Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Aus Rücksicht auf den neuen Gast wurde die Unterhaltung, zu welcher man sich bisher der jenischen Mitsprache, untermengt mit modischen Brocken, bedient hatte, nun ganz deutsch geführt, wollte aber nicht recht in Gang kommen. Man bot Christinen, deren schlaffe Züge Müdigkeit und Hunger verrieten, von den Überbleibseln des Essens an; sie genoß einige Bissen, stieß aber bald die Speise zurück und klagte über Übelkeit. Der dienstfertige Mundschenk bot ihr die Flasche; sie trank gierig, fand aber den Wein zu stark, lehnte sich an ihren Mann und klagte, der Kopf schwindle ihr. Der Zigeuner suchte ihr eine bequeme Lagerstelle aus, breitete ein Tuch zur Unterlage für den Kopf auf den Boden und redete ihr zu, sich zur Ruhe zu legen. Sie betrachtete den Pfühl mit kaum verhehltem Widerwillen, entschloß sich aber doch, sich seiner zu bedienen, legte sich hin und war oder schien bald eingeschlafen.

»Du hast's also nicht zur Kopulation bringen können, Bruder?« fragte Bettelmelcher, als die Gesellschaft wieder vertraulich, wie nach einer überstandenen Störung, beisammensaß.

»Nein«, antwortete der Gast und erzählte die Geschichte seiner vergeblichen Bemühungen um den kirchlichen und hiermit zugleich bürgerlichen Segen für sein eheliches Band.

»Dafür weiß ich Rat«, sagte sein neuer Freund, »wenn's dir immer noch darum zu tun ist, so kann ich dir einen Pfarrer angeben, der dich um Geld und gute Worte ohne Anstand kopuliert. Er ist ein Schulkamerad von mir, du brauchst ihm nur einen Gruß von mir zu sagen.«

»Wo ist er?« rief der Gast voll Feuer und Flamme. Das Wort hatte bei ihm eingeschlagen wie ein Blitz, und über der Aussicht auf ein Ziel, dem er so lange umsonst nachgejagt, auf die Möglichkeit, dem ganzen Flecken Ebersbach nebst Pfarrer und Amtmann zum Trotz den Eid zu halten, wegen dessen er einst vom Kirchenkonvent gestraft worden war, und seine Heirat zu vollziehen, über dieser Aussicht vergaß er alle Reize, die ihn zum Eintritt in eine neue Welt lockten und die unscheinbar gewordene erste Liebe verdunkelten. »Wo ist der Pfarrer, Bruder?« fragte er wiederholt den Freund, der durch ein so nahes Verhältnis zu einem Manne von ehrwürdiger Stellung in seinen Augen nicht wenig gestiegen war.

»Wurst wider Wurst!« antwortete Bettelmelcher, den der Zigeuner still angesehen hatte, mit schlauem Lächeln. »Wenn du einmal der unsrige bist, so hab ich kein Geheimnis mehr vor dir.«

»Nein!« rief der Zigeuner mit dem Tone der Billigkeit, »man muß einem Menschen nicht Hände und Füße binden. Wir sind freie Leute, und wenn er zu uns treten will, so soll es sein eigener freier Wille sein. Du mußt deinen Preis annehmlicher stellen.«

»Wohlan also«, sagte Bettelmelcher nach einem verstohlenen Blick auf Christinen, die wirklich schlief, »wenn du uns zu der ersten größeren Unternehmung, die wir ausführen, deinen Kopf und deinen Arm versprichst, so kannst du über meine Zunge verfügen. Mehr verlang ich nicht.«

»Es gilt!« rief der Gast aufspringend, »hier ist mein Wort und meine Hand!«

Die drei anderen Männer sprangen ebenfalls auf die Beine, und einer nach dem andern empfing seine dargereichte Hand zu einem kräftigen Druck.

