Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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»Alles in seiner Art«, sagte die Alte, »und jeder an seinem Platz! Was kann unser Freund für sein Gesicht? Er sagt, er sei um sein Mütterliches gebracht worden. Oh, das ist ein großer Irrtum! Sein Mütterliches guckt ihm aus dem Gesicht heraus. Die meisten Menschen sehen bloß ihrem Vater ähnlich, und die Männer verhärten sich im Leben, das kann nicht anders sein. Wenn aber einer etwas von seiner Mutter hat, so braucht man die Frau gar nicht gekannt zu haben, man sieht's auf den ersten Blick, und wenn er noch so finster und grimmig dreinschaut. Ich verstehe mich auf Physiognomien. Das ist ein Gesicht, mit dem es alle, die sich ehrliche Leute nennen, gern zu tun haben, denn man merkt ihm gleich den Deutschen und, was noch mehr sagen will, den Schwaben an.«

Die Augen der Alten ruhten bei diesen Worten mit einer brennenden Wärme auf ihm, als ob ihr altes Herz sich noch von jugendlichem Liebesfeuer durchglüht fühlte. Es belüstigte ihn, es lächerte ihn, und dennoch tat es ihm wohl.

»Die Mutter hat zwei Deutsche zu Männern gehabt«, sagte der Zigeuner lächelnd zu seinen Gesellen. »Das verbirgt sich nicht. Aber ihr Vorschlag scheint mir gut.«

»Tres von«, sagte Bettelmelcher, »das Projekt ist insidiös.«

Schwamenjackel sagte nichts, sondern schaute gedankenvoll durch die leere Flasche, die er sich vor die Augen hielt. Die stumme Kundgebung bewog seinen Genossen, dem versäumten Schenkendienste gewissenhaft wieder obzuliegen.

»Was sagst du zu dem Antrag, Bruder Schwan?« wendete sich der Zigeuner an den Gast.

»Ich rechne mir euer Zutrauen zur Ehre«, antwortete dieser, »aber ich weiß nicht, ob ich auf den Posten tauge.«

»Zweifel und Bedenken über deine Fähigkeit lassen wir nicht gelten, da gib dir nur gar keine Mühe«, erwiderte der Zigeuner. »Es fragt sich bloß, ob du Lust und Liebe hast, dich zu einem gemeinsamen Geschäftsbetrieb mit uns zu verbinden, und ich denke, die Antwort sollte dir nicht schwer werden. Du weißt, ich hab dich schon von Hohentwiel aus mitnehmen wollen, und es hat mir nicht gefallen, daß du durchaus nach Ebersbach gewollt hast. Jetzt seh ich's noch viel deutlicher ein, daß dein Herumhocken in dieser Gegend zu nichts Gutem führen kann. Deine Hartnäckigkeit bringt dich gewiß noch an den Göppinger Galgen. Mach, daß du in eine andere Luft kommst; es ist allenthalben etwas zu verdienen. Und was ist das für eine Existenz, für Leben und Sterben, hier und da ein Stück Fleisch oder Brot aus einem Haus zu holen und den Hals dabei zu riskieren oder einem Brenner aus Malice, weil er einen elenden Fusel hergegeben hat, den Brennhafen fortzuschleppen, den man unterwegs liegenlassen muß! Das mag, wie gesagt, zur Abwechslung dann und wann recht sein, wenn nicht viel dabei auf dem Spiel steht, aber für einen Mann von deinen Gaben – nimm mir's nicht übel, Schwan, du weißt, ich pflege offen zu reden, und als dein Freund und Kriegskamerad brauch ich kein Blatt vor den Mund zu nehmen – für einen Mann, der wie du zu etwas Besserem bestimmt ist, ist es ein erbärmliches Handwerk. Ich sag dir, es ist unter deiner Würde, und wieviel du Seide dabei gesponnen hast, wirst du selbst am besten wissen.«

Der Gast warf einen unwillkürlichen Blick auf seine abgetragenen Kleider, der dem Redner gestand, daß man ihm recht geben müsse. »Bei uns ist ganz anders für deine Sicherheit gesorgt. Wir wissen in aller Herren Ländern jedes Plätzchen, wo man sich ruhig niederlassen kann.«

»Ist denn das zum Beispiel hier der Fall?« unterbrach ihn der Gast.

