Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Dreißigstes Kapitel

In der ersten Frühe weckte Friedrich Christinen und las ihr das Heu aus den Kleidern und aus den Haaren, wohin es da und dort unter dem Kopftuche eingedrungen war. Nachdem er mit ihrer Hilfe sein Äußeres gleichfalls etwas in Ordnung gebracht hatte, ermunterte er sie zum Fortgehen, ehe die Hausbewohner erwachten; denn, sagte er, wenn man den Leuten nachts in die Scheuer einbricht, und wär's auch nur, um ein wenig Nachtruh zu erbeuten, so hat man gleich den Kredit bei ihnen eingebüßt. Sie verließen den kleinen Weiler, der aus einigen ärmlichen Häuschen bestand, und schlugen einen schmalen Waldsteig ein. Der taufeuchte, frische Herbstmorgen machte Christinen vor Kälte zittern. Friedrich suchte einen freien Platz im Walde und hatte bald aus Reisern und dürrem Holze, das er hin und wieder abbrach, ein behagliches Feuer angemacht, neben welchem er das Weib seines Herzens auf seine Knie zog und so ihr ein bequemes Lager bereitete. »Das Frühstück«, sagte er, »müssen wir uns freilich hinzudenken; ich hab vor lauter Eifer und Heimweh nach dir vergessen, für Mundvorrat zu sorgen.« Sie versicherte, sie sei nicht hungrig, und auch er meinte, er habe sich in Sachsenhausen hinlänglich herausgegessen, um jetzt ein wenig fasten zu können.

»Laß dich einmal besehen«, sagte sie, aufschauend und munter werdend. »Siehst ja ganz proper aus, man sollt dich für 'n zünftigen Meister in irgendeinem Handwerk halten, das sein goldenen Boden hat. Mußt die schönen Kleider schonen und nicht in Scheuern übernachten.«

»Das kommt anders«, versetzte er, »wenn wir einmal zum Land draußen sind.«

»Und recht mannhaft bist worden«, fuhr sie fort. »Hast ein gut's Gestell, so postiert und voll und dabei doch nicht zu breit. Dem Gesicht freilich sieht man an, daß manches drüber hin gangen ist, wie ein schwerer Pflug. Man sollt dich für viel älter halten, als du bist. Wenn ich nicht wüßt, daß du kaum über siebenundzwanzig sein kannst, ich tät dich mindestens auf sechsunddreißig schätzen. Schad ist's, daß du oft auf einmal ein bißle wild und bös aussehen kannst, so daß man sich schier fürchten könnt. Aber ich darf freilich gar nichts sagen. Sieh mich an, was ich alt worden bin. Ach, ich muß oft denken, du könntest an meinen Runzeln keinen großen Gefallen mehr haben.«

Er hatte sie bereits betrachtet und in der Stille die Veränderungen wahrgenommen, die Zeit und Schicksal an ihr hervorgebracht hatten. Nicht eben Runzeln, aber hart eingegrabene Furchen zogen sich unter dem nicht mehr so weichen und hellgelben Scheitel quer über die Stirne, und eine senkte sich wie ein tiefer Einschnitt zwischen den Augen hinab. Doch lag in diesen Spuren nicht die eigentliche Verwüstung, die in dem einst so freundlichen Gesichte vorgegangen war. Auch sah es an sich selbst nicht auffallend gealtert aus, und in den treugebliebenen Zügen hatte keine häßliche Entstellung, wie sie oft mit den Jahren kommt, ihren Wohnsitz aufgeschlagen; aber die jugendliche Frische, die lieblich malende Zuversicht und Lebenslust war aus ihnen verschwunden und hatte sie verwandelt hinterlassen, wie das Morgenlicht, wenn es von einer Landschaft Abschied nimmt, dieselbe Gegend zwar in unveränderter Gestalt, aber arm, nüchtern und verkümmert hinterläßt.

»Du bist die Mutter meiner Kinder«, sagte er, »kannst nicht ewig jung bleiben. Diese Furchen sind mein Werk, denn du hast viel um mich leiden müssen; aber du siehst nicht so alt aus, wie du meinst, und wenn du einmal eine glückliche Hausmutter bist, so wirst du wieder jünger werden.«

