Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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»Vater!« unterbrach ihn Friedrich mit dem Tone der Verzweiflung und stand auf, »ich bitt Euch um Gottes willen, seht Euch vor und hütet Eure Zung! Ich hab's einmal für allemal erklärt und geschworen, daß ich sie nicht runtersetzen und schlechtmachen laß, weder von Vater noch Mutter. Sie ist mein Weib vor Gott, und was ich geschworen hab, das halt ich, müßt man auch in Ebersbach etwas erleben, dergleichen seit Menschengedenken nicht geschehen ist.«

»O du blutrünstiger Heiland, er droht seinem leiblichen Vater!« rief die Sonnenwirtin, indem sie die Hände zusammenschlug. Die Weiber stießen Laute des Grauens und Entsetzens aus.

Der Sonnenwirt, der sich gleichfalls erhoben hatte, stand in ungewisser Haltung an die Stuhllehne angeklammert, schoß aber wütende Blicke nach seinem Sohne. Er fürchtete ihn, weil er ihn zu allem fähig glaubte, und eben diese Furcht erhöhte seine Wut.

»Vater«, begann Friedrich wieder, nach der Wand deutend, wo neben dem Bilde des Herzogs das Bild des Gekreuzigten hing, und seine Stimme, die er zu mildern suchte, zitterte: »Vater, sehet Ihr Ihn, der nicht schalt, da er geschlagen ward, und nicht dräuete, da er litt? Ich will ihm ja gern nachfolgen, so gut ich's kann. Wälzet Berg auf mich von Schimpf und Schmach, ich will nicht widerbellen, will's tragen als Euer Sohn. Aber auf mein Weib laß ich nichts kommen, eh mag das größt Unglück draus entstehen. Und leset im Testament, Vater: hat Er nicht seine eigene Verwandtschaft verleugnet und gesagt, die seien seine Eltern, Brüder und Schwestern, die sein Wort hören und den Willen Gottes tun? Ist aber das Gottes Will, die Armut verachten und unterdrücken? Und ist er nicht auch scharf gewesen? Hat er nicht mit der Geißel ausgefegt? Hat er nicht die ewig höllisch Verdammnis ausgegossen über die, so sein Volk betrübt und den Armen und Witwen ihre Häuser gefressen und langes Gebet vorgewendet haben? Und was hat er gesagt, wie sie die Eh'brecherin vor ihn bracht haben, die doch gewiß eine größere Sünderin gewesen ist als mein Weib? ›Wer unter euch ohne Sünde ist‹, hat der Heiland gesagt, ›der werfe den ersten Stein auf sie.‹«

»Der kann predigen!« zischelte die Braut mit unterdrücktem Kichern gegen ihren Bräutigam hin. Friedrich, der es gehört hatte, warf ihr einen Blick der Verachtung zu.

»Man sollt schier gar glauben«, sagte die Sonnenwirtin mit ätzendem Spott, »wir haben da den lieben unschuldigen Heiland in unserer Mitte – verzeih mir Gott die Sünd. Ich hab aber nirgend in der Bibel gelesen, daß er so zu seinem Vater gered hat.«

Der Sonnenwirt war eine Zeitlang sprachlos und außer sich. Die Anrufung der Religion, als Anklägerin wider ihn, machte ihn rasend; gleichviel, ob sein Sohn mit Recht oder Unrecht zu diesem Mittel gegriffen – es erschien ihm als Bruch der letzten Schranke kindlicher Scheu. »Ich brauch weder 'n Hauspfaffen noch 'n Hausdieb!« schrie er, »wenn ich eine Predigt brauch, so will ich sie in der Kirch vom Pfarrer hören, und nicht von so – so –.« Die Stimme versagte ihm. Der Bräutigam und die anderen Männer, die an der Haltung von Vater und Sohn ersahen, daß es Ernst wurde, sprangen dazwischen und suchten zu vermitteln, indem alles zu gleicher Zeit zusammen schrie. Aber bei dem Vater hatten Wein und Wut über die Furcht gesiegt, und vielleicht gab ihm auch das Dazwischenspringen der Männer, das ihn von seinem Sohne trennte, ein Gefühl der Sicherheit. Er fuhr in den höchsten Kehltönen, blaurot im Gesicht, zu toben und zu schimpfen fort, und durch den ohrzerreißenden Lärm der anderen drang von Zeit zu Zeit seine Stimme vernehmlich durch. »Ich laß mir in meinem eigenen Haus von niemand befehlen – ich sag, was ich mag – und was ich sag, ist wahr – sie ist ein schlecht's Mensch« – er hatte sich Bahn zum Tische gebrochen und schlug mit der Faust darauf, daß Flaschen und Gläser tanzten und umfielen –, »ein schlecht's Mensch, sag ich – ein ganz schlecht's, schlecht's, schlecht's –«

