Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Vierunddreißigstes Kapitel

Der letzte Schnee des Winters war gefallen und wieder gegangen. Der Frühling hatte den Wald mit dem Jauchzen der Vögel erfüllt und das Feld mit dem lichten Meere seiner Blüten überflutet; die Blüten waren gefallen, und der Waldgesang war immer dünner geworden. Die Sonne brannte stärker, und der anbrechende Sommer verhieß der harrenden Welt die Fülle seines Segens, so daß es unmöglich schien, daß inmitten des überall aufschießenden Reichtums Armut, Not, Hunger und Gier nach der Habe des Glücklicheren in der Welt vorhanden sein sollte.

Auf einem abgelegenen Hof, der zwischen dem Hohenstaufen und dem Filstal mitten in den Wäldern von einem spärlichen Stück Feld umgeben lag, saß eines Tages der Erbe der »Sonne« von Ebersbach bei dem Weib, um dessen Besitz er so lange mit der Welt gestritten hatte, bis ihm selbst jeder Anspruch auf ein Eigentum und eine Heimat in der Welt verlorengegangen war. Mit Hilfe des Krämerchristle hatte er sie bei einer hier verheirateten Schwester desselben untergebracht, zahlte ein kleines Kostgeld für ihren armseligen Unterhalt und kehrte von seinen Streifereien in der Gegend immer wieder zu ihr zurück. Die Hofbewohner waren ihren Feldarbeiten nachgegangen, und das Paar befand sich allein. Christine saß am Tisch, wo sie ein paar rohe Lappen zusammengenäht hatte, und stützte den Kopf auf den aufgelegten Arm. Friedrich hatte sich in die Fensterecke gedrückt, wo er mit gekreuzten Armen düster vor sich hin brütete. Die ärmliche Wohnung gewährte ihnen einen vorübergehenden Schein von Haus und Heimat, der aber freilich schnell wieder verschwand, sobald jemand von den wirklichen Insassen in die Stube trat.

Nach einem langen trüben Stillschweigen warf sie einen Blick auf seinen abgenutzten Rock, sah aufmerksam hin und rief: »Daß Gott erbarm! Du hast ja Blut am Ärmel.«

»Kann sein«, erwiderte er, »es hat dich schon einmal unnötig erschreckt.«

»Das ist aber im Winter gewesen. Frieder, Frieder, sag mir's, hast du jemand erschossen?«

»Just wie damals, wo du mich das erstemal gefragt hast. Damals hab ich gesagt: ›Dumme Seel, freilich hab ich einen erschossen, draußen im Wald liegt er, hat ein ledern Röcklein an und einen zackigen Hut auf'm Kopf‹; und dasselbe sag ich dir heut wieder.«

»Ja, ist denn schon wieder die Zeit, daß man einen Hirsch schießen kann?«

»Not bricht Eisen«, sagte er. »Sie sind noch erbärmlich dürr, und es gehört ein guter Hunger dazu, um das Fleisch genießbar zu finden, aber im schlimmsten Fall ist wenigstens die Haut zu brauchen. Das Handwerk hat überhaupt stark nachgelassen, und ich seh kaum hinaus, wie's weiter werden soll. Ich hab den Winter über das groß und kleine Gewild rudelweis geschossen und die ganze Umgegend von Boll bis Gmünd damit versorgt; und da führt mir der Teufel noch den Hof daher, der mir nicht bloß die Jagd, sondern noch vielmehr den Handel verdorben hat, denn die machen dir in ein paar Tagen ein Schlachtfeld, daß man's schier verwesen lassen muß. Wildbret ist so wohlfeil und so unwert geworden, daß man mir einmal in einem Pfarrhaus ein übergelassenes Stück Hirsch vorgesetzt hat von meiner eigenen Hand. Ich hatt's den Tag zuvor geschossen und durch den Christle dahin verkaufen lassen, der's ihnen mit Müh' und Not aufgeschwätzt hat um ein Bettelgeld. Wie ich den Tag drauf vorüberkomme, ruft mir die Pfarrerin vom Fenster, ob ich nicht ums Warme ein wenig Holz spalten wolle. Ich hab's gern getan, weil mich's gefroren und gehungert hat; und wie ich dann mit Hirschbraten bin abgefüttert worden, hab ich doch denken müssen: ›Die War muß tief im Preis stehen, wenn man sie dem billigsten Taglöhner nachwirft.‹ Hab auch bald meine Rechnung richtig gefunden, denn beim Gretmeister in Gmünd, im dortigen Barfüßerkloster, wo sonst immer ein gutes Geschäft zu machen war, und in allen Pfarrhäusern weit und breit – nirgends ist mehr was anzubringen gewesen. Drüber ist dann die Jagdzeit ohnehin vollends zu End gangen, aber ich besorg mich, wenn sie auch wieder anhebt, so werden die Leut noch satt und voll vom Wildbret sein und werden Rindfleisch vorziehen, das ich ihnen nicht schießen kann. Froh ist freilich alles in den Dörfern und auf den Höfen, wenn ich das Wild wegschieße, aber niemand zahlt mir ein Schußgeld dafür.«