»Und ich«, rief der Zigeuner, »leiste hiermit Bürgschaft für ihn, daß er sein Wort halten wird. Wenn das geschehen ist«, wandte er sich zu ihm, »so bist du nicht weiter gebunden, und es steht ganz in deinem Belieben, ob du bei uns bleiben willst oder nicht. Auch sollst du dich zu keinem Unternehmen verpflichtet haben, das nicht nach deinem Sinn wäre.«

Sie setzten sich wieder, und zur Besiegelung des Gelübdes kreiste noch einmal die Flasche mit der Neige aus dem Fäßchen, das nun völlig auf dem Kopfe stand.

»Den Pfarrer, von dem ich dir gesagt habe«, vertraute nun Bettelmelcher dem Gaste, als er bemerkte, daß dieser ihn erwartungsvoll ansah, »den triffst du in Dinkeltheim bei Schwäbisch Hall.«

»Gut! Ich habe mit meinem Weib morgen einen Handel in Gmünd zu machen, und von da wollen wir gleich den Stab weiter setzen. Sowie ich zurückkomme, steh ich euch zu Diensten. Ob's ein Marktgang ist oder ein Unternehmen, wo man das Fell einsetzt und die Haar davonfliegen, gilt mir gleich. Nur eins beding ich mir aus: einem Unschuldigen will ich nichts zuleid tun, aber gebt mir eine Gelegenheit, daß ich dieser schnöden, falschen Welt mit ihrem Geiz und Hochmut, mit ihrer Unterdrückung und verlogenen Ehrbarkeit das Herz aus ihrem eigennützigen Leib herausreißen kann – und wenn's den Kopf kostet, ihr sollt mich kennenlernen.«

»Bravo, Bruder Schwan!« rief der Zigeuner. »So denken wir auch!«

»Die Gelegenheit sollst du haben!« rief der Bettelmelcher. »Meinst du, du seiest allein unterdrückt? Ich könnte jetzt so gut Pfarrer sein wie der Pfaff, der dir die Kopulation abgeschlagen hat, ich hatte schon ein wenig zu studieren angefangen, da hat mich ein betrügerischer Vormund um all mein Hab und Gut gebracht.«

»Ich hab auch noch mit einem solchen abzurechnen!« rief das halbgewordene Mitglied der Bande.

»Was sind Bedrückungen des einzelnen gegen die Verfolgungen, die mein ganzer Stamm erfahren hat!« hob die alte Zigeunerin an. »Vor ein paar hundert Jahren sind unsere Vorfahren aus fernen Landen weit im Osten durch Krieg und Not in dieses Land gekommen, wo eine blässere Sonne scheint. Sie haben sich friedlich in den Wäldern aufgehalten, haben von den Leuten geheischen, was sie zu ihrer Notdurft brauchten, und haben in guter Freundschaft mit ihnen gelebt. Dann haben böse Menschen Mißtrauen und Hader gesät, und seit mehr als hundert Jahren wird unser Stamm verfolgt, so daß keins von uns sein Haupt ruhig auf den Boden legen kann. Jedes friedliche Fortkommen ist uns abgeschnitten, als ob wir nicht auch Christen und Kinder Gottes wären, die gelebt haben müssen, und wir mögen unsere Nahrung suchen, wie wir wollen, so sind wir dafür von Mutterleib an zum Tod verurteilt. Drei Männer hab ich nacheinander gehabt, keinen lang: alle drei sind am Galgen gestorben. Zwei Schwestern und ein Bruder sind den gleichen Todesweg gegangen; die dritte Schwester hat sich zu Karlsruhe im Gefängnis erhängt, denn Freiheit ist unsere Lebensluft. Von zwei Männern meiner Schwestern ist einer durch das Schwert, einer durch den Strang gestorben. Ein Sohn, zwei Schwiegersöhne, eine Schwieger- und eine Schwestertochter sind gehenkt, zehn Männer, mit mir verschwägert oder verwandt, desgleichen gehenkt, geköpft, gerädert, auf hundertundein Jahr auf die Galeere angeschmiedet. Einen Mann, einen Bruder, einen Sohn und einen Tochtermann hab ich mit eigener Hand vom Galgen geholt und unter heißen Tränen und Gebeten begraben. Bei den andern hat's nicht sein mögen. Und nun betrachtet mein Los und wagt noch über euer eigenes zu klagen.«

