Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Einunddreißigstes Kapitel

»Gesegnete Mahlzeit beieinander! Das ist ja schön, daß man die Ahne und die Kinder bei der Gottesgabe findet, die Leib und Seel zusammenhält.«

Mit diesen Worten trat der Geächtete durch die Türe ein, deren Schwelle er so manchmal in Glück und Leid überschritten hatte. »Was speist man denn?« fragte er heiter.

»Rübelesupp und Grunddirn!« antwortete der Knabe, der mit der Großmutter und seinem kleinen Schwesterlein zu Tische saß und mit seinem Löffel der gemeinsamen Schüssel wacker zusprach.

»Will Er's nicht mithalten?« fragte die Hirschbäuerin, ohne sich in ihrer eifrigen Beschäftigung stören zu lassen.

»Danke! was für drei gekocht ist, ist nicht für vier; man muß keine Deichsel an die Suppenschüssel machen. Im Gegenteil bring ich hier ein paar Brätlein. Wenn Ihr's nicht essen wollt, so könnt Ihr's unter der Hand zu Geld machen.« Er hielt ihr ein paar Hasen hin. Bei diesem Anblick legte sie schnell den Löffel auf den Tisch, ergriff das Geschenk und trug es in eine Ecke der Stube, wo sie einen leeren Korb darüberdeckte.

Der Ankömmling setzte sich an den Tisch, holte einen hölzernen Löffel aus der Schublade und fütterte das Kleine, das erwartungsvoll nach der Großmutter hinstarrte, aus der Schüssel, ohne sich selbst einen Bissen zu gönnen. Bei dem trüben Schein der armseligen Ampel blickte er abwechselnd seine Kinder an und freute sich, daß es ihnen so gut schmeckte.

»Wo ist denn der Lobele geblieben?« fragte die Alte, sich wieder an den Tisch setzend.

»Mein weißköpfiges Schwägerle«, erwiderte er, »hab ich in Rechberghausen beim Christle gelassen. Ich hab einen weiten Umweg machen müssen« – er warf einen Blick nach der Ecke, wo die Hasen lagen –, »wo ich ihn nicht hab mitnehmen wollen, und ihn allein heruntergehen zu lassen, dazu ist mir's zu spät gewesen. Morgen früh ist er wieder da. Ist's richtig, was er mir ausgerichtet hat? Mein Vater will sich also zu einem gütlichen Abkommen mit mir verstehen?«

»Ja«, sagte sie, »er hat mich kommen lassen und hat so mit mir gered't, daß ich glauben muß, es sei sein Ernst. Vierhundert Gulden will er Ihm geben, wenn Er mit der Christine und den Kindern nach Pennsylvanien geht, die Hälfte bar und die Hälfte drüben, aber das Bare nicht eher, als bis mit der Abreis alles im reinen sei. Bis dahin will er sorgen, daß den Kindern nichts abgeht.«

»Wenn nur die Christine frei wär, dann ging ich gleich«, versetzte er. »Wißt Ihr nichts von ihr?«

»Nein.«

»Einundzwanzig Wochen sind es jetzt, daß ich ihr Gefängnis umschwärme«, sagte er. »Was ich in dieser Zeit durchgemacht hab, wird nicht bald einem Zigeuner vorgekommen sein, denn der hat doch noch die Wahl, in welcher Gegend er sein Nachtquartier nehmen will, und wenn's auch nur in einer Höhle wär. Ich aber bin wie ein böser Geist immer in das Revier da gebannt gewesen.«

Die Alte lächelte schlau. »Beim Krämerschristle«, sagte sie, »hat's doch gewiß nicht an Loschement gefehlt.«

