Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Rasselnd und donnernd fuhren eines Vormittags mehrere Jagdequipagen die Straße herauf. Mitten im vollen Jagen hielt die vorderste vor der »Sonne« und nötigte dadurch die andern zu einem ebenso plötzlichen Halt. In der »Sonne« gab es ein Rennen und Jagen treppauf und -ab. Der Herzog Karl selbst war es, der in der ersten Kalesche saß und im raschen Vorbeijagen nach dem Schurwald einen Trunk vom Besten begehrte. Die Ehre war groß, noch größer aber die Eile, mit welcher der Befehl ausgeführt werden mußte, denn es war bekannt, daß der Herr nicht gern wartete und weder im großen noch im kleinen ein Hindernis seines Willens gelten ließ. Der Sonnenwirt flog daher wie ein Jüngling von achtzehn Jahren, und wenig fehlte, so wäre er die Treppe hinabgefallen; doch brachte er den alten Familienpokal glücklich an den Wagen. Sein Sohn sah vom Fenster aus zu, wie ihn der Herzog in Empfang nahm und nach einem guten Zuge wieder zurückgab; er sah, wie der junge Fürst gnädig, aber immer hastig mit seinem Vater sprach, wie dieser unter tausend freudigen Bücklingen sich weigerte, die Zeche zu machen, aber von dem bei dem Herzog im Wagen sitzenden Hofherrn einen mit einem gebieterischen Wink begleiteten Silbertaler annehmen mußte. Neugierig betrachtete er den von Jugend und Jagdlust strahlenden Landesherrn, dessen Allmacht ihm die Zahl seiner Jahre voll machen und doch den Wunsch seines Herzens nicht erfüllen konnte: das vornehme, freie Gesicht mit den herrisch umherschweifenden hellblauen Augen drückte eine machtbewußte Sorglosigkeit aus, welche die Freuden des Lebens in vollen Zügen schlurfte und sich dabei um keinerlei Bedenken zu kümmern hatte. So mußte es wenigstens einem jungen Menschen erscheinen, dem die Kehrseite solcher Herrlichkeiten verborgen blieb. »Nur ein Scherflein von dieser Freiheit und Ungebundenheit!« seufzte Friedrich. »Ich wollt es ja nur dazu benutzen, um an meinem Weib und Kind ein rechtschaffen Werk zu tun!«

»Wer wird denn da stehen und gucken, wenn's alle Händ voll zu tun gibt!« rief eine Magd, die in die Stube stürzte. »Die Herren in den andern Kutschen wollen auch Wein. Fort!! im Hausgang drunten stehen schon Butellen g'nung, 's fehlt nur an Händen, um sie rauszutragen.«

Friedrich eilte hinunter, ergriff mechanisch ein paar Flaschen und trug sie vor das Haus, wo sein Vater soeben, trunken vor Glück, von dem Wagen des abfahrenden Herzog zurücktrat und, beständig komplimentierend, seinem Sohne rücklings in die beladenen Arme taumelte. In diesem Augenblick erhob sich ein Angstgeschrei. Das vordere Pferd am herzoglichen Wagen, durch die neugierig umherwogende Menge oder vielleicht durch irgendeine mutwillige Untat der lieben Jugend scheu gemacht, bäumte sich so unversehens und heftig, daß der Jagdpostillion die Meisterschaft zu verlieren in Gefahr war und die andern Pferde gleichfalls unruhig wurden. Das Geschrei der Menschen, besonders aus den hinteren Kaleschen, steigerte die Verwirrung der Tiere, der Postillion schwankte im Sattel, die umstehenden Männer, die wohl keine Helden waren, wichen zurück und versperrten kräftigeren Händen den Platz, so daß nachgerade die Sicherheit des Herzogs an einem Haare hing. Da ließ Friedrich seine Flaschen fallen, daß sie klirrend am Boden zerbrachen, mit einem Sprung hatte er sich des ungebärdigen Rosses bemächtigt, das ihn auf und nieder schleuderte, endlich aber seiner markigen Hand sich fügen mußte. Als der stärkste Widerstand des Tieres gebrochen war, sprang noch ein Knecht herbei, der es vollends bändigen half, und nun kam alles, was Hände hatte, um die überwundene Gefahr noch einmal zu überwinden. Der Herzog, ärgerlich, daß seine Allgewalt vor den Augen der Sterblichen einen kleinen Eintrag erlitten hatte, rief: »Hat nichts zu sagen! Vorwärts! Keine Umstände weiter!«, nickte aber im Fortfahren dem jungen Menschen, der ihm diesen Dienst erwiesen, gnädig zu, griff dabei in die Westentasche und warf ihm ein Goldstück hin, während der vordere Postillion, seine wiedergewonnene Haltung mit verrissenem Grimm behauptend, die Peitsche gegen die herzudrängende Menge aufhob und der Jagdzug in donnerndem Laufe davonbrauste. Ein Gelächter folgte den unglücklichen Hofherren, die über dem Abenteuer ihres Gebieters nichts zu trinken bekommen hatten und sich ohne Zögern anschließen mußten, um ihren Durst im Schatten der Wälder oder vielleicht im Blute des Ebers zu kühlen. Noch ein Augenblick, und die ganze stolze Erscheinung war verschwunden, und die Straße mit den städtisch großen, aber einförmig grauen Gebäuden sah wieder so werktäglich aus, als ob sich gar nichts zugetragen hätte.