»Schlechte Aussicht!« sagte sie. »Und ich spür's hier wohl, daß du nicht viel ins Haus bringst.«

»Sind sie wüst gegen dich?«

»Das grad nicht, sie sind freundlicher als auf den andern Höfen, wo du mich hinbracht hast. Deine Verbindung mit dem Christle tut mir gut bei ihnen, aber doch lassen sie mich's merken, daß du das Kostgeld die Zeit her schuldig geblieben bist.«

»Mach dich jetzt auf, Christine, mußt mir die Hirschhaut den Wald hinunter tragen, abgezogen hab ich sie schon, und in der Teufelskling verstecken, damit sie der Christle mitnehmen kann. Er kommt morgen von Rechberghausen aus dort hinab, und von da mußt du mit ihm den Waldsteig nach Gmünd gehen.«

»Das geschieht mir sauer«, wendete sie weinerlich ein.

»Du kannst mir nicht vorwerfen, daß ich dich plage«, entgegnete er. »Ich hab dich ein einzigs Mal diesen Winter zur Jagd mitgenommen und hab gemeint, du könntest mir am Wald vorstehen und das Wild zurücktreiben. Wie du aber wehleidig getan hast, hab ich dich gleich gehen lassen und nie wieder mitgenommen. Diesmal aber muß es sein, die Haut wird dich nicht zu Boden drücken, und in Gmünd mußt mit beim Erlös sein, damit mich der Christle, der abgeführte Spitzbub, nicht betrügt, denn sonst kann ich deine Schuld hier nicht bezahlen. Die Haut trägt dir morgen der Christle, heut aber mußt sie selber tragen, denn ich will derweil sehen, ob ich nicht noch einen schießen kann. Komm!«

Sie seufzte. »Du mußt dich aber vor rasieren«, sagte sie verdrossen. »Jetzt hast schon wieder ein achttägiges Stoppelfeld, und ich leid's nicht, daß du dir den Bart wachsen läßt, denn du siehst so arg wild drin aus, und wenn dir jemand begegnet, so muß er wunder was von dir denken.«

»Meinetwegen!« brummte er, griff ohne Umstände nach dem Rasierzeug des Hofbesitzers und kam ihrem Begehren nach, worauf sie den Hof verließen und den Weg nach dem Walde einschlugen.

»Ist denn gar keine Möglichkeit, aus dem Leben da fortzukommen?« fragte sie im Gehen mit kummervoller Miene. »Du hast mir versprochen, du wollest mich nach Frankfurt mitnehmen oder in den Krieg, hast auch von Amerika gesagt. Ich ging überall mit dir hin, wenn ich nur aus dem Leben draußen wär und die Kinder bei mir hätt.«

»Warum hast dich in Dettingen fangen lassen!« versetzte er unwirsch. »Während deiner Gefangenschaft ist mein Erspartes von Sachsenhausen draufgangen, mein Vater tut keinen Zug, um sein Versprechen zu halten, und wie kann ich denn als ein vogelfreier Mensch etwas erwerben, damit wir zu Reis'geld kommen? Sag, ich soll in Ebersbach einen höflichen Besuch machen oder mit einem Roßjuden, beschnitten oder unbeschnitten, nach dem Markt ein Wort in Güte reden, dann sollst du Geld genug haben.«

»Um Gott's willen nur nicht so!« rief sie.