»Beim Christle«, sagte er, »kann ich meinen kleinen Schwager unterbringen, wenn er mir eine Botschaft tut und ich ihn nicht in der Nacht heimlassen will, und vom Christle nehm ich's an, wenn er, wie ein paarmal geschehn ist, in meiner Abwesenheit meinem Weib oder meinen Kindern etwas schickt, zumal wenn das« – er sah die Alte scharf an – »nicht für die Schleckerei, sondern für die bittere Notdurft ist. Beim Christle und sonst da und dort bin ich selber auch ein paarmal über Nacht gewesen, wenn man ein gemeinsames Geschäft vorgehabt hat, bei dem der Nutzen zum kleinsten Teil auf meiner Seite gewesen ist. Aber wenn gleich Rechberghausen nicht dem Herzog von Württemberg, sondern dem Grafen von Preysing gehört, so hätt ich doch dem Christle nicht zumuten mögen, einem vogelfreien Menschen, wie ich bin, nach dem man über jede Grenze streifen darf, einen beständigen Aufenthalt zu geben. Nein, Schwieger, ich bin in diesen einundzwanzig Wochen das wenigstemal unter Dach und Fach gekommen, und wenn ich nur in einer Scheuer hab unterkriechen können, so ist das ein Festtag für mich gewesen. Die meiste Zeit aber hab ich tief im Wald, oft auch im freien Feld, auf dem Schnee geschlafen, ein paar harte Felle von geschossenem Wild zur Decke und den kalten, sternglitzernden Himmel über mir. Wenn mir früher jemand behauptet hätte, das sei ein Mensch auszuhalten imstande ich hätt ihm nichts davon geglaubt. Aber seht nur meine Kleider an: die zeugen am besten von meiner Lebensart; im Herbst sind sie noch ganz neu gewesen, und jetzt hängen sie halb in Fetzen an mir herum. Und wenn mir nicht der große Bart gewachsen wär, so könntet Ihr sehen wie ich abgemagert bin – nichts als Haut und Knochen. Und fasten hab ich gelernt; ich bin ordentlich mit dem Hunger auf du und du zu stehen kommen.«

Der Knabe warf seinen Löffel auf den Tisch und aß nicht weiter, während sein Vater unter dem Reden den Löffel fleißig nach dem Munde des kleineren Kindes führte.

»Da wär's in Pennsylvanien doch besser«, bemerkte die Alte.

»Meint Ihr nicht, der Jerg ging mit?« fragte er und setzte schnell hinzu: »Daß wir Euch nicht allein zurückließen, versteht sich von selbst.«

»O du mein Heiland, Er hat's gut mit mir vor«, sagte sie. »Sollt ich auf meine alte Tag noch so weit übers Meer? Und der Jerg, der ist jetzt zu Stuttgart im Dienst als Packer bei einem Kaufmann und meint, er könnt's sein Leben lang nicht besser kriegen. Nächstens will er mir all Woch ein Geldle schicken.«

»Das Land da drüben ist so groß, wie ich mir hab sagen lassen, daß wir ein halbes Fürstentum in Besitz nehmen könnten. Das wär doch ein ander Leben.«

»Vater«, sagte der Knabe jetzt, der lange auf einen Augenblick, wo er auch etwas reden durfte, gewartet hatte. »Vater, ich hab mich so lang drauf gefreut, bis Er auch einmal wiederkommt.«

Die helle Stimme des Knaben tat dem Geächteten tief im Herzen wohl. »So, Friederle«, sagte er, »hast dich auf den Vater gefreut? Sieh, ich hab euch auch was mitgebracht.« Mit diesen Worten zog er aus der Tasche allerlei Spielzeug, das er in müßigen Stunden künstlich geschnitzt hatte. »Die Docken gehören deinem Christinele, die gibst ihr morgen früh, wenn sie aufwacht.« Er legte das Kind, das in seinem Arm eingeschlafen war, auf das Bett und brachte aus seinen anderen Taschen noch mehr der Herrlichkeiten hervor. »Da sind für dich Soldaten, Fußvolk und Reiter, auch etliche Kanonen dabei, weil's jetzt Krieg ist und damit deine Schulkameraden nicht sagen können, du habest nicht so schöne oder nicht schönere Spielsachen als sie. Lernst auch brav? Erzähl mir einmal, was heut in der Schule vorgekommen ist.«

»Die Geschicht vom Simson ist gelesen worden«, antwortete der Knabe.

»Hast du mitlesen dürfen?« fragte der Vater. »Kannst lesen?«

»Noch nicht ganz gut«, sagte der Knabe, »'s kommt nur hie und da ein kleiner Vers zum Lesen an mich. Aber die Geschicht hat mir mächtig gut gefallen, wie der Simson den Löwen zerrissen hat und wie er mit dem Eselskinnbacken tausend Philister geschlagen hat und hat ihnen das Stadttor in der Nacht fortgetragen und Füchs in ihre Felder trieben mit brennende Schwänz und wie er zuletzt das Haus eingerissen hat, daß es auf ihn und alle Philister zusammengefallen ist.«

»Du gibst ja recht acht«, sagte der Vater freundlich. »Möchtest vielleicht auch ein Simson werden?«

Der Knabe sah ihn verwundert an.