Friedrich war sogleich in das Haus zurückgekehrt, während sein Vater noch im Vollgenuß der gehabten Ehre mit den Nachbarn sprach, wobei er nicht unterließ, sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Flecken früher eine Post gehabt habe, von welcher er behauptete, daß sie mit der »Sonne« verbunden gewesen sei.

»Wo hast dein Goldvogel?« fragte er seinen Sohn vergnügt, als er mit dem Knechte heraufkam, um zu Mittag zu essen. »Der Johann sagt, es sei ein Goldstück gewesen, was dir der Herzog zugeworfen hab.«

»Ich hab's nicht aufgehoben«, antwortete Friedrich.

»Was? Bist von Sinnen?« schrie der Sonnenwirt.

»Ich hab eine Menschen- und Christenpflicht getan«, sagte Friedrich, »und dafür laß ich mich nicht mit Geld auszahlen. Zudem weiß man wohl, für was der Herzog die Dukaten in der Westentasch trägt – fürs Weibervolk. Das ist kein Geld für mich.«

»Hast's so übrig?« fragte der Vater, indem er den Löffel niederlegte, den er mit dem besten Appetit zu handhaben begonnen hatte. Das Essen wollte ihm nicht mehr recht schmecken. »Du bist mir der recht zum Obenaussein«, setzte er hinzu.

»Dann hätt das Geld wenigstens mir gehört«, maulte der Knecht, »denn ohne mein Beistand kann man nicht wissen, wie das Ding ausgegangen wär.«

»Warum hast's nicht genommen?« fragte Friedrich. »Ich hätt's dir nicht mißgönnt.«

»Such, Johann, such!« rief der Sonnenwirt. Aber der Knecht war schon aufgesprungen, und man hörte ihn die Treppen hinunterpoltern. Nach einer guten Weile kam er finster zurück und sagte: »Ich hätt mir's schon denken können, daß so was nicht lang liegenbleibt. Wer's aber genommen hat, ist ein Dieb. Der soll mir kommen. Ich werd's schon rausbringen, wer den gelben Vogel im Käfig hat. Der Fischerhanne, der ist, glaub ich, am nächsten dabeigestanden. Dem wassergrünen Spitzbuben werd ich aufpassen.«

»Schäm dich, Johann«, sagte Friedrich, »daß du dein Nebenmenschen schlecht machst, eh du weißt, ob er's ist. Der Fischerhanne ist nicht mein Freund und wird's auch nicht werden, aber ich tät mich doch zweimal besinnen, eh ich ihn einen Dieb hieß ohne allen Grund und Beweis. Und dir hat er nie was zuleid getan. Esel, warum hast du das Geld nicht gleich aufgehoben?«

Der Knecht sah ihn giftig an und murmelte halblaute Flüche in seine Suppe hinein.

