Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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»Ei«, sagte er lustig, »heut hätt ich eigentlich einen schwarzen Strich in den Kalender machen sollen, jetzt mach ich aber einen roten dafür. – Was ist denn das, Beckin?« rief er der eintretenden Frau entgegen. »Habt Ihr Euch eine Kellnerin aus dem himmlischen Reich verschrieben?«

»Das ist keine Kellnerin«, entgegnete sie, »es ist mein Patchen, das mir ein bißle im Haushalt und in der Wirtschaft aushilft.«

»Wie heißt denn du, Herzkäferle?« fragte er.

»Christine«, antwortete das Mädchen mit schüchternem Lächeln und trat einige Schritte von ihm weg, indem sie zugleich jenen hingebenden Blick auf ihn fallen ließ, der ihm schon einmal durch die Seele gedrungen war.

»Bist du von hier?«

»Ja wäger ist sie von hier«, sagte die Bäckerin, »sie ist ja des Hirschbauern Tochter.«

»Daß dich der Strahl!« rief er. »Ich hätt geglaubt, ich sollt Kind und Kegel im Flecken hier kennen. Ja, dort hinaus bin ich freilich in Jahr und Tag nicht gekommen.«

»Arme Leut sind unwert«, versetzte die Bäckerin, »denen läuft niemand nach.«

»O Beckin, redet nicht so! Ihr wißt wohl, daß es mir anders ums Herz ist. Aber«, wandte er sich zum Mädchen, »wo steckst denn du, du Zuckerstengele, daß ich dich noch kein einzig's Mal ins Aug gefaßt hab!? Man sollt dich ja wahrhaftig für eine Fremde halten.«

»Sie ist nie viel unter die Leut kommen«, antwortete ihre Patin für sie. »Sie ist von Kind auf immer so ein Dürftele gewesen.«

»Es ist heut nicht das erst Mal«, sagte Christine leise und freundlich.

»Ja, gelt?« erwiderte er lebhaft, »neulich sind wir einander auch begegnet?«

»Das ist wiederum nicht das erst Mal gewesen.«

»Ja, das Mädle hat Euch noch einen Dank abzustatten von lang her, für etwas, da Euer Herz nicht mehr dran denkt. Geh, erzähl's ihm, Christinele.«

»Ich nicht!« rief das Mädchen und zog sich kichernd hinter den Ofen zurück. »Erzählet Ihr's, Patin!«

»Muß ich das Maul für dich auftun, du Dichele?« sagte diese. »Nun, also! Ich will anfangen, wie man ein Märlein anfängt. Es ist einmal ein klein's Mädle gewesen, hat Bäcklein gehabt wie Milch und Blut, das Spruchbuch hat's unterm Arm getragen, und ein großer Apfel, so rotbackig wie es selber, der hat ihm aus dem Schürzentäschle herausgeguckt. So ein Apfel unter der Schulzeit – Ihr werdet's wohl noch wissen – das ist für ein Schulkind soviel oder noch mehr als für einen jungen Burschen ein Schoppen Wein im Beckenhaus. Kommt so ein barfüßiger Flegel daher, ein paar Jahr älter als das Kind, und sagt: ›Gleich gibst mir den Apfel, oder ich schlag dir ein paar Zähn in Hals!‹ Mein Christinele schreit und rennt, was gilt's was hast! Aber der Bub hintendrein und faßt sie am Fittich und schüttelt sie und will ihr den Apfel nehmen. Da kommt aber einer über ihn, und wer anders als der Sonnenwirtle, der Frieder, der nie kein Unrecht mit müßiger Faust hat ansehen können. Der faßt den groben Zolgen und schüttelt ihn ebenmäßig und steckt ihm ein paar, aber nicht wie's die Buben austeilen, sondern wie's die Buben von einem Mann kriegen, wenn ein Markstein gesetzt wird.«

»Gott's Blitz!« rief er fröhlich lachend, »Jetzt geht mir ein Licht auf. Das ist ja der Fischerhanne gewesen, ja, ja, den hab ich einmal durchgeliedert, weil er ein Kind mißhandelt hat, wie ein Räuber und Buschklepper.«

»Ja, und dann habt Ihr dem Kind noch ein Brot dazugegeben. ›Da, nimm‹, habt Ihr gesagt, ›damit dir der Apfel kein' öden Magen macht.‹«

»Kann sein«, sagte er, »das weiß ich nicht mehr, jedenfalls ist's gern geschehen. Was, und das Kind bist du gewesen, du Engele, du goldig's?«

»Freilich«, erwiderte die Bäckerin. »Aus Kindern werden Leute und so weiter, Ihr wißt ja, wie das Sprichwort sagt. Aber die Guttat, die hat Euch mein Christinele in einem feinen Herzen nachgetragen, beides, das Brot und daß Ihr meinen Apfel verteidigt habt – denn von mir ist er gewesen.«