»Gelt, das verstehst du nicht? Was möchtest denn werden?«

»Ich möcht werden, was mein Vater ist.«

»Was ist denn dein Vater?«

Der Knabe sah ihn starr an und antwortete auf wiederholtes Fragen: »Ich weiß nicht.«

»Warum sagst du denn, du möchtest werden, was dein Vater ist, und weißt es nicht?«

»Ha, so sagt jeder Bub, wenn man ihn fragt, was er werden wöll.«

»So! Wie heißen sie denn deinen Vater?«

»Er sei söllig stark, so daß alles Angst vor ihm haben müss.«

»So? Und was sagen sie sonst von ihm?«

Der Knabe schwieg.

»Wie gehen denn deine Kameraden in der Schule mit dir um? Sag's, ich will's wissen.«

»Sie lassen mich nicht ins Buch neingucken, so daß mir der Schulmeister schon oft eine besondere Bibel geben hat, und einmal, wo sie wüst gegen mich gewesen sind, hat der Schulmeister zu ihnen gesagt, sie sollen mich gehen lassen, ich sei ein unglücklich's Kind, ich könn nichts dafür.«

»Für was?«

Der Knabe schwieg.

»Ich befehl dir's, ich will wissen, was sie von deinem Vater gesagt haben.«

Er mußte seinen Willen im gebietendsten Tone geltend machen, bis der Knabe endlich schüchtern und zögernd antwortete: »Sie sagen – Er hab – gestohlen.«

»Und wenn das wahr ist, so willst du dennoch werden, was dein Vater ist?«

»Ja.«

»Was ist einer, der stiehlt?«

Es bedurfte abermals der größten Anstrengung, um aus dem Knaben die Antwort herauszubringen: »Ein Dieb.«

»Ein Dieb also willst werden?«

»Ja.«

»Wart, ich will dir einen Denkzettel geben! Ahne, wo ist die Rute?«

Er gewahrte nicht, daß die Alte nach langer Abwesenheit erst in diesem Augenblick wieder in die Stube trat und die Türe ein wenig hinter sich offenließ. Sie bat für den Knaben, als sie hörte, um was es sich handle, und suchte dem unglücklichen Vater bemerklich zu machen, daß das Kind sich nicht auszudrücken vermöge und daß er ihm noch keine Unterscheidung zumuten dürfe. »Nein«, sagte er unerbittlich, »man soll mir nicht nachsagen, daß ich den Buben zu solchen Gedanken angeleitet oder ihm's auch nur zugelassen hab, und wenn ich keine Rute haben kann, so tut's auch die Hand.«

Er zog den Knaben zwischen die Knie und patschte ihn mit seiner kräftigen Hand so nachdrücklich, daß derselbe mit offenem Mund schnaubte und schnappte; doch gab er keinen Laut des Schmerzes von sich.

»Was heulst nicht, du Krott?« fragte der Vater, in seinem wenig überlegten Besserungsgeschäfte innehaltend.

»Ich hab immer gehört, mein Vater hab nie geheult, wenn man ihn auch noch so arg geschlagen hab«, antwortete der Knabe, nicht trotzig, aber mit entschiedenem Tone und seinem Vater ruhig ins Auge sehend.

Dieser ließ die Hand sinken und zog den Knaben in seine Arme. »Ach Friederle, mein Kind, mein lieb's Kind«, rief er, »ich hätt dich ja gewiß nicht geschlagen, wenn ich allezeit bei dir wär und dich im Guten unterweisen könnt. Aber ein Dieb sollst und darfst du mir nicht werden, das verbiet ich dir hoch und teuer. Glaubst du, daß ich's gut mit dir mein?«

»Ja«, sagte der Knabe, indem er ihn mit seinen blauen Augen aufrichtig ansah.

»Willst mir's nicht nachtragen, daß ich dich geschlagen hab?«

»Nein.«

»Willst mir versprechen« – er drückte ihn immer heftiger an sich und schrie ihm die Worte ins Ohr: »Werd brav! Werd rechtschaffen! Du mußt nicht meinen, es müsse dir auch gehen wie deinem Vater! Es geht nicht jedem so, es darf dir nicht auch so gehen! Wenn du älter bist und mehr weißt als jetzt, dann wirst du einsehen, daß du kein Dieb zu werden brauchst, wenn du deinem Vater anhänglich sein willst. Dann wirst du aber auch verstehen, daß dein Vater nicht so schlecht gewesen ist, wie die Leut von ihm gesagt haben. Und deine Mutter, die du so wenig gesehen hast, ist eine gute Mutter, Kind, und kann nichts dafür, daß sie nicht öfter nach dir sieht, und wenn sie wieder bei dir sein kann –«