»So sagst du immer, aber dabei willst in einem fort Geld und Lebensmittel und bekümmerst dich nicht drum, wo ich's vernehmen soll. So hast du mich auch gequält, bis ich meinem Vater die Frucht geholt hab, und dann wieder, bis ich dem Pfarrer ins Haus gestiegen bin, und hintenach ist dir's dann doch wieder nicht recht gewesen.«

»Ach!« seufzte sie, »ich hab mir eben ein ganz anderes Leben fürgestellt, wie wir von Neckardenzlingen miteinander fort sind. Da hab ich schon gemeint, ich werd wieder jung, und hab alles gern dahinten gelassen.«

»Machst mir das zum Vorwurf? Bin ich nicht auch im Rohr gesessen und hätt mir Pfeifen schneiden können, und hab ich nicht um deinetwillen auf alles verzichtet?«

»Wärst lieber blieben, bis sich etwas für uns gemacht hätt. Hätt'st mir ja derweil schreiben können.«

»Man kriegt ja keine Antwort von dir. Und hab ich gewußt, wo ich hinschreiben soll? Nach Ebersbach, wenn du nicht dort bist? Hätt ich mir etwa selber einen Paß von Sachsenhausen nach Hohentwiel schreiben sollen?«

»Ich will nichts mehr sagen«, versetzte sie, »du wirst gleich so wild.«

Sie gingen lange Zeit stillschweigend hin. »Was siehst du denn immer auf den Boden?« fragte sie, da ihr sein Benehmen auffiel.

»Da ist wieder einer!« rief er, sich bückend und etwas aufhebend. Es war ein frisch abgebrochener gabelförmiger Zweig. Er betrachtete ihn von allen Seiten, schüttelte den Kopf, da er nichts weiter daran fand, und legte ihn sorgfältig wieder auf den Boden. Dann sah er sich an den Bäumen um, blickte scharf von Stamm zu Stamm, schüttelte den Kopf abermals, als fände er nicht, was er erwartete, und setzte den Weg wieder fort. Sie waren eine weitere Strecke gegangen, da lag ein neuer Zweig von gleicher Form, den er aufmerksam betrachtete, worauf er den eingeschlagenen Weg verließ und einen schmalen Seitenpfad zur Rechten betrat. Christine folgte. Mit zufriedenem Kopfnicken fand er dort bald wieder einen Zweig von der vorigen Art und weiterhin noch mehrere. Sie waren einer wie der andere an der Seit des Weges schief hingelegt, so daß von den beiden Spitzen der Gabel, deren eine geknickt war, die andere, unversehrte in gleicher Richtung mit dem Wege vorwärts deutete.

»Das sind Zeichen«, bemerkte Christine, welche den Zweigen und seiner Beobachtung derselben eine gespannte Aufmerksamkeit zugewendet hatte. »Gelt, gesteh's nur, da sind deine Kocher um den Weg, und dein scheeler Christianus will dir was zu wissen tun.«

»Wenn er da wär, so hätt er mir seinen Zinken irgendwo hinterlassen«, versetzte er, »es ist aber nirgends nichts zu sehen.«

Nachdem sie noch ein wenig fortgegangen, kamen sie auf einen freien Platz, welcher sich nach einem Waldabhang senkte und einen weiten Blick über endlose Waldung tun ließ, die in reicher Abwechslung von Höhen und Tiefen sich um den Hohenstaufen lagerte, gegen das Remstal abwärts und nach den jenseitigen Hügeln strich. Die Zeichen, wenn es welche waren, schienen hier aufzuhören. Christine setzte sich müde auf den Boden. Friedrich schaute achtsam in die Waldgegend hinein, als ob er in der Ferne hinter jedem Busch ein Wild oder etwas anderes aufspüren müßte. Auf einmal blieb sein Auge an einer Waldecke unter dem Hohenstaufen hängen. Ein leichter, bläulicher Rauch ging dort kräuselnd aus den Spitzen der Bäume hervor und schien sich hinter einigen höheren Wipfeln zu verlieren. Er blickte unverwandt hin; der Rauch verschwand, kam wieder zum Vorschein und verschwand wieder. Sein Entschluß war gefaßt. Er rief Christinen vom Boden auf »Siehst dort den Waldspitzen herwärts von Wäschenbeuren?« sagte er, »dort kannst mich nachher treffen oder auf mich warten, dort will ich anstehen, ob ich vielleicht noch einen glücklichen Fang tue.«

Er führte sie herauf zu der Stelle, wo er den erlegten Hirsch gelassen, packte ihr die Haut samt dem Geweih auf den Kopf, gab ihr genaue Anleitung, wo sie ihre Last zu verstecken habe, und ging.

