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Das Totenfest

Heute war das Fest der Toten. Einmal im Jahre verlassen sie das Totenreich auf dem Grund des Meeres, wo sie zwischen Korallen, Seesternen, Rochen, Austern, Aalen und Spinnen hausen. Sie steigen aufwärts wie gläserne Quallen und wenn sie an die Meeresoberfläche gekommen sind, erheben sie sich plötzlich geflügelt in die Lüfte und ziehen wie weiße Reiherschwärme nach dem Festland, wo sie aus den Wolken niederstürzen und die Gestalt annehmen, die sie trugen, als sie noch unter den Lebenden weilten. – Ich, der Grillenhändler Hen-Yo, hatte alles zum Empfang meiner liebreizenden Gattin Ise vorbereitet. Der Hausaltar war mit weißen Rosen geschmückt. Siebzehn Kerzen hatte ich davor entzündet. Denn meine Frau, meine Geliebte, meine Freundin hatte nur ein Alter von siebzehn Jahren erreicht. An der Geburt des ersten Kindes war die Zarte, Gebrechliche gestorben: sie hatte das Kind mit sich hinüber in das Totenreich genommen. Dort schlief es traumlos unter einem Kristallgestrüpp und die Mutter wachte steinern über seinen Schlaf. Die grünen Wogen zogen über sie beide dahin. – Vor dem Altar waren Näpfe mit Reis, Früchten, kleinen Kuchen aufgestellt. Denn Ise würde hungrig sein von der langen Reise durch Wasser und Wind. Der Teekessel summte. Drei Tassen waren bereitgestellt: zwei größere – sie waren noch winzig genug – und eine kleinere. Ich saß, den spitzen Kopf in die breite Hand gestützt, und wartete. Draußen am Türpfosten flatterte auf langem Papierstreifen ein Gedicht im Winde. Ich hatte es selbst gedichtet und auf das Papier getuscht: silberne Zeichen auf schwarzen Grund. Komm wieder Ise! sang das Gedicht. – Es war dunkel geworden. Die flackernde Kerze warf zitternde Schatten über den kleinen, tönernen, grünglasierten Gott, der in der Altarnische mit verschränkten Beinen saß, die Hände erhoben, daß die Handflächen wie blasse Lotosblüten nach auswärts sahen. Er machte eine strenge, abweisende, unbarmherzige Miene und schien im Halbdunkel zu grinsen. Die Bewegung seiner Hände deutete, bedeutete wohl: Laß deine törichte Hoffnung fahren, Hen-Yo! Ich, der Gott deiner Ahnen und dein Gott, der von dir wußte, ehe du warst und von dir wissen wird, wenn du nicht mehr bist, sage es dir. Ise wird nie wiederkommen. Sie wird nie wiederkommen, wie sie niemals da war. Sie ist nur ein Bild, eine Einbildung deiner Phantasie, der es an bunter Beweglichkeit nie gefehlt hat. Du hast sie geträumt. Du hast sie ersehnt. Und deine Sehnsucht hat ihr einmal schwingende Gestalt gegeben. Du bist zu schwach, sie noch einmal zu schaffen. Träume einen neuen Traum! Noch besser: schlage das Gong! werde wach! Verwese dein Wesen nicht! Du hast noch viel zu tun im Leben. Hast du zum Beispiel heute Abend schon für deine Grillen gesorgt? – Ich erhob mich. Ich trat an die Reihen zierlicher Holzkäfige, darin Hunderte von Grillen saßen. Jede Grille hatte einen Käfig, denn man durfte nicht zwei zusammensperren. Sie haßten einander und hätten sich gegenseitig auffressen. Selbst Männchen und Weibchen konnte man nicht lange zusammenlassen. Sonst fraß das Weibchen als das stärkere das Männchen auf. Ich besaß nur ein einziges Weibchen, das ich zufällig einmal mit einem Männchen im Zustand der Umarmung gefangen hatte. Im allgemeinen ließ ich die Weibchen laufen. Denn nur die männlichen Grillen sind Handelsobjekt. Nur sie zirpen. Meine Methode, Grillen zu fangen, war übrigens sehr einfach. Ich brauchte nur einen Grashalm dazu. Mit diesem fuhr ich in die Grillenlöcher, und die Grillen, die das Kitzeln mit dem Grashalm nicht vertragen können, kamen heraus und wurden leicht meine Beute. – Aus den Nachbarhäusern schollen durch die dünne Bambuswand Klagegesänge und monotone Gebete. Einige der Grillen begannen zu zirpen. Andere fielen ein. Ich fiel vor dem Altar auf die Stirne. Ich betete das große Totengebet, danach das kleine, danach sang ich die Litanei nach der Melodie der Herbstmusik. Als ich geendet hatte, sah ich vor mir im