»Gott geb's«, erwiderte sie, »denn so, wie ich jetzt bin, bin ich doch zu alt für dich. – Ach, wenn ich dran denk, wie der Friederle auf die Welt kommen ist, 's sind jetzt bald sechs Jahr, wie bin ich damals in einem Umsehen so elend und wieder so reich gewesen! Wie ich gemerkt hab, daß mein Stündle kommen will, hab ich meinem Jammer kein End gewußt, bin allein auf der Bühne gelegen, mein Mutter hat gesagt, sie könn vom kranken Vater nicht weg, und mein Jerg hat sich verdingt gehabt nach Faurndau zum Dreschen. Über einmal hör ich auf'm Stiegle 'n Mannstritt, so gibt's bloß ein auf der Welt, und wer kommt mir vors Bett und nimmt mich in Arm, während ich ihn im Zuchthaus gemeint hab? Und wie du mir die Hebamm hast geholt und die eine Kraftbrüh für mich verlangt hat, weil's hart gehen werd und ich so von Kräften sei, weißt noch? Da hat mein arm's Lämmle dran glauben müssen, mit dem unsere Bekanntschaft angefangen hat. Ich hab nicht einmal um das Tierle weinen können, und du hast recht prophezeit gehabt, es werd eine Zeit kommen, wo mir etwas anders mehr am Herzen lieg. Und hart ist's auch gangen, ich will's nicht vergessen, aber wie's geheißen hat: ›Vater, hier ist dein Sohn‹! ach Frieder, was ist das eine Seligkeit gewesen! Und nachher ist die Kathrine kommen und hat gesagt, sie sei jetzt mit einem wackeren Mann versprochen und mach sich nichts mehr aus der Amtmännin ihrem Zorn, und hat mich treulich gepflegt.«

»Ja«, sagte er, »darum hab ich auch ruhig wieder in mein Ludwigsburger Heimwesen zurückkehren können. Aber heut noch reut's mich, daß ich mich in Göppingen gestellt hab! Berichtet der Vogt nach Ludwigsburg, er habe den mittels Ausbruchs echappierten Gefangenen wiederum gefänglich zur Hand gebracht und schicke ihn hier wieder ein. Ausgebrochen war ich allerdings, das ist wahr, denn man hat mir keine Brücke gebaut; aber daß ich mich freiwillig bei ihm gestellt hab, davon hat er kein Wort geschrieben, sondern hat die Ehr allein haben wollen. So ein Vogt! Was bild't sich der ein! Deswegen hab ich mich nach meinem zweiten Ausflug nicht mehr bei ihm, sondern unmittelbar in Ludwigsburg beim Kammerrat selbst gestellt. Der ist zwar raubauzig, wie man's von einem Zuchthausverwalter nicht anders erwarten kann, aber er hat doch gelacht und hat mir nun auch für meine frühere Versicherung Glauben geschenkt, so daß mir weiter nichts geschehen ist, als daß ich eben die paar Tag länger hab sitzen müssen.«

»Dein zweiter Besuch«, versetzte sie, »ach, der ist traurig gewesen.«

»Ja«, sagte er, »schon wie ich das Tal heraufkommen bin, bei Reichenbach, ich weiß nicht, ob du's einmal bemerkt hast, da ist in den Anhöhen eine Lücke, durch die der Staufen hereinschaut, und der hat damals so grau und trüb ausgesehen, daß ich gedenkt hab: ›Alter, bist auch traurig und hast mir eine Trauermär zu verkünden?‹ Wie ich aber nach Ebersbach kommen bin, hab ich deinen Vater wenigstens noch am Leben gefunden, und das wird mir wohl tun, so lang ich leb. Christine! Respekt vor dem Mann! Der ist gestorben wie ein Patriarch! Er ist sein Leben lang in Armut und Demut und im Staub dahergegangen und hat selber nicht gewußt, was in ihm steckt, aber in der Todesstunde ist ihm der Geist mächtig auf die Zunge getreten.«

»Weißt noch, wie er uns gesegnet hat«, rief sie, »und dich absonderlich, weil dein Will vor Gott gut sei und dein Herz aufrichtig, und wie er dir alles vergeben hat, was ihm Leid's durch dich geschehen ist?«

Eine übermächtige Rührung überkam das so vieler Verwilderung preisgegebene Gemüt des Mannes, der sich nicht gescheut hatte, heilig gehaltene Geräte des Gottes, zu dem er betete, anzutasten. Er ließ sein Weib zur Erde gleiten, erhob sich in die Knie und rief, die Arme gegen den blauer werdenden Morgenhimmel ausgebreitet, unter strömenden Tränen: »Himmlischer Vater, gib uns deinen Segen um jenes Gerechten willen! Du bist ja mit den unvernünftigen Geschöpfen, die unter deiner Sonne wimmeln, und gibst ihnen Nahrung und Kleidung auf ihre Zeit. Trag und erhalt auch uns, die wir deine Kinder sind, und gib uns unser Brot, uns und unsern armen Kleinen. Führ uns aus diesem Land, wo Vater und Mutter hart sind, in ein milderes, das du uns verheißen mögest, laß uns vor dir wandeln und behüte uns, daß wir nicht mehr in Anfechtung fallen.«

Christine kniete neben ihm und schluchzte laut. Nachdem er geendet hatte, blieben beide noch lange auf den Knien liegen. Das Feuer sank allmählich in Kohlen und Asche zusammen, und durch die Gipfel der Bäume lächelte das Gestirn des Tages, das Wärme und Leben bringend über den Bergen aufgegangen war.