Christine machte sich schwer seufzend auf ihren Weg. »Wie anders hätt ich's, wenn ich bei meiner Schulmeisterin blieben wär!« sagte sie zu sich, »und meine Kinder wären nicht schlechter versorgt als jetzt auch.«

Unterdessen hatte er sich der erspähten Stelle wieder zugewendet, und bald fand er, daß seine Vermutung richtig sein müsse. Der eingeschlagene Pfad führte ihn über einen rauhen Fahrweg, auf welchem wieder ein Zweig von der beschriebenen Gattung lag. Das Gabelende, das den Wegzeiger bildete, wies scharf über die Straße nach einer Waldfurche hin. Er folgte der Richtung und gewahrte nach wenigen Schritten bei einem Durchblick, daß sie gerade auf jene Waldecke zuführte, wo jetzt ein stärkerer Rauch aus den Bäumen emporwirbelte. Nun suchte er nach keinem weiteren Zeichen am Boden mehr, sondern schritt rüstig waldein, waldaus nach der Stelle, zu der es ihn zog. »Wenn er selbst nicht da ist«, sagte er zu sich, »so treffe ich seinesgleichen, die mir sagen können, wo er ist; denn solche Zeichen hat weder ein Bauer noch ein Jäger ausgestreut. Ich bin fertig mit der Welt, eine Staffel um die andere haben sie mich herabgestoßen, jetzt bin ich auf der letzten. Er hat mir richtig prophezeit: ›Wenn du keinen Aus- und Eingang mehr weißt, so kommen wir schon von selber wieder zusammen.‹ Was bleibt mir sonst übrig?«

Die Sonne brannte glühend über den öden Gipfel des schlanken Berges herab, als er an dessen Fuß auf die Waldecke zuschnitt. Er eilte in ihren Schatten. Das geladene Gewehr mit gespanntem Hahn für alle Fälle zum Anschlagen fertig haltend, sei es gegen ein Tier, sei es gegen einen Angriff von Menschenhand, schlug er sich langsam durch die Bäume vorwärts. Bald hörte er Stimmen und Gelächter und ging dem Schalle nach. »Steck mir vom Balo!« hörte er sagen, als er näher kam, und zu gleicher Zeit drang der Geruch eines gebratenen Schweines zu ihm, um ihm den Ausdruck, wofern es nötig gewesen wäre, zu verdolmetschen. Er hatte keinen Zweifel mehr: wo jenische Laute sich vernehmlich machten, war weniger Gefahr für ihn, als wo deutsch oder gar das römisch-deutsche Rotwelsch des Gesetzes gesprochen wurde. Wer auch die Schmausenden sein mochten, in seiner verzweifelten Lage brauchte er weder ihre Feindschaft noch ihre Freundschaft zu fürchten. Er brachte den Hahn in Ruh, behielt aber die Büchse in der Hand und ging entschlossen vorwärts. Auf einmal stand er, zwischen den Bäumen hervortretend, auf einer kleinen Waldwiese, wo eine lustige Gesellschaft um ein Feuer lagerte. Sie bestand aus drei Männern und drei Frauen, welche sämtlich so anständig gekleidet waren, daß er, ein Mißverständnis besorgend, zurücktreten wollte. Aber schon war er bemerkt worden und sah ein paar Gewehrläufe auf sich gerichtet, als plötzlich ihm selbst und einem von der Gesellschaft der gegenseitige Ausruf entfuhr: »Da ist er ja!« Zugleich sprang einer der Männer auf und lachend auf ihn zu. Das Gesicht des Zigeuners, mit welchem sich sein Lebensweg heute zum drittenmal kreuzte, hatte seit der ersten Ludwigsburger Bekanntschaft Veränderungen erlitten, die seinem Festungsgenossen nicht unbekannt waren: die gelbe welke Haut war in unzählige Runzeln und Falten zerschnitten, die besonders an Mund und Augen das Gepräge einer lächelnden Verschlagenheit und großen Übung in der Kunst, die Leidenschaften zu verbergen, ausdrückten. Neu aber war ihm eine weitere Veränderung: ein Auge, in dessen Besitz er ihn auf Hohentwiel noch gesehen, war ihm in der Zwischenzeit abhanden gekommen; doch gereichte ihm dieser Verlust nicht eben zum Nachteil, da die Laune des Zufalls das scheele Auge betroffen hatte, dessen Blick äußerst abschreckend gewesen war, so daß er jetzt als Einäugiger mit dem geschlossenen, von lustigen Fältchen umspielten Augenlide nicht mehr so widrig aussah wie früher, da er geschielt hatte.


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