Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Nie war seit Jahren die Kirche von Ebersbach so gefüllt gewesen wie an dem Sonntag, an welchem Friedrich mit Christinen proklamiert wurde. Außer den Kranken und Gebrechlichen blieb niemand zurück, von den Gesunden fehlte nur die Familie des Sonnenwirts. Der alte Hirschbauer hatte alle die Seinigen in die Kirche geschickt. Selbst der kleine Wollkopf hatte in dem Weiberstande neben seiner Mutter und Schwester Platz gefunden und hörte andächtig der Predigt zu. Wohl gab es ein Zischeln und Murmeln, und alles steckte die Köpfe zusammen, als der Pfarrer vor dem Segen die Verlesung der Paare, die in den heiligen Stand der Ehe treten wollten, begann, aber Friedrich blickte mutig nach der Kanzel und zugleich aufmerksam, ob der Pfarrer in seiner Verkündigung nicht vielleicht irgendein Zeichen seiner Abgunst einfließen lassen werde. Es geschah jedoch nichts dergleichen, und er konnte es höchstens auffallend finden, daß der Pfarrer unter den zu verkündigenden Paaren ihm und seiner Braut die letzte Stelle angewiesen hatte; diese Ordnung konnte aber der Reihenfolge der Anmeldung entsprechen, somit eine zufällige sein. Der Pfarrer erteilte den Proklamierten und der Gemeinde den kirchlichen Segen, und Orgel und Choral beschlossen den Gottesdienst.

Beim Hinausgehen aus der Kirche stieß Friedrich auf den Invaliden. »Was, Ihr seid auch in der Kirch gewesen, Profoß? Hätt nicht geglaubt, Eure mürben Knochen täten Euch so weit tragen. Aber 's ist mir eine Freud und eine Ehr. Nur wundert's mich, denn Ihr habt ja auch Mäus dagegen gehabt.«

»Es bleibt dabei, daß Er nicht recht gescheit ist, sich an das Mädel zu binden«, sagte der Invalide. »Aber zu Seiner Hochzeit soll nichts destoweniger meine alte Lise krachen.«

Friedrich drückte ihm die Hand und begab sich zu den Seinigen, die vor der Kirchentür warteten. Er führte seine Braut am Arme, reichte dem kleinen Buben die andere Hand, und die neue Familie setzte sich, die Mutter und beide Söhne voraus, das Brautpaar hinter ihnen, in Bewegung. Wer von der Gemeinde den gleichen Weg hatte, ging spöttisch lächelnd an ihnen vorbei, auch konnten sie allerlei lieblose Bemerkungen hören.

Am Abend begehrte Friedrich von seinem Vater eine Unterredung. Er stellte ihm vor, daß es die höchste Zeit sei, an die Einrichtung eines kleinen Hauswesens zu denken, und daß er zu diesem Zweck sein elterliches Vermögen herausgeben müsse.

»Nun, nun«, sagte der Alte, »es hat noch Zeit. Ich seh überhaupt nicht ein, wozu du so viel Geld brauchst. Du hast ja selbst gesagt, du wollest froh sein, wenn du mir als Knecht dienen dürfest.«

»Ich bin's zufrieden«, entgegnete der Sohn, »aber ich muß doch wenigstens eine Stube haben, wo ich mit meinem Weib drin wohnen kann.«

»Als Knecht kannst du bei mir wohnen, wie bisher.«

»Ja, wollt Ihr denn mein Weib auch zu Euch ins Haus nehmen?« fragte der Sohn mit einem Freudenschimmer in den Augen.

»Das kommt noch aufs Wohlverhalten an«, antwortete der Vater mit einem spöttischen Blick. »Am End wär's freilich das best, ich nähm euch beide unter Aufsicht; ihr könntet's vielleicht brauchen.«

Der Alte ging seinen häuslichen Verrichtungen nach, ohne sich zu einer bestimmten Erklärung bringen zu lassen. Ein paar weitere Versuche seines Sohnes liefen ebenso ab, und er erhielt nichts als ausweichende, rätselnde, stichelnde Antworten, wobei der Alte jedesmal ein Geschäft oder einen Besuch zu benützen wußte, um das Gespräch abzubrechen. Friedrich verging beinahe vor Unmut und Ungeduld, aber er hatte Christinen versprechen müssen, diese letzten Tage der Prüfung vollends in Ruhe auszuharren.