»Das Aufheben wär an dir gewesen, du hochmütiger Herr«, sagte der Sonnenwirt zu seinem Sohne. »Du nimmst, wo du nichts anrühren sollt'st, und läßt liegen, was dein ist.«

Friedrich schwieg. Er hatte einem Advokaten in Göppingen geschrieben, ob er sich nicht seiner annehmen und seine Sache gegen seinen Vater führen wolle. Inzwischen gedachte er jeden unnützen Streit mit diesem zu vermeiden und sich, solange er ihm sein mütterliches Erbe nicht herausgab, als Kind von ihm ernähren zu lassen, was er ihm durch seine Dienste hinlänglich zu vergelten glaubte; denn wenn er auch mitunter, von Zorn und Überdruß ergriffen, in seiner Arbeit nachließ, so meinte er sich doch das Zeugnis geben zu dürfen, daß sein Vater mit Unrecht über solche Unterbrechungen klage, die im Vergleich mit seinem sonstigen Fleiß und Eifer kaum in Rechnung zu bringen seien.

Der Sonnenwirt schwieg gleichfalls und beschäftigte sich wieder mit dem Essen. Im ganzen hatte er doch keinen Grund, sich den Appetit vergehen zu lassen. Sein Sohn hatte dem Herzog einen nicht unbedeutenden Dienst geleistet, der jedenfalls der »Sonne« zustatten kommen mußte. Konnte dieses Ereignis aber nicht vielleicht auch das Glück des jungen Menschen machen und ihn sogar aus seiner verkehrten Richtung herausreißen? Der Herzog war gegen seine Gewohnheit weggefahren, ohne ein Wort zu verlieren, denn wenn er auch das Land wenig schonte, so pflegte er doch den Leuten ein gut Gesicht zu machen und konnte mit dem Geringsten im Volke freundlich reden. Nach einigen Tagen, auf der Rückfahrt, oder auf einer späteren Durchreise, falls er diesmal einen andern Rückweg einschlug, fragte er gewiß nach dem Jüngling, dessen kräftiger Arm ihn vor einer Gefahr bewahrt hatte, und je kleiner dieser sein Verdienst machte, desto höher konnte er in der Gunst des Herrn steigen. Posthalter von Ebersbach! Der Alte konnte diesen Gedanken nicht aus dem Kopfe bringen. Da war aber freilich immer wieder diese fatale Liebschaft im Wege.

Während der Sonnenwirt solchen Gedanken nachhing und dazwischen wieder dem Essen zusprach, dachte sein Sohn an nichts, als daß morgen der dritte Sonntag sei, an welchem er hätte proklamiert werden sollen, und daß heute die Antwort auf seinen Brief aus Göppingen eintreffen müsse. Um dieselbe geheimzuhalten, hatte er nicht die Post, sondern einen Bekannten benützt, der in Geschäften droben war und zu dieser Stunde zurückkommen sollte. Er stand vom Essen auf und ging die Straße hin, um den Brief in Empfang zu nehmen, mit welchem er sodann unter die Erlen an dem Flüßchen eilte. Der Advokat schrieb, er mische sich nur höchst ungern in Händel zwischen Kindern und Eltern, zudem scheine ihm die Sache sehr verwickelt, der Ausgang ungewiß, und ohne einen Vorschuß könnte er sich nicht in diese Geschichte einlassen. Abermals eine vereitelte Hoffnung! Er knirschte mit den Zähnen, schüttelte einen alten Weidenbaum, daß er in den Wurzeln krachte, und ging kranken Herzens, denn jetzt wußte er nicht mehr, womit er Christinens tägliches Wimmern stillen sollte, in das väterliche Haus zurück.

Er war dort heute nichts weniger als überflüssig. Dieselbe Straße, auf welcher des Herzogs leichte Kaleschen den Staub aufgewirbelt hatten, kamen jetzt schwere Frachtwagen langsam vor die »Sonne« dahergefahren. Friedrich half die Pferde ausschirren und versorgen.

