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Charité

Ich erwachte von einem Ruck.

Der Wagen hielt.

»Charité!« schrie der Chauffeur.

»Ich nehme ihn links, du nimmst ihn rechts unter den Arm«, sagte die Dame.

Ich war so geschwächt, daß ich vor mich hinblickte, wie ich ein Bein vor das andere setzte. Wer geht da? Ich will gar nicht gehen. Es geht.

»Chauffeur, Sie warten noch!« sagte die weder gute noch böse Stimme.

Im Aufnahmezimmer legte ich mich auf das Ledersofa.

Ein Assistenzarzt, die englische Pfeife schief im Munde hängend, trat mißvergnügt auf mich zu.

»Da es fünf Minuten vor zwölf Uhr Mitternacht, mithin noch heute ist, müssen Sie den heutigen Tag noch mit bezahlen, verstehen Sie?«

Ich verstand und bewegte schwach den Kopf.

Alles schiebt heute. Alles will Geschäfte machen. Vermutlich steckt er das Geld für den heutigen Tag in seine Tasche. Wahrscheinlich wird er schlecht bezahlt. Charité – wie heißt doch das gleich auf deutsch? Jedenfalls scheint es eine Art Medizinalnepp zu sein. Nachtbar mit Tuberkellnern. Ethik hin, Ethik her. In diesen Spermathozonen gibts nur eine Spirochethik.

»Zahlen müssen Sie!« schrie der Assistenzarzt, und die Pfeife fiel ihm beinah vor Wut aus den falschen Zähnen.

Ein Wärter, mit dem Kopf eines Warzenschweines, der inzwischen herbeigeschlurft kam, nickte schadenfroh.

»Sie müssen zahlen, acht Tage voraus, pränumerando, dann können Sie aufgenommen werden ...«

Barmherzigkeit! Was sind das für Menschen!

Und da wußte ich auch, was Charité hieß:

Barmherzigkeit ...

Ich faßte in meine Brusttasche, um meine Brieftasche herauszuholen und die widerlichen Mahner zu beruhigen –

Die Brieftasche war fort!

Ich richtete mich erregt auf.

Ich suchte in allen Taschen.

Nichts zu finden.

Die Brieftasche blieb verschwunden.

»Aber ich habe doch meine Brieftasche im Kabarett noch gehabt.«

»Wer hat, hat«, sagte das Warzenschwein,

»und wer gehabt hat, der hat gehabt.«

»Aber –«

»Aber aber«, äffte der Assistenzarzt, »haben Sie den Herrn und die Dame gekannt, die Sie hier abgeliefert haben?«

Welchen Herrn – und welche Dame – ach – ich erinnere mich – ich sah mich um – sie waren nicht mehr da ...

»Nein, ich habe den Herrn und die Dame, die so liebenswüdig waren, mir in meinem Unglück beizustehen, nicht gekannt ... seit wann sind sie denn hier weg ... sie waren doch eben noch hier?«

»Sie sind vor ein paar Minuten gegangen ... und«, der Wärter und der Assistenzarzt brüllten vor Vergnügen, »wahrscheinlich waren sie so liebenswürdig, sich vor allem Ihrer Brieftasche anzunehmen ...«

»Was heißt das?« Ich begriff schwer in meinem Schwächezustand.

»Daß Sie vermutlich Fledderern in die Hände gefallen sind und daß man Ihnen Ihre Brieftsche ... gestohlen hat.«

»Geklaut,« sagte der Wärter mit dem Warzenkopf, »geklemmt, geganefft, stiebitzt.«

»Das ist unmöglich!«, ich entrüstete mich, so gut ich vermochte, »die Dame gehörte den ersten Kreisen der Gesellschaft an«

Der Wärter trat an das Ledersofa.

»Wenn Sie nicht zahlen können, dürfen wir Sie nicht hier behalten –«

Ich erhob mich schwach.

»Aber ich kann kaum gehen ...«

Da sah ich den Wärter dicht vor mir:

Er hatte ein Messer in der Hand und seine weiße Schürze war blutbespritzt.

»Metzger!« schrie ich und war mit einem Satz auf den Beinen.

Metzger! gaben die Wände das Echo zurück.

Ich stolperte an der Portierloge vorbei.

Die Tür schnappte hinter mir ins Schloß.

Frei! wieder frei! nicht im Gefängnis! nicht mehr das Bild dieses blutbespritzten Metzgers vor Augen, der wie Munks Vater aussah, wenn er vom Schlachten kam.

Ich lehnte meinen heißen Kopf an die kühle Mauer.

Tief atmete ich auf.

Aber dieses tiefe Atmen zerriß meine Brust.

Ein neuer Blutbach stürzte hervor und in die Knie sinkend, färbte ich mit meinem Blut den Schnee.

Nicht Schnee fiel aufs blutenden Herz –

Blut tropfte auf den weißen Schnee.


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