Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Neununddreißigstes Kapitel

Ruhig lag die Welt, wie ein eingewiegtes Kind. Das Gewitter hatte den schwülen Druck des Sommers hinweggenommen, und in der freundlichen Kühle atmete alles Wesen auf. Die Felder ruhten von des Tages Hitze, und durch die Blätter des Waldes ging ein frischer, sanfter Hauch, daß sie nur leise wie im Traume zitterten. Die Menschen schlürften in bewußtloser Wonne den Segen dieser milden Nacht, die selbst dem Fieberkranken wieder einmal Ruhe und Frieden schenken konnte.

Einer aber schlief nicht. Er bettete sich unter dem dichtesten Gesträuch, wo nicht einmal ein Wild hinkam, legte den Arm über eine Baumwurzel und bereitete sich so ein Kopfkissen; aber der Schlaf, den er hundertmal auf rauherem Lager gefunden hatte, wollte ihn nicht besuchen. Er drückte die brennenden Augen in das feuchte Moos, aber sein von langer Schlaflosigkeit gequälter Kopf hörte nicht zu summen und zu dröhnen auf. Das Flüstern der Blätter störte ihn; es war ihm, als ob sie sich etwas von ihm erzählten. Er brach wie ein gescheuchtes Wild durch die Zweige, floh aus dem Walde heraus und irrte durch die Äcker und Wiesen, die am Abhang der Anhöhe lagen. An einer Stelle setzte er sich auf den Markstein, an einer anderen legte er sich in das kühle Gras, wo es noch nicht von der Sense berührt war, denn seine Glieder waren von Ermattung wie zerschlagen; aber sein Körper fand die Ruhe nicht, die seiner Seele fehlte. Er hörte vom Tale herauf den Schlag der Glocke und den Ruf des Wächters in regelmäßigen Absätzen, die den unerbittlichen Gang der Zeit verkündigten. Er sah den Mond über den Himmel wandeln und seinem Ziele näher und näher sinken; an seinem weiten Wege konnte er sehen, wie lange schon die Welt der Ruhe pflegte, die ihn floh. Die Sterne glänzten in der herrlichen Sommernacht wie eine goldene Schrift auf dunkelblauem Grunde; aber mit seinem stumpfen Blick konnte er sie nicht lesen, und kopfschüttelnd ging er nach dem Walde zurück.

Sein ganzes Schicksal zog in dieser Nacht an seiner Seele vorüber; die Vergangenheit schmerzte, stachelte ihn, und die Zukunft hing wie eine wetterschwangere Wolke vor seinem Auge. Er gedachte an jene biblische Erzählung von dem Erzvater, der im Traume eine Leiter auf der Erde stehen sah, die mit der Spitze bis an den Himmel reichte; die Engel stiegen daran auf und nieder, und Gott selbst stand oben darauf. Ihm nahm das Traumgesicht die entgegengesetzte Richtung: er sah endlose Stufen in die Tiefe führen; der Weg hinab war leicht, aber die Rückkehr abgeschnitten; schon war er weit hinuntergestiegen, und jetzt reichten ihm seine Genossen die Hände und tanzten lustig lachend immer tiefer mit ihm hinab. Die verführerische Gestalt der Gefährtin seines Verderbens winkte ihm, die Tochter einer gesetzlosen Welt erschien ihm wie eine schöne Tigerin, die mit heißer Zunge an seinem Herzen leckte. Mitten im Grausen der Verworfenheit empfand er den Reiz, der ihn zu ihr hinzog, und seine Sinne riefen ihm zu, die Lust des Lebens noch recht zu kosten, wenn er denn doch rettungslos verloren sein sollte.

Er schweifte in weiten Kreisen vom Felde in den Wald und vom Walde in das Feld zurück; aber weder in Feld noch Wald wuchs das Kraut, das den fieberischen Aufruhr seines Blutes heilen konnte.