Kaum waren die Fuhrleute bedient und zum Teil nach ihren Rossen zu sehen gegangen, so kamen abermals Gäste, und zwar diesmal zu ungewohnter Stunde aus dem Flecken selbst. Es war der junge Müller Georg mit einem Mädchen von nicht ungefälligem Aussehen, das er als seine Braut vorstellte, und einem Schwarm von Sippschaft aus benachbarten Orten hintendrein, worunter sich auch der Knecht des andern Müllers befand. Er gehörte, wie sich aus dem Gespräch ergab, zur Verwandtschaft und hatte als Unterhändler dieses Verlöbnis zustande bringen helfen, daher er billig beim Brauttrunke sich mitfreuen durfte. Die vergnügte Miene des Müllers verriet es, und derbe Andeutungen der anderen Verwandten sagten es noch lauter, daß die Braut »Batzen« habe. Ehe die Gäste sich setzten, fand eine lange Begrüßung statt, bei welcher der Sonnenwirt in ehrerbietigerem Tone als gewöhnlich und die Sonnenwirtin mit sauersüßem Gesichte dem Müller Glück wünschten. »Ja, ja«, sagte diese, »jetzt habt Ihr das recht Wasser auf Eure Mühle gefunden; der Silberbach, nicht wahr, der wird sie besser treiben als der Ebersbach?« Die ganze Verwandtschaft lachte sehr geschmeichelt. Nun trat auch Friedrich zu dem jungen Manne, schüttelte ihm die Hand, begrüßte die Braut gleichfalls und brachte seinen Glückwunsch mit wenigen, aber herzlichen Worten an. »Jetzt tu Wein her, Frieder, und das nur g'nug!« sagte der Müller. »Heut laß ich alle Gäng los! Du mußt auch mittun, wir haben schon lang nicht mehr miteinander getrunken.«

»Ja, ich will so frei sein«, erwiderte Friedrich und eilte in den Keller.

»Ihr habt heut 'n Glückstag gehabt, Herr Sonnenwirt«, begann der Bräutigam, als die Gesellschaft, den Wirt und seine Frau mit eingeschlossen, an dem runden Tische Platz genommen hatte. »Ich bin nicht dabeigewesen, hab's aber gehört. Und der Frieder, das ist ja ein Kerl wie ein Löw! Nun, der hat die Wurst nach der Speckseit geworfen; der Herzog wird sich's hinter die Ohren geschrieben haben. Ich hab's oft gesagt, aus dem Bub kann noch was werden.«

»Im Guten oder im Bösen«, erwiderte der Sonnenwirt. »Ich hab's auch schon gedacht, daß er nichts Halb's werden will. Seit einiger Zeit aber hat er sich ganz auf die eine Seit geneigt. Ihr wisset's ja selber, wie er mir Verdruß und Bekümmernis macht.«

»Darin will ich ihm den Kopf nicht heben«, sagte der junge Müller, indem er seine Braut zärtlich ansah. »Besser ist besser, das weiß ich. Aber wenn die Sach eben einmal so weit ist wie bei dem Frieder – ich sag's ganz unmaßgeblich, Herr Sonnenwirt, ich red bloß von mir – wenn ich 'n Sohn hätt, und er ging in solchen Schuhen und wollt eben um Gottes oder 's Teufels willen seinem Schatz Wort halten und sein Kind vor Elend bewahren – ich weiß nicht, was ich tät, aber so viel müßt ich mir doch immer sagen: das Kind, das ist dein Enkel.«

»Unser Herrgott wird davor sein, daß dir so was zustoßt«, sagte die dicke Frau aus der Sippschaft der Braut mit scharfbetonter Mißbilligung. »Hätt'st wenigstens gleich dazu sagen sollen: Unbeschrien! An einem Tag wie der heutig mußt kein so Ding reden.«

Der Bräutigam wurde gewahr, daß er einen großen Bock geschossen. Er wandte sich zu seiner Braut, welche blutrot geworden war, und flüsterte ihr unausgesetzt gute Worte zu, ohne weiteren Anteil an dem Gespräch zu nehmen. Anfangs schien sie etwas scheu und widerwillig zu sein, auch zog sie den Arm weg und rückte ein wenig, wenn er sie berühren wollte; nach und nach aber ließ sie sich wieder begütigen.

»Das wär mir eine neue Erziehung«, nahm die Sonnenwirtin nach der Tadlerin das Wort, »wenn des Menschen Eigensinn Gottes Will heißen müßt. Des Teufels Will, ja, das ist recht gesagt.« – Sie sah sich im Kreise um und begegnete, wenigstens bei den weiblichen Mitgliedern desselben, lauter beifälligen Gesichtern.


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