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Das Haus in der Hölle

»Ich habe keine Bleibe.«

»Das laß meine Sache sein.«

Das Mädchen hüllte sich in ihren Schal.

Ich folgte ihr.

Wir gingen durch mehrere Straßen kreuz und quer.

NO stand an irgendeinem Straßenschild.

Wir bogen in einen dunklen Hausgang.

Die Haustür stand offen. Die Hoftür.

Wir überquerten drei Höfe.

Im dritten Hinterhause stolperten wir in ein Kellerloch hinab. Das Mädchen klinkte die unverschlossene Tür auf. Dann nahm sie mich bei der Hand.

»Vorsicht! Daß du keinen weckst! Sie liegen hier überall wie Leichen am Boden. Du mußt deine Füße wie ein Tänzer setzen.«

Ein atemberaubender Gestank füllte die Höhle.

Wir durchschritten zwei Räume.

Im dritten machte das Mädchen halt.

»Hier ist meine Schlafstelle.«

Sie begann sich zu entkleiden.

Ich tat desgleichen.

Schon fühlte ich ihre kleinen Mädchenbrüste in meinen Händen.

Und dumpf sanken wir in einer Ecke auf die Streu. –

Längst mußte es Morgen sein, aber im Raum schwebte noch immer eine kaum durchdringliche Dämmerung.

Oben floß durch schmale Ritzen schmutziges Licht.

Da mußte eine Art Fenster sein. Schließlich unterschied ich, daß das sogenannte Fenster mit Packpapier vernagelt war – wahrscheinlich, damit niemand vom Hof hereinsehen konnte.

Ich blieb acht Tage bei dem Mädchen.

In den beiden Vorderräumen wimmelte es von Kindern und Ratten. In einer Ecke lag ein durch Bleiweißvergiftung erblindeter älterer Mann. Auf seinem Bauche saß ein einjähriges Kind und spielte mit seinem roten Bart. Eine syphilitische Dirne verweste in einer anderen Ecke. Sie hatte ein Spiel Karten vor sich ausgebreitet. Sie spielte mit dem Coeurbuben und Coeurkönig und sagte »Süßer!« zu ihnen; als sie mich bemerkte, sagte sie mir aus den Karten wahr:

»Eine Verlobung steht ins Haus. Ein Brief trifft ein. Hüten Sie sich vor einer schwarzhaarigen Person. Eine weite Reise ist in Aussicht.«

Die Kinder kamen nie ans Licht, nie ans Freie. Sie hatten keine Hemden, keine Hosen, keine Kleider. Nur Fetzen hingen von ihnen herunter. Sie waren noch nie über den dritten Hof hinausgelangt, und ich mußte ihnen Märchen erzählen, die begannen:

»Es war einmal ein Kind, das hatte ein schneeweißes schönes Hemd und jeden Tag Brot, sich satt zu essen ...«

»Es war einmal ein Stern, der verbreitete Licht und milde Wärme über die Erde, und alle Menschen, die in seinem Strahl gingen, glänzten in Gold und Silber, und dieser Stern hieß Sonne ...«

»Es war einmal ein Wald, das ist ein unübersehbares Heer von Bäumen, wie draußen im ersten Hof einer steht, aber Tausend aber Tausende nebeneinander ...«

»Es war einmal ein Vogel, der war wie ein Sperling anzusehen, grau und unansehnlich, aber er kreischte nicht wie eine verrostete Türangel, sondern er sang wie ein Engel im Himmel selber. Dieser Vogel wird Nachtigall geheißen ...«

Die Kinder sperrten die entzündeten Augen auf und zogen die verschorften Lippen breit.

Und der Älteste sprach:

»Was du erzählst, das ist ja alles nicht wahr. Aber es sind schöne Märchen. Erzähle weiter ...«

Wenn ich im Dunkel auf der Streu lag und die Läuse und Wanzen krochen auf mir herum, hin und wieder sprang mir auch eine Ratte übers Bein, da dachte ich dem Schicksal dieser Kinder nach.

Und ich begriff nicht, daß ihre Eltern sie nicht sammelten in fürchterlicher Parade zu Tausenden in ihrer Blöße, und mit ihnen stumm und wild durch die Straßen der Reichen zogen: ihnen voran, das Holzkreuz auf dem Rücken, Christian, der schöne Jüngling und Sohn der Maria, die in dem dritten Erdloch ihre Schlafkammer hatte: Christian, der sich für Gottes Sohn hielt, und doch nur der blödsinnige Sohn eines Mörders und einer Hure war. Er hatte noch den besten Beruf für sich erwählt, denn kein anderer Beruf stand den Kindern des höllischen Hauses sonst offen als der eines Diebes, eines Zuhälters, eines Hehlers, Räubers und Mörders.


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