»Freilich!« rief der Zigeuner. »Die Frage beweist, wie wenig du die Welt noch kennst. Hier sitzen wir auf edelmännischem Boden und sind so sicher wie das Kind im Mutterleib, während du in deiner Unkenntnis mit ein paar Schritten ins Württembergische taumelst, wo die Leute dumm sind und die Beamten, wie du selbst erzählst, sich kein Gewissen daraus machen, einem seine eigenen Kinder als Lockwürmer an die Angel zu stecken, um den Fisch damit zu fangen. Auch haben wir überall unsere vertrauten Leute, die uns Nachricht geben, wenn etwas gegen uns los ist. Und wenn je einmal eins von uns den Fuß übertritt und in die unrechten Hände gerät, so gibt es auch Mittel und Wege, ihm wieder aus der Falle zu helfen. Das alles geht dir ab, solang du wie ein Irrlicht allein und auf eigene Faust umherflackerst. Und was für Ehre hast du davon, dein kümmerliches Leben immer und ewig um dein einfältiges Ebersbach herum zu fristen, wo alles schreit: ›Der Dieb, der schlechte Kerl, der Sonnenwirtle ist wieder einmal dagewesen und hat dies und das gestohlen!‹ Wenn du in unsere Gesellschaft eintrittst, so hörst du ganz andere Titel, da bist du allen ein lieber, werter Freund, wirst wegen deines Mutes, wegen deines Verstandes, wegen deiner Treue geliebt, geachtet, bewundert, auf den Händen getragen.

Bei uns findest du keinen Brotneid, keine Unterdrückung, wie in der honetten Welt draußen. Du bist uns mit deinem Kopf und Arm willkommen, und wir bedürfen deiner, wie du unserer bedarfst. Unsern Ertrag teilen wir ehrlich und redlich, und wenn einer vor den andern eine besondere Mühe auf sich genommen hat, so wird ihm ein verhältnismäßig größerer Anteil zuerkannt. Wer die beste Meinung geltend machen kann, dessen Anschlag wird befolgt, und was gemeinsam beschlossen ist, wird in strenger Ordnung ausgeführt. Außerdem aber leben wir als freie Leute auf gleichem Fuß miteinander.«

»Und immer in Floribus!« fiel Bettelmelcher ein, indem er die Flasche schwang und dem Gast reichte.

»Leuchtet dir aber die Wahrheit deines Sprüchleins auch im anderen Punkte ein«, hob der Zigeuner wieder an, »und möchtest du eine Gefährtin haben, die in deinen neuen Lebenslauf paßt, so hast du, ohne Ziererei gesprochen, zwischen meinen Schwestern die Wahl. Du wirst sie, denk ich, beide nicht übel gefunden haben. Eine abschlägige Antwort hast du nicht zu befürchten; ich bürge dir nicht bloß für die Freundliche, sondern auch für die Trutzige, die mir ein herbes Gesicht für meine Rede macht. Auch findest du nicht einmal einen Nebenbuhler, denn beide sind frei, Freund Bettelmelcher aber ist versehen und schwört nicht höher als auf seine Marianna, die zärtliche Taube, die auch mit uns fliegen wird, und Freund Schwamenjackel macht dir nicht die mindeste Konkurrenz. Der hat statt des Herzens eine zweite Leber, oder wenn's je ein Herz ist, so ist es für die Weiber unzugänglich; keine Schottenfellerin wird es einsacken, keine Schrendefegerin wird hineinsteigen.«

Schwamenjackel grunzte, und die andern brachen in ein Gelächter aus.

»Sollten jedoch beide keine Gnade vor deinen Augen finden«, setzte der Zigeuner hinzu, »so dürfen sie dir kein saures Gesicht machen, wenn du eine andere wählst. Ich hab dir's ja schon früher gesagt: in Bickesheim bei Rastatt, am großen Wallfahrts- und Jahrmarktstage, da kannst du alles beisammen finden, was zu unserer Verwandtschaft gehört, und noch viel andere mehr. Da hast du eine große Auswahl, und welche dir gefällt, die muß uns recht sein. Ich kann dir aber voraussagen, daß dir außer meinen beiden Schwestern höchstens noch die Lisa gefallen wird; denn diese drei gelten bei Freund und Feind für die drei größten Schönheiten zwischen Rhein und Donau. Die Marianna ist die vierte und sticht vielleicht alle drei aus, aber die läßt von ihrem Herzblatt nicht. Die Lisa hat zwar einen Mann, dem sie aber längst wegen seiner Schneidercourage den Laufpaß gegeben hat. Er ist ein Landsmann von dir, aus dem Maulbronner Oberamt gebürtig und unter dem Namen Schneidermichel bekannt.«

»Den kenn ich von Ludwigsburg her«, sagte der Gast.