»Jetzt komm, Christine, wollen aufbrechen, die Sonne ist herauf, und die Kälte läßt nach«, sagte Friedrich, ihr Bündel ergreifend. Sie zogen schweigend und voll Gedanken durch die Wälder hin, die vom Fuße der Alb zwischen dem Neckar- und Filstal in das Land hineinlaufen. Hie und da führte der Pfad an einem einsamen Hof vorüber, schlängelte sich aber gleich wieder dem Walde zu. In einem dieser abgelegenen Höfe wagten sie sich mit gestandener Milch und etwas Schwarzbrot zu erquicken, hielten sich aber, da sie von den Leuten mißtrauisch angesehen wurden, nicht lange auf. Als sie wieder auf der Wanderschaft waren, sagte er endlich: »Jetzt ist das Erzählen an dir, Christine.«

»Das ist kurz beieinander«, versetzte sie, »mir ist nicht so viel vorkommen wie dir. Nach deiner Gefangennehmung, wo du nach Hohentwiel kommen bist, hat man mich auch ein wenig eintürmt.«

»Aber nichts auf dich bringen können, das weiß ich schon von deiner Mutter.«

»Nachher ist's eben wieder das alt Lied gewesen. Sie haben mich vor Kirchenkonvent zitiert und haben mich gefragt, wer der Vater zu dem Kind sei, mit dem ich geh.«

»Dann hast du gesagt, dein Mann?«

»Durch solche Reden hätt ich sie nur noch mehr wider mich in Harnisch bracht, und 's ist mir so schon schlecht g'nug gangen. Mein Jerg, das muß ich ihm nachsagen, hat wie ein Vater an mir gehandelt; er hat immer gegen mein Mutter gesagt, wenn du da wärst, so wär's dein Sach, für mich zu sorgen, aber wenn einer lebendig begraben sei, so könn man ihm nichts mehr zumuten. Das Wasser ist ihm aber selber oft bis an Hals gangen, und dann ist er oft fort gewesen, um sein Brot auswärts zu suchen. Ich hab vor Kirchenkonvent kaum stehen können, so schwach ist mir's gewesen. Der Schütz hat mich nachher mitgenommen, und er und sein Weib haben mir ein bißle zu essen geben; ich hab's auch angenommen, denn ich hab vielmals denkt, ich werd das Kind nicht lebendig zur Welt bringen.«

»Er ist ein versoffener Lump«, sagte Friedrich, »aber er ist doch besser als mancher, der in der Tugend und in der Wolle sitzt. Wie's dem Armen zumut ist, das begreift doch nur wieder der Arme, aber eben darum können sie einander nicht viel helfen. Ich glaub, der Schlucker hat ein paar unerzogene Kinder.«

»Viere!« sagte Christine. »Er hat aber gesagt, du habest ihm hie und da einen Schoppen eingeschenkt, und das werd er dir gedenken. Die Herren haben mir nichts geben als böse Wort. Sie haben mir bedeutet, ich dürf mich nicht aus dem Flecken entfernen, weil die Sach ans löbliche Oberamt berichtet werden müss, von wegen deines bösen Lebens. Dort sind sie auch bald mit mir fertig gewesen. Ich hab mein Kind vor dürfen zur Welt bringen und ein paar Wochen pflegen, und dann hab ich eben ins Zuchthaus wandern müssen.«

»Auf zwei Jahr!«

»Nein, denk nur, auf unbestimmte Zeit, bis die Aufseherin mir das Zeugnis geben hat, ich sei jetzt so, daß man mich entlassen könn, und das ist bloß daher kommen, daß ich gehört hab, du seiest von Hohentwiel ausgeflogen, denn unartig bin ich zwar nie gegen sie gewesen, aber immer still, bis die Freud über mich reinbrochen ist, und dann hab ich ihr alles getan, was ich ihr an den Augen abgesehen hab, und zuletzt ist sie für mich gut gestanden, daß man mich hat springen lassen, weil ich ganz bessert sei.«


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