich handelte, und starrten den Schützen mit aufgerissenen Augen an. »Wer ist durch?« fragte der Müllerknecht.

»Wer?« rief der Schütz. »Gibt's denn zwei so? Der von Hohentwiel über alle Mauern und Festen fortgeflogen ist, hat dem Göppinger Käfig die Ehr auch nicht lassen wollen. Wie er gestern eingeliefert worden ist, schon spät in der Nacht, hat man ihn auf die Hauptwacht gesetzt, hat ihm ein eisern Halsband und den Hosenträger angelegt und hat ihn mit einer Kette an die Wand angefesselt, so daß er drei, vier Schritt hat in der Stub rumgehen können. Auch hat man ihm zween Mann beigegeben, die ihn die ganz Nacht hätten verwachen sollen. In der Nachmittnacht ist der ein Wächter fort und hat eins geschrien; wie er aber zurückkommt, find't er sein Kameraden eingeschlafen – der behauptet, es müss ihm angetan worden sein – und kein Sonnenwirtle ist nimmer dagewesen. Er hat den Göppingern ihren Geschmuck mit fort, Halsband und Hosenträger, wahrscheinlich hat er's zum Andenken behalten wollen. Und sein Christine wird jetzt auch wieder bei ihm sein. Ich glaub, er hat sich extra deswegen fangen und nach Göppingen liefern lassen, um sie dort abzuholen, aber er ist zu spät gekommen, denn gestern abend, noch vor seiner Ankunft, hat man sie losgelassen, weil man nicht gewußt hat, was man eigentlich mit ihr tun soll. Und da wird er wohl denkt haben, er sei jetzt überflüssig, und ist also auch gleich wieder fort.«

»Sapperlot«, fluchte der Fischer ingrimmig, »die Göppinger können warten, bis ich ihnen wieder einen fang und mir für sie die Finger verbrenn.«

»Nur kein unnötig Geschrei!« mahnte der Schütz. »Der Befehl ist, man solle vorderhand kein unzeitig Geschrei machen, wenn er aber so verwegen sei, daß er sich abermals in die hiesige Gegend ziehe, so solle man unverweilt und mit der größten Öffentlichkeit einen Preis von hundert Gulden auf seinen Kopf setzen.«

»Hundert Gulden?« rief der Fischer. »Auf sein Kopf?« rief der Müller.

»Hundert Gulden, wer ihn bringt, lebendig oder tot«, antwortete der Schütz.

Der Fischer schlug die flachen Hände auf den Tisch. »Den Preis will ich verdienen«, sagte er.

Die anderen Gäste tranken schweigend aus, und ihre langen Gesichter verrieten, daß das Gelübde des Fischerhannes sie nicht sonderlich im Glauben an die Sicherheit des Fleckens befestigt habe. Bei dem allgemeinen Aufbruch waren der Invalide und der Schütz die letzten. »Gelt, Beck, hast auf eine größere Zech abgehoben?« sagte dieser zum Bäcker, »und jetzt ist auf einmal ein Haar in dein Wein gefallen. Ich will dich wenigstens einigermaßen schadlos halten. Gib mir ein paar Schoppen mit, das Amt soll's zahlen. Es muß heut nacht etliche Mannschaft auf'm Rathaus wachen, für alle Fäll: Der Herr will ruhig schlafen können, denn 's ist ihm doch nicht ganz wohl bei der Sach.«

Der Schütz empfing den verlangten Wein und ging mit dem Invaliden fort. Der Bäcker, der jetzt allein war, zündete eine Küchenampel an, löschte die Lichter aus und setzte sich in den hinterlassenen Lehnstuhl seiner verstorbenen Frau, um hier die nahe Backstunde abzuwarten, vielleicht auch in der Hoffnung, an die Wachmannschaft auf dem Rathause noch etwas von seinem Wein abzusetzen. Er schlief ein, glaubte aber noch nicht lange geschlafen zu haben, als er, durch ein Geräusch oder eine innere Beunruhigung erweckt, die Augen aufschlug. Mit offenen Augen glaubte er zu träumen, denn am Wirtstische saß in dieser späten Stunde eine Gestalt, die den großen Krug vor sich aufgepflanzt, eine Flasche daraus gespeist hatte und den Wein aus dem gefüllten Glase bedächtig kostete. Der Bäcker schloß die Augen und öffnete sie wieder, aber die Erscheinung war noch immer da und schien greifbare Wirklichkeit zu sein. Durch den Wald von Kopf- und Barthaaren, die das trotzige Gesicht beinahe ganz bedeckten und ihm für einen unter lauter glatten Gesichtern aufgewachsenen Menschen ein fürchterliches Aussehen gaben, erkannte er ihn bei dem armseligen Schein der Ampel, den Gefürchteten, den Schrecken der Gemeinde, des Amtmanns und des Vogts. Sein Blick ruhte mit spöttischem Ausdruck auf dem Wirt. »Hast wieder einmal geduselt, Beck?« begann er. »Dein Wein ist nicht besonders. Wie dein Weib noch gelebt hat, hast du einen besseren geführt. Gott hab sie selig, sie war ein braves Weib, schlecht und recht, betete wenig Sprüche, hatte aber Christentum im Herzen und hätte es für eine Sünde gehalten, einen guten Wein zu verderben. Ich will nicht hoffen, daß du ihn schmierst.«

»Er steht schon den ganzen Abend im Krug«, sagte der Bäcker schüchtern. »Ich will frischen holen.«

»Tu das und komm bald wieder, denn ich hab eine Erquickung nötig.«


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