Seine Stimme überschnappte, und zugleich erstarb ihm noch aus einer andern Ursache das Wort im Munde, denn mit weitgeöffneten, Augen zurückbebend, sah er, daß sein Sohn das Messer gezogen hatte und ihm mit der funkelnden Klinge gegenüberstand. Die Weiber kreischten fürchterlich, die Männer wogten hin und her und wichen teils zurück. Mit wildrollenden Augen war der Unglückliche vorgetreten, die Spitze des Messers nach seinem Vater gekehrt: – da sprang ihm der Müllerknecht, hinter welchem die anderen allmählich zurückgewichen waren, ohne weiteres auf ihn zu und packte ihn kräftig am Arme, um ihn zurückzuhalten. »Messer weg!« schrie er, gleichfalls entbrannt, mit zornig gebietender Stimme und wildem Blick aber ehe er vollenden konnte, hörte man aus dem Munde des Wütenden einen tollen Schrei, sah seinen Arm mit dem Messer zucken, und das Blut schoß dem zurücktaumelnden Knechte am Arme herab. Die Sonnenwirtin stürzte aus der Stube. »Feurio! Mordio! Feurio! Ein Dieb! Ein Mörder!« hörte man sie nach einem Augenblick auf der Straße schreien, daß es durch die ganze Nachbarschaft gellte. Unten und oben erschallte verworrenes Geschrei. Die Gäste, den Sonnenwirt in der Mitte, stürzten der Frau vom Hause nach. Die Braut ließ sich, an ihrem Bräutigam hängend, von diesem mit fortschleppen und weinte überlaut über die böse Vorbedeutung dieses Unglückstages. Der Bräutigam wollte den Getroffenen mit sich ziehen, aber dieser riß sich los und blieb steif und starr vor seinem Angreifer stehen, während ihm das Blut fortwährend vom Arme niedertroff.

Friedrich kam wie aus einer langen Betäubung zu sich und gewahrte, daß er mit dem Knecht allein in der Stube war. Er hatte das Messer noch immer in der Hand. »Da nimm's«, sagte er zu dem Opfer seines Jähzorns, »und stich mich über den Haufen, du tust ein gut's Werk.«

Der Knecht wies das dargebotene Messer zurück. »Ich bin kein Mörder wie du«, sagte er, während seine gläsern gewordenen Augen sich nach und nach wieder belebten.

»Peter! um Gottes willen! hat's dir was getan?« rief Friedrich, dem seine Tat erst jetzt zum klaren Bewußtsein kam. »Laß mich sehen, komm, ich will dich verbinden, du verblut'st dich ja.«

Der Knecht stieß ihn zurück. »Ist schon recht«, murmelte er, »'s ist recht, ja, ja – sein Wohltäter stechen – ist eine neue Art, seine Schulden zu zahlen – 's ist aber schon recht – ich will dich finden – ja, ja! 's ist recht, ist ganz recht.« Er wiederholte diese Worte wohl ein dutzendmal, während er langsam aus der Stube ging und erst jetzt daran dachte, seinen verwundeten Arm mit der anderen Hand zusammenzuhalten.

Friedrich blieb allein und wie verhext in der Stube zurück. Er blickte auf den Tisch, der soeben noch voll Menschen gewesen war, dann auf das Messer in seiner Hand, dann auf das Bild des Gekreuzigten, zu dem er vorhin emporgedeutet und dem er nachzufolgen gelobt hatte. »War das eine Nachfolge?« sagte eine Stimme in ihm. Er hatte gelobt, jede Schmähung zu dulden, die nur über ihn selbst ausgeschüttet würde, und dieser Arme hatte nicht einmal ihn, geschweige Christinen geschmäht. Wenn auch seine Zunge vielleicht Schmähworte beherbergt hatte, die nur durch den Stoß des Messers abgeschnitten worden waren, wenn auch der herausfordernde, überlegene Ton, womit er ihm Entwaffnung geboten, sich, wie seine nachherigen Worte zu zeigen schienen, auf eine Gefälligkeit berufen wollte, die zwar eine Verpflichtung, aber keine Abhängigkeit begründet, wenn auch ein christliches Verzeihen ihm fremd und fern zu sein schien – was war das alles gegen einen Mörderstreich? Stolz und Zorn – dies sagte ihm die innere Stimme mehr oder minder klar – hatten ihn in einem Augenblicke zu dem Gegenteil von dem gemacht, was er den Augenblick vorher zu sein sich vermessen hatte.

