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Vom Sinn

Die Nacht durch las ich in einer Epistel, die mir der Teufelsbeschwörer mitgegeben. Er hatte sie in Schönschrift peinlich und akkurat geschrieben, den Titel aber in Rundschrift:

Vom Sinn.

»Der Sinn ist Vater und Mutter aller Dinge.
Er erzeugt und gebärt in eins.
Er hat weder Anfang noch Ende.
Er sinnt ewig.


Gemäß seiner Eigenschaften:
gemäß seiner Ein-heit, Ein-falt, Ein-samkeit
– seine Ein-heit wird gedacht, seine Ein-samkeit geschaut,
seine Ein-falt gefühlt von den Gläubigen – ist er nicht
gewillt, ein zweites, anderes zu wollen.
Er will nur sich selbst.
Also handelt er auch nicht.
Also tut er auch nichts.
Sondern: er sinnt ewig sich.
Er sinnt: nicht nach, nicht vor: er sinnt.

 

Die Seelen nehmen teil am Sinn.

Sie sind sinn-voll. In dem Sinne: daß ihr bestes in ihm be-›ruht‹, während ihr Bösestes noch außer ihm ›lebt‹.

Der Sinn ist, mathematisch gesprochen, einer flammenden Kugel zu vergleichen, gleichsam der Sonne.

Die Seelen sind kleineren Kugeln zu vergleichen, die von der großen Kugel ihr Licht empfangen, gleichsam den Sternen.

Wie die Sterne eines Sonnensystems einmal in der Sonne versinken werden, so müssen die Seelen, wenn sie erlöst sein wollen, einmal im Sinn ›unter‹gehn.

Seele und Sinn sind exzentrische Kugeln, die sich immer mehr konzentrischen Kugeln nähern. Zuerst schweben die Seelen, nur schwach beglänzt, außerhalb der großen flammenden Kugel.

Dies läßt sich mathematisch so darstellen: (Abb. 1)

Abbildung 1Sie nähern sich, indem sie sich be›sinnen‹, immer mehr dem großen ›Sinn‹. Sehen wir von dem, was wir unser Dasein nennen, auf die Erscheinungen, so befinden wir uns mit obiger Darstellung unserer seelischen Beziehungen zum Sinn noch in der ›Präexistenz‹. Die ›Geburt‹ tritt ein im Augenblick der Berührung der großen, unstofflich zu denkenden, gleichsam gasartigen Kugel durch eine der kleinen Kugeln.

Abbildung 2Vom Augenblick der Geburt an beginnt die Seele nach und nach sich ›ihres Sinnes‹ bewußt zu werden. Sie tritt in den Kreis des ›Sinnes‹. Am Anfang liegt ihr größter Teil als Kugelsegment noch außerhalb des ›Sinnes‹ im halben Dunkel (Abb. 2). Je mehr es der Seele gelingt, dieses Segment hinüber in die helle Kugel zu ziehen, desto mehr wird sie sich ihrer sinn-voll bewußt. Sie wird vom Sinn erleuchtet. Im Augenblick des Todes tritt die zweite Erleuchtung ein. Es beginnt die dritte Existenz, das dritte leibliche Leben (das erste leibliche Leben liegt vor der Geburt, das zweite ist dieses Dasein). Diese zweite Erleuchtung zeichnet sich mathematisch folgendermaßen ab: (Abb. 3).

Abbildung 3Die kleinen Kugeln schweben, aber noch immer als exzentrische Kugeln, innerhalb der großen Kugel. Diese dritte Existenz nimmt mit einem dritten Tod ihr Ende (die Geburt ist die erste, der sogenannte Tod der zweite Tod): wenn die kleine Kugel und die große Kugel konzentrisch werden, d. h., wenn sie denselben Mittelpunkt haben, d. h., wenn die Seele im Sinn aufgegangen ist. (Abb. 4.)

Abbildung 4Es ergibt sich aus dem Gesagten leicht, daß ›Seele‹ und ›Bewußtsein‹ nicht zu identifizieren sind. In der Präexistenz ist die Seele sich ihrer noch nicht bewußt, weshalb wir auch keinerlei Erinnern in dieses Dasein mitgenommen haben. Dennoch aber ist sie schon da. Auch in diesem Leben wird die Seele sich ihrer erst allmählich und zaghaft bewußt. Der größte Teil ihres (seelischen) Lebens spielt sich aber auch noch in diesem Leben außerhalb des Bewußt-seins, gleichsam im Oberbewußtsein, ab. Im Augenblick des Todes, da sie in den Kreis des Sinnes eintritt, wird sie sich ihrer ganzen Kraft zum erstenmal bewußt werden. Sie wird sich auf ihr Selbst be-sinnen, um endlich, wenn sie ganz ›durchsonnt‹ ist, ins Herz der Welt einzugehen: beseligt und erlöst.

Dies ist der Sinn des Sinnes:

Die Seele wird wie ein Bumerang aus dem Mittelpunkt geschleudert, um sinn-voll zu wirken, und kehrt – aber, wie der Bumerang nur, wenn sie ihr Ziel getroffen! – zum Mittelpunkt zurück.

Wirkt sie un-sinnig, so wird sie draußen im dunklen Raum um die große Kugel schweben, nur schwach beglänzt. Da aber auch die sinn-loseste Seele von ihrem Ursprung her noch einen Funken Sinn in sich trägt, so wird auch sie einmal den Kreis berühren dürfen.