Die Stimme brach ihm, er schlug die Hände vor die Augen und legte den Kopf auf den Tisch. Es wurde ganz still, nur daß man tief aus seiner Brust herauf ein unterdrücktes Schluchzen hörte. Die Alte sah sich einen Augenblick um, setzte sich dann so, daß sie dem Tische und der Türe den Rücken zukehrte, und begann hierauf mit einer Stimme, die abscheulich klang, das geistliche Lied zu singen: »Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt.«

Der Geächtete hatte seinen Empfindungen eine kurze Zeit freien Lauf gelassen, da weckte ihn ein durchdringendes Geschrei seines kleinen Sohnes: »Vater! Vater! Philister über dir, Simson!«

Er fuhr auf und starrte, die Augen voll Tränen, in die Stube, aber die Bewegung hatte nur dazu gedient, seinen Kopf einer Schlinge preiszugeben, die im gleichen Augenblick fest um seinen Hals zugezogen wurde. Die Stube war voll bewaffneter Männer. Er fuhr mit der Hand nach dem Halse, um sich von der Schlinge frei zu machen. Da schrie der Fischer, der unter den vordersten war: »Hand weg, oder du mußt verworgen!« Zugleich wurde die Schlinge noch fester angezogen, so daß er taumelte. Er ließ ab vom Widerstande und war nach kurzer Zeit an Armen und Beinen so fest geschnürt, daß man ihn ohne Gefahr fortschaffen konnte. Die Alte schickte sich heulend und schreiend an, mit ihrer trüben Ampel zum Haus hinauszuleuchten, und beteuerte ihm wider ihr besseres Wissen, daß sie an dem Unglück unschuldig sei. »Mag sein«, erwiderte er, sie mit ungewissen Blicken messend, »aber dir, Fischerhanne, ist's geschworen – und wenn ihr mir auch die Arm fesselt, die Schwurfinger kann ich doch noch bewegen der nächste Streich, den du mir spielst, ist dein Tod.« »Hoffentlich wird kein weiterer nötig sein«, sagte der Fischer, und alle lachten zusammen. Während ein Teil der Wachmannschaft den Gefangenen so eilig fortschleppte, daß er nur noch mit den Augen seinem Knaben ein Lebewohl zuwinken konnte, stöberte ein anderer, den Fischer an der Spitze, in der Stube herum. Die Alte, als sie dies bemerkte, überließ den Fortgehenden die Sorge, wie sie sich ohne Licht zurechtfinden wollten, und eilte in die Stube zurück, konnte es aber nicht verhindern, daß die Hasen, als offenbares Herrschaftseigentum, in Beschlag genommen wurden.

Der Knabe war außer sich, und die Nachbarn, welche halb teilnehmend, halb neugierig hinter den Häschern in die Stube gedrungen waren, versuchten ihn umsonst zu trösten. Nachdem die Alte sich über den Verlust ihres soeben zum Geschenk erhaltenen Wildbrets einigermaßen beruhigt hatte, da sie die Hoffnung auf eine Belohnung seitens des Amtmanns tröstete, schwatzte sie dem Knaben vor, sein Vater werde nur ein wenig zur Mutter nach Göppingen gebracht und werde bald wiederkommen. Er ließ sich nach und nach beschwichtigen; über eines aber konnte er sich nicht zufriedengeben. »Mein Vater«, sagte er, »hat sonst nie geheult, und jetzt haben sie ihn grad geholt, wo er geheult hat.«

In diesem Augenblicke kam der Schütz, zu spät, um an der Gefangennehmung, zu welcher er beordert war, teilzunehmen, aber früh genug, um der Alten eine Nachricht zu bringen, die sie ganz darniederschmetterte. »Wisset Ihr auch, Hirschbäuerin«, sagte er, »daß Euer zweiter Sohn in Stuttgart hat Soldat werden müssen? Er hat einem Soldaten zur Desertion geholfen, und der Oberst Rieger, der dem Herzog sein Kriegsvolk zusammenwirbt, hat darauf gemeint, er sei ihm als Stellvertreter ebensogut oder noch lieber.«

Sie warf sich zu Boden und raufte ihre Haare. Diesmal war ihr Schreien und Heulen ernstlich gemeint. »Jetzt hab ich mein Stecken und Stab verloren!« jammerte sie.


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