Mit niedergebeugtem Kopf und gramdurchfurchtem Antlitz saß sie da, die Hekuba eines geächteten Stammes. Der Gast konnte kein Auge von ihr wenden, wie sie die Blicke vor sich in den Boden bohrte. Weit entfernt, in ihren Erlebnissen ein abschreckendes Beispiel zu sehen, fühlte er eine tiefe Teilnahme für sie und die verwaisten Mädchen, die schon so früh den versengenden Frost des Lebens kennengelernt.

»Laßt mich reden!« begann jetzt Schwamenjackel, seine Worte mit heiserer Stimme kurz hervorstoßend. »Mein Vater, der mich erzogen und geboren hat –«

Ungeachtet des furchtbaren Ernstes, den die Unterredung angenommen, kämpfte ein unterdrücktes Lachen in der Brust der Mädchen, die das Gesicht abwandten, und die Männer bissen sich auf die Lippen, um ihren Gefährten nicht durch einen unzeitigen Ausbruch zu stören.

»Mein Vater«, fuhr Schwamenjackel fort, »ist zu Alpirsbach auf dem Schwarzwald gerädert worden, und ich hab als ein zwölfjähriger Bube hart dabei zusehen müssen und bin nachher ins Zuchthaus gesteckt worden. In meinem ganzen Leben vergeß ich's nicht und will's auch nie vergessen. Ich übe mein Gedächtnis mit Fleiß, daß es mir die Stöße des schweren, mit Blei ausgefüllten Rades und das Krachen der Glieder immer wieder als gegenwärtig vorstellen muß; erst den rechten Fuß und den linken Vorderarm, dann den linken Fuß und den rechten Vorderarm, dann den rechten Schenkel und den linken Oberarm, dann den linken Schenkel und den rechten Oberarm, und endlich, wenn sie's leidlich machen, den Gnadenstoß auf die Brust. Meinem Vater ist's aber nicht so gut geworden: lebendig haben sie ihn aufs Rad geflochten, stundenlang ächzen und stöhnen lassen in der greulichen Marter, bis sie ihm endlich den Kopf abgeschnitten und auf den Pfahl gesteckt haben. Und dabei haben die Pfaffen immerfort in ihn hineingeschrien und ihm ihre Kreuze unter die Nase gestoßen. Das halt ich mir tagtäglich vor, damit mich kein dummes Mitleid übermannt –«

Ein entsetzlicher Schrei unterbrach ihn. Alle sprangen auf und sahen sich um. Es war Christine, die unruhig geschlafen und, von der rauhen Stimme Schwamenjackels erweckt, seine Worte noch halb gehört hatte. »Mein Herz!« rief sie, ihre Hände auf der Brust zusammendrückend, »mein Herz! Das ist ja zu gräßlich! Es bringt mich um.«

»Sei ruhig, Christine!« rief Friedrich, der selbst etwas bleich geworden war, und eilte zu ihr. Sie sah ihn wild an und erholte sich erst allmählich. »Es ist ja nur von vergangenen Dingen die Rede«, sprach er ihr zu. »Sieh, ich bin bei dir, und meine Freunde haben mit einen Pfarrer genannt, der uns trauen will. Sei munter, jetzt geht's endlich zur Hochzeit!«

»Hochzeit?« sagte sie, »ich hab gemeint, es sei – von etwas anderem die Rede. Hab ich denn so schrecklich geträumt?«