Unterdessen war die Sonnenwirtin nicht müßig gewesen, im Wege der Gunst wie des Hasses auf ihre Gönnerin, die Amtmännin, und durch diese auf den Amtmann einzuwirken. »Es wäre ja doch schrecklich«, sagte sie, »wenn so ein eigensinniger, gewalttätiger Trotzkopf vernünftige Leute abzwingen könnte.« Der Amtmann, der sich gleichfalls von ihm überrumpelt sah, hatte, nachdem die erste kirchliche Handlung durchgesetzt war, doppelte Lust gewonnen, die Heirat doch noch am Ziele zu hintertreiben. Er schalt auf die Regierung, welche viel zu liberal sei und das junge Volk, wenn es nur brav Dispensgelder bezahle, ins Blaue hineinheiraten und den Gemeinden zur Last fallen lasse; übrigens, meinte er, der Sonnenwirt brauche nur den Taugenichts aus dem Hause zu jagen und jede Verbindung mit ihm abzubrechen, dann habe er allen Boden unter den Füßen verloren, und wenn ihn die Regierung zehnmal für volljährig erkläre, so nehme ihn eben die Gemeinde nicht an. »Dafür laß Sie nur mich sorgen, Frau Sonnenwirtin.«

»Wenn nur mein Mann nicht so schwach wär!« erwiderte die Sonnenwirtin hierauf. »Er will sich's nicht nachsagen lassen, daß er seinen Sohn, der ihm als Knecht zu dienen erbötig ist, von sich gestoßen hab, und doch kränkt's ihn auch wieder, daß er ihm sein Mütterlich's hinauszahlen soll, denn die Zeiten sind eben gar schwer. Die Eve Margret und die Magdalene haben ihren Anteil auch stehenlassen müssen, mit Vorbehalt, daß sie nachher am Vater mehr erben sollen. Nun besorgt er, wenn der Bruder sein Sach ganz rauskriegt und auf einmal, so könnten die Schwestern auch rebellisch werden. Er glaubt, er hab eigentlich die Nutznießung davon sein Leben lang, aber er weiß nicht gewiß, ob man sie ihm nicht vielleicht strittig könnt machen.«

»Jedenfalls«, bemerkte der Amtmann, »ließe sich dieser Streit in die Länge ziehen, ich sehe jedoch nicht ein, zu was das in der Hauptsache führen sollte, denn wenn der Sonnenwirt seinem ungeratenen Sohne die Existenz garantiert, so kann ihn niemand am Heiraten hindern. Übrigens will ich mir die ganze Sachlage noch einmal in Revision nehmen und sehen, ob noch etwas zu machen ist.«

Unter solchen Beratungen war die zweite Proklamation vorübergegangen, und der Vorteil des unabänderlichen Laufes der Dinge schien ganz auf Friedrichs Seite zu sein, als der Amtmann die Sonnenwirtin rufen ließ. »Gratuliere, Frau Sonnenwirtin«, sagte er, »zur leibeigenen Schnur!«

»Was leibeigen?« rief die Sonnenwirtin. »Und davon hat das schlecht Gesindel gar nichts gesagt? Das hebt ja alle Verpflichtungen auf!«

»Vielleicht haben sie es selbst nicht mehr recht gewußt«, sagte der Amtmann, »denn die Sache ist etwas in Vergessenheit geraten. Tatsache aber ist es, daß der Hans Jerg Müller und die Seinigen zu gnädigster Herrschaft im Verhältnis der Leibeigenschaft stehen.«

»Dann«, rief die Sonnenwirtin mit einem Strahl von Hoffnung, »ist's doch möglich, daß der stolz Bub sein Kopf noch ändert. Eine Leibeigene wird er nicht zur Frau haben wollen.«