 

Ziel und Umsturz der Seele sind der Sinn.

Der kleine Funken ist das Gewissen.

Das Gewissen zeigt der Seele, ob sie ihre Planetenbahn recht begeht. Allein das Gewissen bezeugt die Tatsache der Unsterblichkeit, der Ewigkeit der Seele. Nicht das Wissen, denn dies ist ans Hirn, an etwas Leibliches gebunden, wie denn der Intellekt etwas Un-wesentliches ist. Das Wesentliche ist dies: sinn-voll erleuchtet zu sein. Das aber heißt: gutgläubig, sanft, zart, rein sein: die große Liebe haben.

Es wäre sinn-los, und das wäre ein logischer Falschschluß, denn der Sinn kann nicht sinn-los, kann nicht: er-nicht-sein – (da das Ziel der Seele die Seligkeit ist: im Sinn, in Gott zu ruhn) – wenn es mit diesem schmerzenreichen Leben zu Ende wäre. Dieses Leben wäre eine Lüge, eine Blasphemie Gottes selbst, wenn es nicht sinn-voll wäre im Hinblick auf das unendliche Ziel. Wozu ist der Schöne schön, wenn er gerade schön genug, um auf der Bahre zu ruhn? Wozu ist der Gute gut, wenn er gegeißelt und gepeitscht dafür wird? Warum sollte der Böse nicht böse sein, wenn er dafür ein leichtes Leben erntet und dieses Leben ja im Nichts versinkt? Nein: das Gute ist immanent und das Schöne ist immanent. Nur das Böse wird von den um sich selbst rotierenden Kugeln abgestoßen.


Wie die Kugeln der Seele sich mit der großen Kugel vereinigen, so können sie auch untereinander sich schneiden und ineinander aufgehen. Ihr Leuchtendes, ihr Gutes zieht sich gegenseitig an, ihr Dunkles, ihr Böses stößt sich ab. Vereinigen sich zwei Seelen völlig, d. h. werden sie aus exzentrischen zu konzentrischen Kugeln: so kann dies nur bewirkt werden durch die Magie der großen Liebe. Diese Liebe kann nur eine sinn-volle Liebe sein. Denn bei Zuneigung oder Verständnis würden sich die Kugeln nur schneiden.

Die sinn-volle Liebe antizipiert den Vorgang der endlichen Vereinigung der Seele mit dem Sinn und sie ist das schönste und herrlichste Sinn-bild Gottes, des Sinnes überhaupt.«


Hier ließ ich das Blatt sinken.

Ich vermochte eine Träne nicht zu unterdrücken.

Ich dachte an Maria, an Marianne, an Hyacinthe: an die holde Trinität des Eros.


»Die Seele wird sinn-voll durch Erkenntnis.

Die Liebe beruht auf Erkenntnis.

Die höchste Liebe auf höchster Erkenntnis.

Das Gewissen ist der Gradmesser der Erkenntnis.

Die Seele will in sich (nicht außer sich) gut werden.

Der Sinn der Seele geht nach dem Sein – nicht nach der guten Tat.

Denn diese geschieht stets im Angesicht der Leute.

Also daß noch der beste Täter sich eitel spiegelt.

Keinerlei äußere Anfechtung: Mord oder Vergewaltigung: vermag der Seele auch nur das geringste anzuhaben.«

Ich hatte Maria ermordet, Marianne vergewaltigt: ihre Seelen aber waren geblieben sanft, zart, rein, gutgläubig, denn sie hatten die große Liebe. Ich aber hatte nur den großen Haß.

»Die Seele ist innen.

Sie beruht ›auf sich‹, und also ›auf dem Sinn‹. Das, was sie umgibt, ist ihr Leib. Und dieser Leib ist für sie Luft, wie die Luft die Erde umgibt. Ihr Kern ist unverwundbar. Dieser Leib ist Luft für sie. Gerade gut genug, um wie ein Vogel darin zu schweben. Da dieser früher nicht da war, so wird er später, logisch gedacht, auch nicht da sein. Was einen Anfang hat, hat ein Ende.

Aber die Seele ist unendlich und unanfänglich.

Der Dolch des Feindes stößt wie durch einen Ätherleib, ins Leere, wenn er den Weisen töten will. Des Tigers Kralle findet kein Fleisch an ihm. Je mehr wir den Sinn gewinnen (der einzige Gewinnst, der Dauer hat), um so unbewußter werden wir unseres Körpers, um so bewußter wird sich die Seele. Spinoza sagt: Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Die Seele ist das einzig Wirkliche an uns. Und ihre Werke nur und ihre Wirkung nur wird dauern.

Das Gewissen fordert unerbittlich die Vervollkommnung. Und wer seine Stimme nicht hört oder hören will, dessen Seele wird noch lange mit den dunklen Kugeln schweben.

Der Weise aber kann die erste Glückseligkeit schon hier erlangen, wenn er gewissen-haft lebt. Das Reich dieses Lebens kann nur in der höchsten Erkenntnis des Sinnes: der Liebe erreicht werden: wenn zwei Seelensterne ineinander aufflammend sich zu einem reineren Feuer emporläutern, zu einem einzigen Gestirn, das jauchzend dem ›Mittelpunkt‹ zuschießt.«


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