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Der wunderliche Wald

Den ganzen Weg hielt Hyazinthe meine Hand.

Das Sanitätsauto hatte Milchglasscheiben, so daß man nicht sehen konnte, wohin es fuhr. Auch roch es nach Kreosot, Lysoform und Karbol, daß mir zuweilen übel wurde.

Mir schien es, als ob das Auto sich gar nicht von der Stelle bewege, als ob es immer auf einem Fleck ratterte.

Aber nach einer halben Stunde hatte ich das Gefühl, als ginge es durch eine Wald.

Wenn wir nur an keinen Baum fahren.

Mit einem Ruck, der mich aus den Kissen emporwarf, hielt das Auto.

Der Chauffeur öffnete den Wagenschlag.

»Wir haben eine Panne bekommen. Sie müssen aussteigen.«

Der Albino und Hyacinthe stiegen aus.

Ich erhob mich von der Bahre. Nur mit einem Hemd bekleidet, stieg ich aus dem Wagen.

Der Albino und Hyacinthe waren verschwunden. Ich machte mir keine Gedanken darüber.

Finsternis ringsum.

Ich ging ein paar Schritt und ging wie auf Gelee oder auf einer aufgeblasenen Luftballonhülle.

Vielleicht ist die Erde ein Luftballon, der im Aether schwebt? Ich sah empor und sah einige Sterne. Eins – zwei – drei – ich begann sie zu zählen.

Die Sterne erinnerten mich an Automobillichter. Ich suchte die Lichter des Sanitätsautos im Dunkel.

Sie waren erloschen.

Das Auto war wie von der Erde verschluckt.

Es herrschte eine schwüle, drückende Atmosphäre.

Die feuchte Wärme benahm mir fast den Atem.

Noch war es dunkel, ich tastete mich vorwärts, aber vor mir brach schon die rosafarbene Ahnung des künftigen Tages durch ein tiefes Kobaltblau.

Ich tastete mich – mein Tastsinn sagte mir: von Baum zu Baum. Aber diese Bäume mußten Bäume besonderer Art sein:

Es mußten fließende Bäume sein, die aus einer schweren, dicken Flüssigkeit bestanden, denn meine Hände griffen immer wie in Honig.

Endlich wurde es, blitzartig schnell, Tag.

Ich schritt auf weichem, dampfendem Erdreich durch einen sonderbaren Wald.

Riesige Fächerpalmen wölbten sich über mir.

Kirchturmhohe Bäume standen da – Wellingtonien und Eukalyptus – und von den Stämmen floß unaufhörlich ein goldner Strom von Harz hernieder. Kakteen krallten sich in Himmel und Erde.

Eine adlergroße Libelle schwebte über meiner Stirn.

Ihr Kopf hatte etwas Mädchen-, etwas Madonnenhaftes, und fast schien es mir, als wäre es Marias Kopf.

Madonna immaculata!

Libellula immaculata!

Du Goldgeflügelte verweile einen Augenblick!

– Vor meinen Augen schrumpfte die Libelle zu ihrer natürlichen Größe zusammen und schwebte schillernd und irisierend.

Ihren Kopf konnte ich nicht mehr erkennen.

Mir schien es jetzt, als wäre es die Libelle, die auf dem Schleier der blonden Dame eingestickt war.

Ich trat in eine Lichtung.

Ein wildes Pferd erhob sich, als ich näher kam, aus einer Kute. Es galoppierte wiehernd davon und ich sah und hörte, daß es zwölf Hufe hatte, an jedem Fuß drei.

Affen schaukelten sich auf Lianen.

Sie bemerkten mich gar nicht, denn ich marschierte zwischen den Riesentieren und Riesenbäumen wie ein Hirsch- oder Rosenkäfer.

»Die Erde«, so dachte ich ziemlich unmotiviert, »gehört dir, du bist zwar ein Zwerg, aber du hast so etwas wie ein Gehirn, vermagst zu denken, logische Schlüsse zu ziehen, und die Riesentiere und Riesenbäume mit List und Scharfsinn zu überwinden.«

Durch die Bäume schimmerte ein weißer, schneebedeckter Berg. Er stieg wie eine Schwertlilie aus dem Sumpf. Je näher ich ihm kam, desto mehr Spuren menschlicher oder menschenähnlicher Füße schienen auf ihn zuzuführen. Plötzlich wurden, wie in einem Kino, auf der weißen Wand des Berges schwarze Buchstaben sichtbar:

Mount Everest, das Wunder von Tibet.

Himmlischer Vater, schrie ich, laß mich das Wunder erleben!

Und ich schritt und schritt fürbaß. Immer wunderlicher offenbarte sich die Landschaft. Fauna und Flora gingen ohne Abgrenzung ineinander über und man hätte nicht sagen können: dies ist ein Tier, oder: dies ist eine Pflanze. Es gab Bäume, deren Zweige waren Schlangen, und Sonnenblumen, die das Antlitz von Rochen trugen. Riesenraupen krochen des Weges, aus deren Schuppengliedern Veilchen blühten, und Fliegen flogen, die hatten statt ihrer Facettenaugen geschliffenen Diamanten. Ein Löwe wandelte auf steinernen Füßen, sein Schweif war aus Weizenhalmen.

Ich kam an Wasserfällen vorbei, an denen Mühlen standen tibetanischer Art. Nicht zum Getreidemahlen waren sie errichtet, es waren riesige Gebetsmühlen, in denen unaufhörlich das Wasser Gebete plapperte. Und Harfen hingen in den Bäumen, in denen der Wind sang.

Je höher ich stieg, desto unerträglicher gebärdete sich das Klima. Es war gleichzeitig brennend heiß und eiskalt. Ich hatte Frostbeulen an den Füßen und meine Stirn glaubte, einem Sonnenstich zu erliegen.

Herr, schrie ich, wann werde ich den Gipfel erreicht haben?

Ich sah die Fußspuren, die zum Berge führten: keine führte zurück.

Die Mühlen plapperten.

Die Winde sangen.

Aus dem Gebüsch vor mir stieg eine Nachtigall auf. Ich sah sie singend ihre dunkle Bahn im strahlenden Äther ziehn, mein Herz weitete sich und ich wußte: wer der Nachtigall Weg durch unwegsame Lüfte führt, der wird auch meinen Weg zum guten Ende leiten.

Und ich schritt und schrie und sang in die Sonne. – Aus Feuersteinen, die am Wege lagen, verfertigte ich mir, indem ich sie gegeneinander rieb oder aufeinander zerschlug, eine Keule und ein Messer.

Mit diesen Eolithen wollte ich meinen Weg schon machen.


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