»Diese Verhältnisse ließen sich ja mit Geld abkaufen«, bemerkte der Amtmann, »denn dazu ist gnädigste Herrschaft stets geneigt. Ohnehin bestund es, in neuerer Zeit wenigstens, aber schon seit lange, in einer jährlichen Geldabgabe. Früher mögen schwerere körperliche Leistungen erfordert worden sein: da es mich nicht interessiert hat, so habe ich auch nicht nachgeschlagen. Die prästierende Abgabe wurde dem Hans Jerg Müller schon vor geraumer Zeit ob summam paupertatem, wie er ja auch schon von der Gemeinde ex pio corpore Unterstützung genossen hat, auf sein untertänigstes Ansuchen nachgesehen, daher ist es leicht möglich, daß er sich der Verhältnisse selbst nicht klar erinnert. Summa summarum ist jedoch so viel gewiß: der sogenannte Hirschbauer ist nebst seinen Deszendenten leibeigen, und zwar haftet die Leibeigenschaft auf dem Haus. Ob nun, wie es bei diesem Volke nicht ungewöhnlich, die Vererbung des Besitzes samt der drauf haftenden Last seit Generationen direkt vom Vater auf den Sohn stattgefunden hat, ob dabei Töchter hinausgegeben worden sind und ob selbige durch die bloße Emanzipation vom väterlichen Herde infolge des eingegangenen matrimonii – wobei sie ja bloß den Herrn wechseln, wie der Frau Sonnenwirtin selbst wissend sein wird, ha, ha! – ob sie schon hierdurch auch von der Leibeigenschaft emanzipiert sind oder ob sie erst noch specialiter mit Gelde abgelöset werden müssen, ja, darüber könnte man einen langen Prozeß führen, und wehe dem, der die Kosten davon zu bezahlen hätte. Für mich ist jedenfalls so viel klar, daß, wenn auch die fürstliche Regierung diesem jungen Menschen die Majorennität und die Heiratserlaubnis gnädigst bewilligt hat, ich, im fürstlichen Interesse selbst, vorderhand auf der baren Leibeigenschaftsablösung seiner, wenn auch proklamierten, doch immer nur erst prätendierten sponsa bestehen muß, muß demnach namens gnädigster Herrschaft sowohl als auch seitens dieser Kommune, deren Gericht und Rat ich mit tunlichster Beförderung des näheren instruieren werde, beharren, daß ein gültiger Ehevollzug des Johann Friedrich Schwanen mit der Christina Müllerin nicht eher ins Werk gerichtet werden kann, als bis und bevor gedachter Ablösungsschilling entweder in barem erlegt oder eine durchaus befriedigende Kaution dafür geleistet ist.«

Der Amtmann wischte sich den Schweiß von der Stirne; seine Auseinandersetzung schien ihn etwas angegriffen zu haben. Die Sonnenwirtin hatte zwar, trotz der Andacht, mit der sie der Rede zugehört, schon der eingestreuten lateinischen Brocken wegen, nicht alles ganz verstanden; doch begriff sie vollkommen, daß der Heirat ihres Stiefsohnes noch ein Riegel vorgeschoben werden könne. Sie ließ sich über die beiden Hauptpunkte, auf die es ankam, noch einmal belehren und verließ das Amthaus in vollem Triumphe, nachdem sie es übernommen hatte, ihrem Manne und ihrem Sohne die amtliche Eröffnung, welche der erstere sich zu holen aufgefordert wurde, im voraus mitzuteilen. »Ihren Stiefsohn«, rief ihr der Amtmann nach, »lasse Sie mir nur aus dem Haus, mein alter Anwalt sagt immer von ihm, und mit Recht, er führe eben ein ödes Geschwätz, das gar keine Heimat habe.«

Aus dem Munde der Stiefmutter erfuhr denn Friedrich, welches neue Gewitter gegen ihn heraufbeschworen worden war. Zuerst nahm er die Nachricht, daß Christine leibeigen sei, mit Gleichmut auf und erklärte, dies ändere nichts in seinen Gesinnungen; als er vollends hörte, daß diese Abhängigkeit mit Geld gelöst werden könne, machte er sich gar keine Sorge mehr; aber er war wie aus den Wolken gefallen, als er sehen mußte, wie sein Vater die Sache nahm.