Der Morgen kam, und endlich ging auch die Sonne über den Bergen auf. Höher steigend schien sie in das breite Tal hinein und trocknete den Tau von dem gemähten Heu, das in großen Haufen auf dem Felde lag, so daß bald ein süßer Duft sich mit den Morgenlüften mischte, jener Duft, der vor allen andern den Menschen mit heimatlichen Empfindungen erfüllt. Der Geächtete sog ihn gierig ein, und Tränen traten in seine müden Augen. Wie oft hatte er da unten als Knabe mit anderen Knaben, die jetzt sich verabscheuend von ihm wandten oder mit der Mordwaffe seine Spur verfolgten, in dem aufgeschichteten Heu sich gewälzt und vor Freude gejauchzt! Von dem Vorsprung, auf dem er stand, konnte er in seinen Flecken hineingehen und die Giebel der Häuser erkennen, an welchen seine Erinnerungen hafteten. Dort, von den Erlen des Flüßchens überragt, stand das Haus, das ihn geboren, das nach dem rechten Laufe der Dinge ihn als Erben hätte behalten sollen. Hier, am Ende des Fleckens, stand das Haus der Armut, wo seine Kinder waren, wo er den schwarzen Faden angeknüpft hatte, der sich auf seinem Lebenswege immer fester um seine Füße wand. Und dort weiterhin sah er den Giebel des Rathauses, wo ihm aus diesem Faden die Stricke gedreht wurden, die ihn immer weiter von der bürgerlichen Gesellschaft losrissen. Dort war seine erste Christine diese Nacht im Gefängnis gelegen und befand sich jetzt wohl schon auf dem Wege, zu stark verwahrt, als daß er sie hätte befreien können. Und wenn ihm auch ein kühner Streich gelänge, er konnte ja doch den Kindern nicht die Mutter wiedergeben, und der Vater war auf lange, vielleicht auf immer, von ihrer Schwelle verbannt.

Doch war es nicht dies allein, was seinen Blick an die grauen Giebel fesselte: es war der wunderbare Zug nach der Heimat, den seine heimatlosen Gesellen nicht verstanden. Seltsamer Drang des Herzens! Keine heimische Geschichte, vom Mund des Großvaters auf den Enkel fortgepflanzt, keine alte Volkssitte lebte in diesem nüchternen Orte, woraus das Gemüt des Knaben Nahrung und dankbare Anhänglichkeit hätte schöpfen können, und doch zog es den reifenden Mann aus der Öde der Verbannung immer wieder nach der kargen Heimat zurück. Sie hatte ihn ausgestoßen und von sich gespien, sie fürchtete sich vor ihm wie vor dem wilden Tier, das aus den Wäldern hervorbricht; er fluchte ihr und drohte ihr mit Mord und Brand: und doch kam er immer wieder nach ihr zu schauen, und in seiner kindisch unverdauten Weise war er mehr als auf jede Kriegs- oder Friedensneuigkeit darauf erpicht, zu wissen, was man in Ebersbach von ihm sage, obgleich er sich die Antwort selbst geben konnte, die ihn immer wieder mit Wut und Haß gegen die Menschheit erfüllte.

Er ging in den Wald und zog aufmerksam spürend einen großen Bogen, der ihn zuletzt wieder eine gute Strecke unterhalb seines Vaterortes gegen das Tal herausführte.

Er zog sich an der steilen Bergseite hin und geriet in eine Vertiefung, die von oben nach dem Tälchen herablief, wie sie, vom Volke Klingen genannt, in den vielfach eingeschnittenen Bergwäldern sich häufig finden. Ein Erdaufwurf, mit Moos und Waldgras bewachsen, hinderte seinen Schritt. Er blieb stehen und besann sich. »Richtig«, sagte er, »hier am Kirnberg, weit ab von ihrer Gemeinschaft, haben sie dich eingescharrt, armer Küblerfritz! Wenn einer des Wegs daherkommt, so geht er gewiß scheu vorüber und denkt in seinem Herzen: ›Herr, ich danke dir, daß ich kein solcher bin.‹ Bei Nacht wird sich vollends gar keiner herwagen, und doch bleibst du sicherlich auf deinen trotzigen Ellenbogen ruhig liegen, denn der Kirnbach da drunten ist viel zu klein für deinen Durst. Schlaf du ruhig fort im kühlen grünen Wald.«