Friedrich hatte nicht mehr ganz ausgehört. »Ist's wahr«, rief er, indem er das Mädchen, das sich sträubte und anmutig lachte, hinter dem Ofen hervorzog, »ist's wahr, daß du mich noch kennst und hast selbiges Stück im Herzen gehalten?«

»Ja, es ist wahr«, antwortete sie, »und ich hätt gern –«

»Was hätt'st gern? Wieder ein Stück Brot?«

Sie lachte überlaut. »Heimgegeben hätt ich's gern.«

»So, du möchtest mir die Laib' heimgehen?« Er schlang den Arm um ihre Hüfte und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, daß jetzt die beste Gelegenheit zu einer ihm anständigen Belohnung wäre. Die Bäckerin hatte den Kopf gewendet, der Mann schlief auf der Ofenbank. Er drückte sie an sich und suchte mit dem Mund ihre Lippen. Sie wich ihm lächelnd aus, ohne die vielverheißenden Augen von ihm abzuwenden, und wie er sie am Kinn fassen wollte, um das unbotmäßige Köpfchen in festen Verwahrsam zu nehmen, kam sie ihm plötzlich mit den Lippen zuvor. Sein Wunsch war in Freiheit gewährt, ehe er zu Zwangsmitteln schreiten konnte; ein Kuß, nicht lang, nicht voll, nicht feurig, aber blitzartig treffend war ihm an den Mund geflogen und fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihre Lippen hafteten nur einen Augenblick; im selben Augenblick war sie ihm unter dem Arm durchgeschlüpft und huschte in die Küche hinaus.

Mit diesem Kusse war der Würfel über Friedrich Schwans künftiges Schicksal geworfen.

In der ersten Aufwallung seiner Leidenschaft wollte er dem Mädchen nacheilen, aber eine andere Regung hielt ihn zurück. Er glaubte in dem hellen, freundlichen Gesichte, obgleich es fast noch unmündig aussah, einen Zug zu erkennen, der keine Zudringlichkeit aufkommen ließ, und besorgte, daß er die gute Meinung, die das Mädchen seit den Kinderjahren in ihrem dankbaren Herzen von ihm behalten hatte, leicht verscherzen könnte. Diese Betrachtungen hüllten sich jedoch in das Gewand des Stolzes. »Was, soll ich den Küchenmichel machen?« sagte er zu sich und setzte sich trotzig wieder an den Tisch.

Die Stube füllte sich allmählich mit Gästen. Was auf dem Dorfe Wirtshausbesucher sind, die bilden so ziemlich denselben unveränderten Kreis und wechseln nur den Ort. Heute findet man sie in der »Sonne«, morgen geben sie dem »Dreikönig« etwas »zu lösen«, übermorgen sind sie beim »Becken«, über-übermorgen in der »Krone«, donnerstags gehen sie zum »wütigen Esel«, freitags kriechen sie zum »Kreuz«, und am Sonnabend tut ihnen die Wahl weh zwischen dem Dutzend von Wirtshäusern, die noch übrig sind.

Friedrich nahm sich den Abend zusammen, um seinen Herzenszustand nicht zu verraten. Er verriet ihn aber jeden Augenblick. Er trank ein Glas um das andere, um Christinens Gegenwart zu genießen und etwa ihre Hand beim Darreichen zu berühren. Hierzu mußte er jedesmal den Augenblick wählen, wo sie gerade im Zimmer anwesend war, und dies nötigte ihn, oft einen starken Rest mit einem einzigen Zuge zu leeren. Die andern hatten sein Treiben schnell durchschaut und gaben ihr mutwilliges Ergötzen bald durch einen Augenwink, bald durch ein schiefgezogenes Maul zu erkennen. Die Gläser, die er aus Christinens Hand empfing, stiegen ihm nach und nach in den Kopf. Er sang, lachte, schwatzte viel und ließ seine gute Laune an einem und dem andern der Anwesenden aus. Wer weiß, welch törichtes Zeug er noch angerichtet haben würde, wenn nicht Christine den klugen Einfall gehabt hätte, die Magnetnadel nach dem entgegengesetzten Pol zu drehen. Sie wischte auf einmal mit einem Gut Nacht, das wenigstens deutlich auf sein Ohr berechnet war, zur Tür hinaus. Allen Neckereien und Herausforderungen der andern zum Trotz machte er sich so schnell als möglich los; er hoffte, sie noch unterwegs einzuholen.

Doch ohne die Ersehnte zu treffen, lenkte er seine Schritte dorthin, wo am Ende des Fleckens das Häuschen ihres Vaters lag. Er umging es forschend; aber kein Licht war zu sehen, kein Laut war vernehmbar: weder ein Tritt in einer Kammer noch das Krachen einer Treppenstufe. »Du leichtfüßig's Vögele, du«, sagte er, »bist schon ins Bett geschlupft und schlafst. Gute Nacht, Christinele; gut Nacht, Schatz! Mein mußt du werden, und wenn ich die Stern vom Himmel reißen müßt.«


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