»Ja, sie haben ihn um etlicher Kalamitäten willen ins Zuchthaus gesteckt und seitdem, wie ich höre, unter ein Grenadierbataillon gestoßen.«

Die Mädchen lachten.

»Der wird eine schöne Figur machen«, sagte die jüngere.

»Er hat freilich weder das Pulver erfunden, noch wird er's gern riechen«, bemerkte der Gast. »Übrigens ist er sonst ein guter Kerl.«

Die ältere begann über die abwesende Lisa, in der sie eine Mitbewerberin fürchten mochte, hämische Äußerungen auszustoßen, die aber von der jüngeren kräftig abgewehrt wurden. Dieser trat auch die Mutter bei und erklärte mit Lebhaftigkeit, die Geschmähte sei ihre Schwestertochter, sie habe sie so lieb wie ihre eigenen Kinder und wünsche sie so gut wie diese mit einem wackeren Manne, wie Herr Schwan, versorgt zu wissen.

»Das ist brav, sich der Abwesenden anzunehmen!« sagte dieser, indem er seiner jüngeren Nachbarin auf den Nacken klopfte, wobei er sich beredete, daß er die viele Freundlichkeit, die ihm in Worten und Werken erzeigt werde, doch auch in irgendeiner Weise erwidern müsse. Die Zigeunerin aber schien nicht mit dieser Art der Erwiderung einverstanden zu sein, sondern stieß ihn heftig zurück, wozu sie sich wohl noch mehr durch das zudringliche Betragen ihrer Schwester als durch seine Kühnheit herausgefordert fühlen mochte.

»Hoho!« rief ihr Bruder, »auf einen Puff gehört ein Kuß, das ist in den Wäldern so gut wie in Städten und Dörfern Sitte, und damit der Feuerteufel von einem Weibsbild keinen Ausweg hat, so schlage ich vor, daß wir jungen Leute mit diesem Gaste Bruder- und Schwesterschaft trinken.«

Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall, die Flasche ging in die Runde, und der Freundschaftsbund wurde von den Männern mit einem Handschlag, von den beiden Mädchen je mit einem Kusse besiegelt. So feurig aber die ältere diese Gelegenheit benutzte, um ihre Wünsche kundzugeben, so deuchte den Gast der rasche Kuß, mit welchem die jüngere einen Augenblick seine Lippen zusammenpreßte, weit inniger zu sein, und ein heißer Strahl aus ihren dunklen Augen sagte ihm, daß sie der Bezeichnung, die ihr Bruder ihr soeben gegeben, zu entsprechen vermöge. Doch riß sie sich gleich wieder von ihm los und setzte sich ruhig auf ihren Platz.

»Eine solche Buße«, sagte er, »kann ich mir für die Sprödigkeit wohl gefallen lassen. Weil mir's aber doch scheint, daß es der Jungfer schwerfallen will, dieselbe gegen mich abzulegen, und weil ihr mich alle vorhin wegen meiner Standhaftigkeit gelobt habt, so will ich nur gestehen, daß mein Weib zu dieser Stunde vor dem Wald, wo ich sie hinbestellt habe, auf mich warten wird. Mein Weib heiß ich sie, obgleich wir's mit aller Mühe nicht dahin gebracht haben, miteinander vor den Altar zu kommen. Somit weiß ich auf das liebreiche Anerbieten nichts zu antworten als dieses: Wenn's in eurer Gesellschaft nicht vielleicht Sitte ist, daß einer zwei oder mehr Weiber hat wie die alten Erzväter in der Bibel, so muß ich eben danken, weil ich schon versehen bin.«

Er konnte es nicht unterlassen, diese Eröffnung mit einem spähenden Blick auf seine Nachbarin zu begleiten, und hatte die Genugtuung, zu sehen, daß sie ihr Gesicht nicht so völlig in der Gewalt hatte, um die unwillkommene Überraschung ganz verbergen zu können.