Er setzte sich auf den verrufenen Hügel und pflog mit seinen Gedanken Verkehr. Da sie ihm aber zu wild wurden, stand er wieder auf und ging weiter vorwärts, bis er zu einer alten Buche kam, die ihm bequem zum Anstand schien. Das Gewehr in den herabhängenden Händen haltend, lehnte er sich an den Baum und starrte in den blauen Himmel empor. Es war so still, daß der Ton des Mähens von draußen, wie er glaubte, in diese Einsamkeit zu ihm drang. Da weckte ihn ein Geräusch in der Nähe. Er blickte hin und erhob leise das Gewehr. Auf einer kleinen Lichtung, unter der Stelle, wo er seinen Stand genommen, war ein Hirsch herausgetreten, der lauschend stehenblieb. Er legte an, zielte und wollte abdrücken, zog aber in diesem Augenblick das Gewehr zurück, da er die Ursache entdeckte, die den Hirsch zurückgehalten und ihm schußgerecht gebracht hatte. In der Richtung des Schusses, auf einer Wiese an der Bergseite gegenüber sah er zwei Männer mähen; das Rauschen der Sensen hatte das scheue Tier stutzig gemacht, ohne daß es vor dem zu dieser Zeit gewohnten Tone floh. Die Wiese war so nahe, daß ein Fehlschuß den Männern Gefahr bringen konnte. Er hielt das Gewehr unschlüssig in den Händen und blickte hinüber – da spannten sich auf einmal alle seine Muskeln, und seine Augen traten hervor: der eine der beiden Mäher war der Fischer! Er dachte nicht daran, welche jämmerliche Armut diesen Menschen getrieben haben mußte, um eines elenden Tagelohnes willen sich in dieses abgelegene Tälchen zu wagen, während er in jedem Winkel der Gegend seinen schwergereizten Feind, nach dem er soeben noch geschossen, zu vermuten hatte – er dachte nur an seinen wiederholten Schwur, den ersten der drei gedungenen Verfolger, der ihm vor die Mündung kommen würde, zu bezahlen. »Hab ich dich, Mordhund!« sagte er, die Lippen lautlos bewegend. Er legte das Gewehr wieder an und richtete es seitwärts von dem Hirsche, der noch immer gegen die Wiese hinablauschte, gegen das in seinen Schuß gekommene Menschenwild. Es bedurfte eines leichten Drucks, und seine Rache war gekühlt, der Eid, zu dessen Sklaven er sich machen wollte, war eingelöst. Was hielt ihn zurück?

Er zog das Gewehr wieder an sich und blickte lange auf den Menschen, der so oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben, der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier seine Kugel auf ihn abgeschossen hatte. In diesem unbedeutenden Menschen sah er alle versammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleise gedrängt und endlich von der Bahn seiner rechtmäßigen Ansprüche hinabgestoßen hatten. Er sah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens schmausen und sich selbst in die Wildnis hinausgestoßen. Und waren die Unschuldigen, welche seiner rettungslosen Verzweiflung noch zum Opfer fallen sollten, von welchen einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren sie nicht eines Schuldopfers wert? Hier stand einer seiner Kugel preisgegeben, der sich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Mensch sich wünscht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Gesellschaft eine gewisse Weihe erhalten sollte, so winkte ihm hier an der Pforte der Hölle eine Rachetat, bei welcher er sich, um Recht und Gerechtigkeit betrogen, so hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener Sache zu sein, daß er sein neues Leben nicht besser einweihen zu können meinte. Warum zögerte sein Finger am Drücker?

Viermal zielte er, und viermal setzte er wieder ab.

Kampf und Wut und Schrecken umnebelten den Geist des ausgestoßenen Sohnes der Gesellschaft, der sich vergebens beredet, daß er mit kaltem Blute in dem Kriege, welcher gegen ihn geführt wurde, seinen Feind niederschießen könne. Seine Rachegedanken waren ihm wüst und unklar durch die Seele gegangen; sie schwanden hin, und gänzliche Verwirrung seiner Sinne blieb zurück, in welcher nichts von Haß und Rache, nichts von Bewußtsein mehr war, in welcher nur jene dunkle Stimme fort und fort flüsterte: »Tu's! tu's! du mußt es tun!«

Der Schuß krachte über das Tal hinüber, der Hirsch war mit einem Satze verschwunden, und der Rauch, der von dem Gewehr aufstieg, verhüllte den friedlich blauen Himmel einen Augenblick. Obgleich von oben nach unten versendet, hatte der Schuß nicht gefehlt. Der Mörder hörte und sah, während der Rauch sich verzog, wie sein Opfer aus der gebückten Stellung sich aufrichtete, die Hand auf den Unterleib drückte und ausrief: »O du verfluchter Hund – er hat mich getroffen!« Der Gefährte des Fischers eilte hinzu und riß ihn, noch erschrockener als der Getroffene, mit sich an den Weg hinab, auf welchem er, beständig den Kopf geduckt haltend, mit ihm fortrannte. Der Mörder schritt an seiner Bergseite weiter vor gegen das Tal hinaus und sah mit stumpfer Teilnahme, mit einer seltsamen Art von Neugier aus der Höhe zu, wie die beiden gegen das offene Tal hinausliefen, wie der Fischer, dem seine Eingeweide zu brennen schienen, von seinem Genossen unterstützt aus dem Bache trank und wie den Zusammensinkenden ein draußen vorbeikommender Wagen aufnahm. Die Leute liefen im Tale von den Feldern zusammen, und er hörte in seiner waldigen Höhe das Geschrei: »Meuchelmord!«

Es wurde still in dem engen Tal des Todes, so still, daß alle Hirsche des Waldes sich darin hätten versammeln können. Nach einiger Zeit kam eine Kuh langsam aus dem Walde den Weg daher. Sie mochte sich von einer nahen, im Walde gelegenen Weide hierher verloren haben. Sie lief auf die Wiese, wo der Fischer den Todesschuß erhalten hatte, und begann sich an dem von der Sense verlassenen Grase zu ergötzen.