Schein der Kerzen auf einer weißen Hyazinthe eine schwarze Grille sitzen. Ich mußte aus Versehen einen Käfig offengelassen haben. Ich nahm die Grille auf meine Hand. Es war das Weibchen, aber, o Wunder, sie begann zu zirpen und als ich genauer hinhörte, hörte ich sie sprechen, fein und leise: »Ich bin Ise. Ich bin immer in meiner zweiten Gestalt bei dir gewesen. Wir Toten können zweierlei Gestalt annehmen: weilen gleichzeitig im Totenreich und im Reich der Lebenden. Doch wissen die Lebenden davon nichts. Nur einmal im Jahre geben wir uns ihnen zu erkennen, wenn sie das Fest der weißen Hyazinthe mit uns feiern. Ich bin immer bei dir gewesen. Du hast es nur nicht gewußt. Jeden Morgen und Abend hast du mir Futter gebracht: frisches Quellwasser und zarte, grüne Miere. Ich bin dein einziges Grillenweibchen und du hast meiner zärtlich acht gehabt. Heute sollst du deinen Lohn empfangen.« Ich sah, wie die schwarzen Rückenschalen der Grille sich hoben wie Torflügel eines Kerkergewölbes und aufbrachen: und aus dem Gefängnis des Tierleibes schwebte schillernd, leicht wie Wind und durchsichtig wie Glas: Ise, wie ich sie einst gesehen, da sie noch lebte. Meine Erinnerung beschrieb sie so zauberhaft, wie sie vor mir stand. Sie trug ein blaues Kimono mit Sonnenblumen bestickt und auf dem Arm hielt sie den Knaben, der zu schlafen schien. Wir hockten nieder vor dem Altar. Dreimal beugten wir vor dem glotzenden Gott die Stirn auf den Boden. Mein Herz zitterte vor Seligkeit wie eine Winde im Wind. Ich schenkte Tee ein. Ich bot Reis, Süßigkeiten, kandierte Früchte. Ich vermochte nicht zu sprechen. Meine Lippen lagen wie Steinplatten aneinander. Der Gott im Hintergrund hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Seine grünen Augen glänzten. Er meditierte. – Als wir schweigend Tee getrunken hatten, legte Ise das Kind dem Gott auf die Arme. Dann wandte sie sich mir zu, umarmte mich schwach und zog mich auf das eheliche Lager; die Matten lagen in der Ecke noch wie einst. Wortlos versanken wir in Seligkeit. In unsere Liebe klang das Zirpen der Grillen. Endlich fand ich Worte: »Bleib bei mir, Ise! Geh' nicht wieder von mir! Ich ertrüge es nicht!« Ise schüttelte den Kopf, die hohe blonde Frisur, in der lange gelbe Schildpattkämme steckten, neigte sich: »Ich kann nicht bei dir bleiben, Hen-Yo, als Wesen deiner Art. Als Grille wohl, oder als Stern oder Wolke. Bleibe du bei mir, Hen-Yo. Geh' mit mir über die Regenbogenbrücke. Finde den Weg, der uns auf ewig vereint.« Ich sprach: »Ist es nicht das gleiche, ob du bei mir bleibst oder ich bei dir?« Ise sah mich groß an. Ihre Augen hatten jetzt Farbe und grünlichen Glanz des göttlichen Auges. Sie schwieg. Die Kerzen brannten herunter. Die Mitternacht, die Stunde des Abschiedes der Toten, rückte näher. Ise sprach: »Hast du alles für meine Heimfahrt gerüstet, wie es Sitte ist seit altersher?« Da seufzte ich tief auf, Tränen im Auge: »Ich habe getan nach dem Gebot der Götter und Ahnen.« Und ich schob die Schiebetür auf, die nach dem Garten ging. Der Garten grenzte an den Fluß. In einer Laube lag auf einem Mahagonitisch ein weißes Papierschiffchen, mit einer dünnen Kerze als Mast. Schon war der Fluß besät und besternt mit solchen Schiffen, auf denen die Seelen der Toten wieder heimwärts, stromabwärts fahren in das große Meer. Tausende und aber Tausende glitten in der stillen Strömung. Die Kerzen blinkten. Die Klagegesänge am Ufer schollen ihnen nach. Da sprach Ise: »Du hast ein Boot am Steg liegen, mit dem du zuweilen zum Fischfang fährst. Fahre du selbst mich wieder zu den Toten und bleibe bei mir! Nimm mich mit in dein Boot!« Da ließ ich das Papierschiffchen ohne Kerze im Fluß dahintreiben, wo es an ein anderes stieß, Feuer fing und versank. Ich löste die Kette, Ise, das Kind auf dem Arm, sprang in das Boot und setzte sich in den Bug. Ich band die heilige Kerze an den Mast, entzündete sie und ergriff das Steuer. Und leise glitt der Kahn abwärts, dem Meere zu.


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