Er wiederholte ihr, daß er gleich am nächsten Tage mit ihr zur Trauung wandern werde. Ihr Angesicht belebte und erheiterte sich nach und nach. »Ist's denn wirklich wahr?« fragte sie, »soll ich endlich einmal mit dir vor den Altar kommen?«

»Sieben Jahre – so lang wird's jetzt sein, daß wir das erstemal miteinander vor Kirchenkonvent gewesen sind – sieben Jahre hab ich mir's um dich sauer werden lassen müssen, wie der Erzvater Jakob um die Rahel, und jetzt ist's endlich gewonnen.«

»Gelt, und darüber bin ich zur Lea worden?« sagte sie, einen scheuen Blick um sich werfend. Sie starrte die Gesellschaft an, wie wenn sie sie noch nie gesehen hätte, und drängte ängstlich fort. Er erklärte sich bereit, mit ihr zu gehen.

»Wir wollen jetzt auch zur Ruhe«, versetzte die Alte.

»Der Hitzling ist hinab«, sagte ihr Sohn, gen Himmel deutend, »die Glanzer sind aufgegangen.«

»Und der Jaim ist geschwächt«, setzte Bettelmelcher hinzu, indem er das Fäßchen mit einem Fußtritt auf den Boden schleuderte.

Beim Abschied wurde der Gast in jenischer Sprache aufgefordert, sich bald wieder auf dieser Stelle einzufinden, wo er die Gesellschaft noch eine Zeitlang gelagert finden werde. Er gab sein Wort. Der Zigeuner bot ihm Kleider an, da ihre Garderobe reich versehen sei und er den kleinen Vorschuß bei Gelegenheit wieder erstatten könne. Er nahm das Anerbieten an und wurde alsbald mit einer vollständigen Kleidung versehen, die ihm für die Hochzeitsreise sehr zustatten kam. Christinen wurde nichts angeboten, und er scheute sich, etwas für sie anzusprechen. Bettelmelcher gab ihm noch genauere Anweisung über den Pfarrer, der ihn trauen sollte; er nannte ihm seinen Namen und beschrieb ihm seine Wohnung so genau, daß er nicht fehlen konnte.

Als das Paar sich miteinander entfernt hatte, blickte sich die Bande eine Zeitlang stillschweigend an; dann sagte der scheele Christianus: »Er ist reif, und dir, Frau Schwester, gratulier ich zu der Eroberung. Laß du ihn zur Hochzeit und Kopulation gehen, er hält's bei dem Bauernmensch keine acht Tage mehr aus.«

»Woher weißt du denn, daß ich ihn will?« fragte seine jüngere Schwester.

Er lachte.

»Was er für einen großen Kopf hat!« sagte sie.

»Das Bild der Tatkraft!« rief er. »Verstelle dich nur nicht, ich hab in deine Augen gesehen und auch in die seinigen. Du mußt das Band werden, das ihn an uns fesselt.«

»Ich bin ihm nicht feind«, versetzte der Schwamenjackel, »und doch ist in seinem Gesicht etwas, das mir nicht ganz gefällt. Habt ihr's nicht gesehen, wie er über die Beschreibung des Räderns erblaßt ist?«

»Ich kenne ihn«, erklärte der Zigeuner mit entschiedenem Tone. »Er steht am Graben und besinnt sich. Wenn er nicht mehr rückwärts kann, so springt er und fragt nicht, wie breit oder wie tief. Aber aus den Augen dürfen wir ihn nicht mehr lassen. An seinem Mut ist nicht zu zweifeln, er hat Mut wie der Teufel; aber auch der Mut will geübt sein.«

Während sie so miteinander redeten, führte der Gegenstand ihrer Gespräche Christinen nach dem Hof, wo er ihr einen Aufenthalt verschafft hatte. Er wußte sie unterwegs notdürftig über die Gesellschaft, in der sie ihn getroffen, zu beruhigen, was ihm diesmal leichter gelang, weil die Aussicht, endlich sein rechtmäßiges Weib zu werden, in ihr alles andere überwog.


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