»Was!« rief der Sonnenwirt, »ich soll Bürgschaft stellen für die Bezahlung einer Abgab, die mich mit Haut und Haar nichts angeht? Ich bin froh, wenn ich meine eigene Schuldigkeit abgetragen hab, bin hoch genug besteuert, kann mich nicht auch noch um anderer Leut ihre Abgaben annehmen.«

»Vater«, sagte Friedrich, den diese Äußerung zuerst nur ärgerte, »ich glaub, Ihr werdet altersschwach. Es handelt sich ja gar nicht drum, daß Ihr vom Eurigen etwas zahlen sollet. Gebt mir mein Mütterlich's heraus, dann leg ich das Geld dem Amtmann selber hin.«

»Du tust immer, als ob du von deinem Mütterlichen die halb Welt kaufen könntest, und hast doch schon genug davon vertan. Du wirst dich wundern, wenn ich einmal mit dir abrechne.«

»Nun, so rechnet ab, und wenn Ihr soviel Zeit brauchet, bis Ihr wisset, was Ihr alles in die Rechnung schreiben wollet, so müsset Ihr eben derweil die Bürgschaft leisten.«

»Ich nicht. Das Sprichwort sagt. den Bürgen soll man würgen. Und wie kann man denn von mir verlangen, daß ich noch einen weiteren Revers ausstellen soll von wegen deines Fortkommens? Ich hab dir zwar wohl versprochen, daß ich dich bei mir behalten will, und ich will auch dabei bleiben, wenn du dich hältst, wie's recht ist, nämlich besser als bisher. Aber Hand und Fuß will ich mir durch einen Revers nicht binden lassen, denn sonst wärest ja du der Herr und ich müßt mir zeitlebens gefallen lassen, was dir anständig wär. Nein, der Sklav in meinem eigenen Haus will ich nimmermehr werden.«

Friedrich legte den Kopf eine Weile auf beide Hände, die er auf dem Tische liegen hatte. Als er das Gesicht wieder erhob, war alle Farbe daraus gewichen. »Jetzt seh ich erst, daß es eine abgekartete Sach ist«, sagte er mit einem Blick auf die Stiefmutter und verließ die Stube.

Christine weinte bitterlich über dieses neue Hindernis. »Das ist eine Welt!« sagte der Hirschbauer und kehrte sich nach der Wand. Die Bäuerin heulte und schrie, daß man arme Leute so unterdrücke, die Söhne fluchten, und der kleine Weißkopf, der heute die Welt gar nicht verstand, saß bestürzt und furchtsam in der Ecke. Friedrich aber glaubte zu bemerken, daß der abermals in Zweifel gestellte Erfolg seiner ehrlichen Bemühungen auf die Würdigung seiner Absicht oder wenigstens auf die Schätzung seiner selbst zurückwirke. Die Hirschbäuerin wenigstens schien ihn bereits mit minder günstigen Augen anzublicken; als sie ausgeheult hatte, machte sie ein Gesicht und gönnte ihm beim Abschiede kaum ein Wort. Christine aber nahm ihm wiederholt das Versprechen ab, auch diese Prüfung, wo möglich, durch Geduld und Gehorsam zu überwinden.

Schon die folgenden Tage zeigten ihm, daß er sich in seinen Berechnungen völlig getäuscht hatte und für den nächsten Sonntag auf die letzte, bestätigende Proklamation verzichten mußte. Er sprach nichts, war in seinen Verrichtungen fleißiger denn je, aber seine wundgebissenen Lippen, seine mit Blut unterlaufenen Augen verrieten den Sturm, der in ihm arbeitete. Die Narbe auf seiner Stirne trat oft blutrot hervor. Die Leute steckten bei diesem Anblick die Köpfe zusammen und murmelten einander zu, das sei ein Kerl, von dem man sich des Ärgsten gewärtigen dürfe.


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