Wieder verging einige Zeit, da kam ein Mann aus der Tiefe des Tälchens den schmalen Weg dahergegangen, eine vom Alter gebeugte und gebrochene Gestalt. Es war der Sonnenwirt, der in dieser frühen Stunde auf einem benachbarten Hofe einen Viehhandel abgeschlossen hatte und jetzt dem Tale zuging, um auf den Wiesen im Vorübergehen nach seinen Mähern zu sehen. Sein bleiches, mit tiefen Furchen gezeichnetes Gesicht verriet, daß seine guten Tage gezählt waren.

Er schritt, kummervoll zu Boden blickend, seinen Weg dahin. Da rief eine Stimme über ihm wie mit Donnerton: »Sonnenwirt von Ebersbach!«

Er fuhr zusammen und blickte in die Höhe. War das sein Sohn an dem steilen Waldabhange über ihm? Er stand auf einer Lichtung, so daß die Bäume unter ihm nur bis an seine Brust reichten und ihn in übermenschlicher Größe erscheinen ließen.

»Sonnenwirt von Ebersbach!« rief er, auf sein Gewehr gestützt, »wo hast du deinen Sohn?«

Dem Alten ging ein Schauer durch Mark und Bein.

»Sieh her«, fuhr die Erscheinung fort, auf ein junges Bäumchen deutend, das ohne Stütze überhing, und dann auf einen knorrig verkrüppelten Baum daneben: »Sieh, wenn ich den jungen Schößling in die Höhe ziehe und ihm eine Stütze gebe, so wächst er aufrecht und lustig fort, aber an dem alten Knorren, der in seiner Jugend versäumt worden ist, ist alle Kunst verloren. Du hast deinem Sohn gesagt, du wollest ihm die Äst abhauen, wenn er zu krattelig werde. An dem alten, verwachsenen Knorren kannst du sehen, wie weit du es gebracht hast. Du hast deinen Schößling üppig aufwachsen lassen, da ihm strenge Zucht nötig war, und zur Zeit des freien Wachstums hast du ihn zuschanden geschnitten. Dein Bub ist jetzt ein Mann geworden, ein Räuber und ein Mörder. – Laß dein Weib nicht für mich beten, wie sie einmal gesagt hat: ihr Gebet hat keine Kraft. Wenn du aber glaubst, alter Mann, daß du dir mit deinem Handel und Wandel eine Ansprache im Himmel eröffnet habest, dann bete du für mich. – Meine Zeit ist um, Vater, Ihr braucht keine Angst mehr vor mir zu haben, denn es riecht hier nach Blut. Der Abgrund hat sich aufgetan, und ich fühl's, wie ich zusehends tiefer und tiefer hineinsinke. Ich höre rufen: Komm! Und ich komme. Lebt wohl, Vater, mög Euch Gott verzeihen – ich verzeihe Euch!«

Die Knie zitterten dem alten Manne, und er mußte sich an dem Rande des Weges zu Boden setzen. Erst nach langer Zeit wagte er in die Höhe zu blicken. Die furchtbare Erscheinung war verschwunden. »Ist das mein Sohn gewesen oder –? Was er predigen kann! Hätt ich ihn denn vielleicht einen Pfarrer werden lassen sollen? Dummes Geschwätz! Wenn er ein Räuber und Mörder ist, wie er sagt, so ist er ein schlechter Prediger. Aber ich hab's ja immer gesagt: er ist im Kopf nicht recht.«

Mit diesen Worten hatte er sich wieder zurechtgefunden. Er erhob sich, schüttelte den Schrecken aus den Gliedern und schickte sich an, das Tälchen, in welchem er von demselben überfallen worden war, eilig zu verlassen, als er die Kuh bemerkte, die sich auf dem Eigentum eines Mitbürgers gütlich tat. Er jagte sie aus dem Grase heraus und trieb das unvernünftige Tier sorgfältig auf dem Wege vor sich her, während sein verlorener Sohn sich den Berg hinaufzog, um unwiderruflich einem Leben zu verfallen, das ihm selbst als die Hölle schien.


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