Indessen blieb ihm wenig Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Der Lärm vor dem Hause wurde stärker, und die Anzahl der Stimmen mehrte sich. Er hörte den Knecht, dessen Betäubung allmählich in Wut überzugehen schien, aus den anderen Stimmen herausbrüllen: »Er ist nicht bloß ein Mörder, er ist auch ein Dieb! Sein eigener Vater hat ihn 'n Dieb geheißen!« – »Ja«, schrie die gellende Stimme der Sonnenwirtin, »er hat seinem Vater Frucht gestohlen und an sein Mensch gehängt.« – »Man muß seiner habhaft werden!« rief eine neue Stimme, an welcher er den Amtmann erkannte. – »Ja!« gellte die Stimme der Sonnenwirtin, »kriegen muß man ihn, und wenn man das Haus anzünden müßt!« – Bald konnte er auch durch die offengebliebene Türe Tritte im Hausgang und auf dem unteren Treppenabsatz vernehmen. Die Verfolger kamen. Das Bewußtsein, daß er es mit aufgebrachten, wütenden Menschen zu tun habe, entflammte auch in ihm, der kaum zuvor einen Strahl der Wahrheit und Demut Raum gegeben hatte, von neuem die mörderische Wut, zu welcher sich nun ein unbestimmter Trieb, bevorstehenden Übeln zu entgehen, gesellte. Er flog die obere Treppe hinauf auf den Boden, wo er sich rücklings auf einen Kasten legte, sein Messer in eine danebenstehende Bettlade steckte und in dieser Verfassung die Verfolger erwartete. »Er muß auf der Bühne sein!« riefs unten, und die Schar drang herauf. Die vordersten waren der Amtsknecht, der Fleckenschütz und der Fischer; hinter ihnen drängte es sich auf der Treppe Kopf an Kopf. »Komm mir keiner zu nah!« rief der tolle Bursche und griff nach dem Messer. Sie stutzten und wichen zurück. »Holet ein Gewehr!« rief einer. »Da ist schon eins!« antwortete es vom Fuß der Treppe. »Her da!« riefs oben, »man muß nach ihm schießen, bis ihm der Krattel vergeht!« Er fuhr von seinem Lager auf, ließ das Messer stecken und stürzte nach einem Dachladen, durch den er alsbald verschwand. Ein Geschrei von unten erscholl. »Er hat sich hinuntergestürzt!« schrie der Amtsknecht. Die einen warfen sich auf das Messer, um sich desselben zu bemächtigen, die anderen rannten nach dem Dachladen. Der Fischer war der erste, der daselbst ankam und den Kopf hinausstreckte. Er zog ihn aber alsbald zurück und rief: »Nein, er schiebt sich das Dach hinauf und hat mich mit einem Ziegel auf den Kopf schlagen wollen.« – »Das Dach aufgehoben!« schrien einige und machten Anstalt, am Sparrenwerk hinaufzuklettern; da flog durch eine Lücke ein Ziegel herein, der zwar keinen traf, aber alle von dem vorgeschlagenen Unternehmen abschreckte. Fluchend und schreiend verließen sie den oberen Boden und gingen auf die Straße hinunter, von wo sie nun sehen konnten, wie des Sonnenwirts Frieder, dem ganzen Flecken zum Schauspiel, auf dem Dachfirst seines väterlichen Hauses ritt. Es war lächerlich und jämmerlich zugleich anzuschauen, obgleich er sich fest wie im Sattel eines Pferdes hielt, seine Verfolger höhnte und heraufzukommen einlud. Der ganze Platz um das Haus war voll Menschen, und aus den anstoßenden Gassen drängten sich immer neue Zuschauer herbei. »Was gibt's? was gibt's?« riefen die einen; – – »'s ist e' Kuh fliegig worden!« – »Nein, e' Stier!« schrien andere. – »Dem Sonnenwirt sitzt ein fremder Vogel aufm Haus!« – »Schießet ihn vom Dache abe!« – »Holet ihn mit der Feuerspritz runter!« – so ging das Geschrei und Gelächter durcheinander. Ein Wagen, der auf der Straße herausfuhr, mußte haltmachen, weil ihn das Gedränge nicht durchließ. Bei den Pferden stand der alte Fuhrmann und blickte, traurig den Kopf schüttelnd, nach dem verwahrlosten Jüngling hinauf, den er hatte retten wollen. In seinen gefurchten Zügen malte sich eine trübselige Befriedigung; er nickte ein paarmal und sagte vor sich hin: »Hab auch wieder einmal eine richtige Vorahnung gehabt.«