»Das ist freilich was anderes«, versetzte der Zigeuner. »Bis jetzt ist die Vielweiberei bei uns nicht im Schwang gewesen. Die Männer würden sich vielleicht gar nicht ungern dazu verstehen, aber die Weiber finden sie nicht nach ihrem Geschmack. Übrigens ist es schade, daß du uns nichts von der Ankunft deiner Frau gesagt hast. Wir haben ja beinahe nichts mehr übrig, was man ihr anbieten könnte. Da du unser Gast bist, so darfst du dich nicht bemühen. Freund Bettelmelcher ist gewiß gern so galant, sie abzuholen und in unsere Mitte einzuführen.«

»Wie sieht sie denn aus, damit ich nicht die Unrechte bringe?« fragte dieser neugierig lächelnd, indem er sich zum Fortgehen anschickte.

Christinens Freund empfand eine seltsame Verlegenheit. »Sie sieht aus wie die Leute aus der Umgegend«, sagte er, nachdem er einen Augenblick vergebens nach einer passenden Beschreibung gerungen hatte.

»Geh nur, Schelm!« rief der Zigeuner lachend. »Meinst du denn, du werdest einen Markt voll Weiber vor dem Walde finden? – Wir müssen eben einmal die Probe mit ihr machen, wie sie sich bei uns gefällt«, fuhr er fort, nachdem Bettelmelcher sich entfernt hatte. »Wir beweisen dir eine große Rücksicht, Bruder, und gehen weit von unseren gewohnten Grundsätzen ab, wenn wir deine Frau in unsere Gesellschaft aufnehmen. Was die Männer betrifft, so halten wir's nicht gar streng mit den Deutschen, selbst wir Zigeuner nicht, die wir uns noch am meisten abzuschließen pflegen. Meine Mutter ist, wie du weißt, mit Deutschen verheiratet gewesen. Unsere beiden Freunde hier sind gleichfalls Deutsche, wenigstens dem Aussehen nach, denn ihr Stammbaum ist ihnen selbst nicht recht bekannt. Welche Aufnahme du bei uns gefunden hast, das weißt du selbst. Gegen die deutschen Weiber aber besinnen wir uns dreimal, bis wir eine zulassen.«

»Aber nicht, weil wir eifersüchtig sind!« rief seine jüngere Schwester trotzig dazwischen.

»Nein, das sind wir nicht!« stimmte die ältere mit einem spöttischen Gelächter ein.

»Die deutschen Weiber«, sagte die Alte, »sind nicht zu unserem Leben erzogen und taugen deshalb selten dazu.«

»Sie sind«, ergänzte ihr Sohn, einen Augenblick aus dem Tone guter Lebensart fallend – »sie sind in der Regel dumme Hunde, die zu nichts zu gebrauchen sind.«

Es rauschte im Walde, und man hörte das Zirpen einer Grille, das der Zigeuner mit dem gleichen Laut beantwortete. Gleich darauf erschien Bettelmelcher, eine Frau am Arme führend oder vielmehr nach sich ziehend. Es war Christine, die ihm ängstlich und mit sichtbarem Mißtrauen folgte. Sie machte große Augen, als sie ihren Frieder zwischen den beiden Schönheiten sitzen sah, von welchen ihr Begleiter vermutlich nichts gesagt hatte. Dieser rechtfertigte das Lob, das der Zigeuner ihm zuerkannt hatte. Er führte seine Anbefohlene mit fratzenhafter Galanterie herbei und sagte kratzfußend, indem ein leises, aber unbeschreiblich boshaftes Lächeln in seinen Mundwinkeln stand: »Habe die Ehre, Madame Schwan der Gesellschaft zu präsentieren.«

Christine zog ihren Arm aus dem seinigen und trat zu ihrem Manne. »Wo steckst denn so lang?« fragte sie weinerlich. »Läßt mich eine geschlagene Stunde vorm Wald da warten, daß ich schier am Umsinken bin.«

»Nun, so setz dich«, erwiderte er etwas unmutig, »bist ja jetzt bei mir.«

Die jüngere Zigeunerin rückte zuvorkommend und zog Christinen zu sich nieder, so daß sie zu ihrem Manne zu sitzen kam. Freilich war der Platz nach der anderen Seite hin nicht sehr vorteilhaft für sie, sofern sie die Vergleichung mit ihrer jüngeren, schöneren und reizend gekleideten Nachbarin aushalten mußte. Friedrich wußte, daß die Gesellschaft stille Blicke unter sich wechselte, die das Ergebnis dieser Vergleichung aussprachen. Er sah die Blicke nicht, aber er fühlte sie.


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