Der Sonnenwirt, der sich halbtot schämte, hatte sich mit dem verwundeten Knechte zu seinem Schwiegersohne, dem Chirurgen, zurückgezogen und schickte diesen, ob er dem schmählichen Auftritte nicht auf irgendeine Weise ein Ende machen könne. Der Chirurg, nachdem er die Wunde des Knechts untersucht und verbunden, drängte sich durch die Menge, wurde von dem Amtmann, der ratlos, was er befehlen solle, in der Haustür der »Sonne« stand, herbeigewinkt und mit einem heimlichen Auftrage versehen, drängte sich wieder in die Straße durch und gab Zeichen nach dem Dache, um die Aufmerksamkeit seines jungen Schwagers auf sich zu ziehen. Friedrich, der ihn mit seinen Falkenaugen schon längst bemerkt und angerufen hatte, ohne in dem Tumult vernommen zu werden, schrie mit einer Stimme, die alle übertönte: »Still da drunten!« Ein zorniges Gelächter der Menge antwortete ihm. Der Chirurg aber bat und beschwor die Umstehenden so lange, bis wenigstens in der Nähe der Lärm sich etwas legte und eine notdürftige Stille entstand. »Herr Schwager!« rief jetzt Friedrich herab, »was macht der Peter?«

»Er ist den Umständen nach ganz wohl!« antwortete der Chirurg durch die vorgehaltenen Hände, mit welchen er das etwas schwache Erzeugnis seiner Lunge zu verstärken suchte. »Die Wunde ist gar nicht gefährlich!«

»Gott sei Lob und Dank!« rief Friedrich und schlug die Hände erfreut zusammen.

»Schwager, geh Er herunter!« rief der Chirurg.

»Wenn mir der Herr Schwager sicheres Geleit verspricht!« antwortete Friedrich, »sonst tut sich's ganz wohl da oben!«

»Ich gebe Ihm mein Ehrenwort, daß Ihm nichts zu leid geschieht!« rief der Chirurg hinauf.

Friedrich verließ seinen luftigen Sitz mit einem leichten Ruck, der unten von einem Schrei des Schreckens und zugleich der Bewunderung begleitet wurde. »Der sitzt vom Dachgrat ab wie ein Reiter von seinem Gaul!« schrie die Menge. Im nächsten Augenblick hatten sie Ursache, ihn mit einer Katze zu vergleichen, so leicht sah man den behenden Burschen auf Händen und Füßen am Dach herabrutschen, bis er den Laden wieder erreicht hatte, durch welchen er im Nu verschwand, noch einmal mit einem Fuße hinauszappelnd, gleichsam zu Ehren des versammelten Publikums, das hierüber in ein wieherndes Gelächter ausbrach.

Nach wenigen Sekunden verriet eine Bewegung der in und vor der Haustüre stehenden Leute, daß in dem verlassenen Hause sich etwas Lebendiges regte und die Treppe herunterkam. Der Amtmann flüchtete sich in den dichtesten Schwarm heraus. »Der Bursche hat heut vormittag schon gezeigt, was er für ein gefährlicher Kerl sein kann!« sagte er und versammelte alsbald eine Schar handfester Männer um sich, worunter der obere Müller nicht fehlte, der durch das Geschrei, daß des Sonnenwirts Frieder seinen Knecht gestochen habe, herbeigezogen worden war. Jetzt erschien der Held des Tages, von niemand um seinen Lorbeer beneidet, in der Haustüre. Ruhig, als ob er nicht begreifen könne, warum die Leute so zusammengelaufen, kam er heraus und suchte mit den Augen seinen Schwager, auf den er sodann zuging. Man ließ ihn vorbei. »Da bin ich«, sagte er zu dem Chirurgen, »ein Mann ein Wort.« – »Ich halte, was ich versprochen habe«, entgegnete der Chirurg mit schlauem Lächeln. – »Du bist kein Mann, du bist ein Bub!« schrie ihn der dabeistehende Richter an, »dir braucht man nicht Wort zu halten!« – »Greift ihn!« befahl der Amtmann, und ehe der zuversichtliche Bursche sich's versah, befand er sich unter der Gewalt von mehr als zehn Fäusten. Er wehrte sich wie ein Eber, schimpfte, tobte, schlug um sich, aber zuletzt erlag er der Übermacht und wurde zu Boden geschlagen. In diesem Kampfe, der lange dauerte und an welchem seine Widersacher sich wetteifernd beteiligten, erhielt er jeden bösen Gruß, den er in Worten oder Werken unter seinen Mitbürgern ausgeteilt hatte, mit Wucherzinsen heimgezahlt. – »Fort mit ihm aufs Rathaus!« rief der Amtmann.

Dort angekommen, ließ der Amtmann den gefangenen Wildling in ein Gelaß werfen und zwei Urkundpersonen herbeirufen, um sofort das Verfahren in Gang zu bringen.


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